Zur Beurteilung der Situation
12. März 1954
Informationsdienst Nr. 2152 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Betriebliche Fragen stehen weiterhin im Mittelpunkt der Diskussionen. Von einem größeren Teil der Werktätigen wird jedoch über die beabsichtigte Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland diskutiert.1 Die Mehrzahl dieser Diskussionen sind positiv. Sie werden besonders von Arbeitern und Jugendlichen geführt. Sie sprechen sich gegen die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland aus, da sie erkennen, dass dies die Gefahr eines neuen Krieges verstärkt. Sie wollen jedoch »in Frieden ihrer Arbeit nachgehen und nicht ihr Blut auf den Schlachtfeldern vergießen«. So nimmt ein großer Teil der Belegschaften nachfolgender Betriebe gegen die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland Stellung: VEB Kirow-Werk Leipzig, VEB »Heinrich Rau« Wildau, [Bezirk] Potsdam, Werkbahnbetrieb des Mansfeld Kombinates »Wilhelm Pieck«, [Bezirk] Halle, VEB Plasta Sonneberg III, [Bezirk] Suhl, Funkwerk Dabendorf, [Bezirk] Potsdam, und die Schüler der Betriebsparteischule vom Fortschrittschacht Eisleben,2 [Bezirk] Halle.
Ein Arbeiter (parteilos) vom Kirow-Werk Leipzig: »Wenn erst alle Preise wieder normal sind und das wird bald sein, dann werden wir unseren Erfolg der nicht leichten Arbeit seit 1945 erkennen. Unser größter Wunsch ist jedoch, dass niemals wieder ein Krieg und die Verhältnisse eintreten wie von 1933 bis 1945, deshalb müssen wir die Wehrpflicht in Westdeutschland verurteilen.«
Ein Teil der Werktätigen äußert, dass jetzt die Regierung der DDR auch Gegenmaßnahmen ergreifen wird. Während ein Teil Maßnahmen zum Schutze der DDR von der Regierung erwartet, sehen andere einen Krieg kommen und verlieren die Lust zur Arbeit, »da ja doch dann alles, was sie geschaffen haben, umsonst ist«. Ein Teil der Arbeiter im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« spricht davon, dass jetzt die Regierung der DDR auch bald das Wehrgesetz einführen wird.
Ein Anschläger vom Wismut-Schacht 249 Objekt 6 Auerbach,3 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wir leben hier sehr gut, deshalb können wir der Ratifizierung des Wehrgesetzes nicht untätig zusehen. Unsere Regierung muss unbedingt Maßnahmen treffen zum Schutze unseres Volkseigentums.«
Ein Brigadier vom Schiffbau der Elbewerft Boizenburg, [Bezirk] Schwerin: »Die Kollegen wissen nicht, ob sie ihre Arbeit weiterhin verrichten sollen, wie sie es bisher getan haben. In Westdeutschland wird die Wehrpflicht eingeführt und das würde bedeuten, dass das Gleiche auch bei uns geschieht, und somit wäre ein neuer Krieg nicht zu verhindern und jeder Arbeiter würde das, was er sich geschafft hat, wieder verlieren.«
Ein Teil, besonders Angestellte und Intelligenz, verhält sich abwartend. Verschiedentlich kommt dabei eine Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit zu politischen Problemen zum Ausdruck. Teilweise erkennt man auch noch nicht die große Gefahr, die durch die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland entsteht. Ein Arbeiter vom Kalk- und Zementwerk Rüdersdorf, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Wir können sowieso nichts dagegen tun, wenn Adenauer4 ein Wehrgesetz aufstellt. Wir sind sowieso immer die Dummen und die Großen machen Geschichte. Am besten ist es, man kümmert sich um überhaupt nichts mehr.«
Eine Interesselosigkeit am politischen und gesellschaftlichen Leben zeigt sich besonders im Betrieb Hescho Hersmdorf, [Kreis] Gera, wo bei einer Mitgliederversammlung der Betriebsparteiorganisation von 100 Genossen nur 18 erschienen. Bei einer Belegschaftsversammlung waren von 300 Belegschaftsmitgliedern nur 40 anwesend.
Eine Arbeiterin der Warnow-Werft Warnemünde: »Es schadet den jungen Bengels gar nichts, wenn sie zum Militär kommen, dann werden sie wenigstens Männer und keine Waschlappen.«
Ein kleinerer Teil der Werktätigen äußert sich in negativer und feindlicher Form. Im Inhalt ihrer Diskussionen spiegelt sich meist die westliche Propaganda wider. Die Argumente sind sehr unterschiedlich. Im Allgemeinen hetzt man gegen die SU und DDR. Des Weiteren ist der Inhalt dieser Stimmen: »EVG dient zum Schutze des Westens vor dem Osten«,5 Vergleiche der Wehrpflicht in Westdeutschland mit der KVP in der DDR,6 pazifistische Einstellung u. Ä.
Ein Jugendlicher vom VEB Germania (Maschinenfabrik) Karl-Marx-Stadt: »Molotow7 kann genauso gut ein Kriegsverbrecher sein wie die westlichen Außenminister.8 Wenn ich eingezogen werde, würde ich mein Gewehr umdrehen. Ihr könnt mir nur helfen, wenn Ihr mich aus der FDJ austreten lasst« (war ehemaliger FDJ-Sekretär).
Ein Arbeiter vom VEG Stärkefabrik Kyritz, Bezirk] Potsdam: »Wie sieht es denn bei uns aus, die VP-Werbung wird verstärkt durchgeführt9 und Kampfgruppen werden gebildet,10 das ist das Gleiche wie das Wehrgesetz in Westdeutschland.«
Ein Zugführer der Reichsbahn: »Ich war Nazi und bleibe Nazi. Der Kriegsvertrag in Westdeutschland ist gut. Ich freue mich, dass die Jugendlichen ab 18 Jahren wieder zu Menschen erzogen werden.« (Sw)
Ein Arbeiter (parteilos) vom VEB Waggonbau Görlitz, [Bezirk] Dresden: »Die Westmächte müssen sich gegen jeden Angriff schützen und bilden einen sogenannten Westgürtel, genau wie die SU mit den Volksdemokratien. Man hat es ja in Korea gesehen, die Nordkoreaner haben mithilfe der SU den Angriff auf Südkorea begonnen.«
Ein Jugendlicher vom RAW Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Ich nehme kein Gewehr mehr in die Hand. Dies sagen auch die Arbeiter bei uns. Aus dem Krieg sind wir gesund herausgekommen und jetzt sollen wir wieder ein Gewehr anfassen. Mir ist es gleich, was für eine Regierung ich habe. Hauptsache ist, man hat eine rechtmäßige Regierung, nicht so eine wie wir.«
Ein Arbeiter vom Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« – Werkverkehr: »Je eher der ganze Mist zu Ende ist, desto schneller wird es uns gut gehen. Die ganze VP ist so ein Haufen, der von unserem Gelde frisst.«
Ein Arbeiter (SED) von der Konsumbäckerei Neugersdorf, [Bezirk] Dresden: »Ich habe meinem Sohn geschrieben, dass er den Gestellungsbefehl zerreißen und in die DDR kommen soll. Aber auch hier darf er nicht zur VP gehen. Ich werbe nie einen Volkspolizisten.«
Zu Ehren des IV. Parteitages der SED11 werden von einem Teil der Arbeiter Kollektiv- und Einzelverpflichtungen übernommen. Man erwartet vom Parteitag Vorschläge zur Verbesserung des wirtschaftlichen Lebens und hofft auf eine Preissenkung. Die Belegschaftsmitglieder der Fabriken V und VI des Braunkohlenwerkes »Friedenswacht« in Lauchhammer haben sich verpflichtet, bis zum IV. Parteitag ihr Quartalssoll mit 103 Prozent zu erfüllen. 23 Kollegen vom VEB Vopau in Treuen,12 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, verpflichteten sich, bis Ende des 1. Quartals 3 700 m Webstoffe mehr zu produzieren. 23 Arbeiter der Abteilung Werkzeugfertigung des VEB Hartmetallwerk in Immelborn, [Bezirk] Suhl, verpflichteten sich, eine drei-stündige Sonderschicht zu Ehren des IV. Parteitages durchzuführen und den Erlös der FDJ zum 2. Deutschlandtreffen zur Verfügung zu stellen.13
Produktionsschwierigkeiten wurden aus einzelnen Betrieben gemeldet. Ursachen sind: Materialmangel, Waggon- und Auftragsmangel, Absatzschwierigkeiten sowie Planungsfehler. Dies wirkt sich zum Teil auf den Verdienst der Arbeiter aus, was wiederum die Stimmung negativ beeinflusst.
Materialmangel besteht im IFA-Werk Audi Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt (100 Fahrzeuge stehen seit Februar 1954 im Freien. Es fehlen dazu noch die Gelenkwellen), im VEB Stern-Radio Sonneberg, [Bezirk] Suhl (von 7 500 Holzgehäusen wurden bisher 665 geliefert), im VEB Polydor in Pulsnitz, [Bezirk] Dresden und im VEB Optik Liebenwerda (Bad Liebenwerda).
Waggonmangel besteht im Zementwerk Karsdorf, [Bezirk] Halle. Die Zementmühlen mussten die Arbeit einstellen, da die Silos überfüllt sind. Dadurch sind wichtige Exportaufträge gefährdet.14
Auftragsmangel besteht im VEB KEMA Dresden15 sowie im VEB Streichgarnspinnerei Rodewisch, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt.
Absatzschwierigkeiten bestehen bei der Schokoladenfabrik Naumburg, [Bezirk] Halle. Hier mussten bereits 20 Arbeiter entlassen werden.
Durch Planungsfehler werden im LEW Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam, im März und April Produktionsschwierigkeiten entstehen. Die Isolierstofffabrik hat nicht genügend Glimmer aus der SU und Indien erhalten und der Lackfabrik fehlt Leinöl aus England, Holzöl und Schellack aus China.16
Unzufriedenheit bei Arbeitern einzelner Betriebe besteht über Lohn-, Normen- und Prämienfragen.
In Lohnfragen: Im Kraftwerk »Ernst Thälmann« in Leipzig sind die Angehörigen der Betriebsfeuerwehr unzufrieden, da ihr Lohn nur 322 DM beträgt, während für die gleiche Arbeit im VEB Leipziger Eisen- und Stahlwerke 400 [DM] gezahlt werden.
In Normenfragen: Im Hauptlager der Konsumgenossenschaften Verband Pirna, [Bezirk] Dresden, brachte die Einführung einer neuen Norm eine Lohnsenkung mit sich. Zwei Kollegen haben bereits gekündigt.
In den volkseigenen Baubetrieben des Kreises Belzig und Potsdam kündigen laufend Bauarbeiter. Sie begründen es damit, dass in Privatbetrieben die Löhne höher, die Materialversorgung besser und die Normen nicht so hoch seien.
In einer Gaststätte in Berlin äußerten mehrere Maurer: »Unsere Grundlöhne sollen gesenkt und die Normen erhöht werden, das gibt noch eine Revolte. Viele werden zum Frühjahr kündigen und sich andere Arbeit suchen. Das ist ein guter Weg, um das System zu untergraben. Sie sollen sehen, wie sie mit ihren Bauplänen fertig werden. Vor allem ist dieser Weg ungefährlich, da man niemanden einsperren kann, wenn er seine Stellung auf dem Bau aufgibt.«
In Prämienfragen: In den Rathenower Optischen Werken, [Bezirk] Potsdam, wird immer noch negativ über die Verteilung der Jahresprämie 1953 diskutiert. Ein Teil der Intelligenz ist darüber verärgert, dass die Leiterin der Reinemachefrauen 300 DM Prämie erhält, während ein Konstrukteur nur 100 DM erhielt. Zwei Konstrukteure gaben ihre Prämien zurück.
Reparaturverzögerung eines Turbogenerators: Am 9.11.1951 hat das Karl-Marx-Werk Zwickau17 zum VEB Bergmann-Borsig Berlin einen Turbogenerator zur Reparatur gebracht. Die Reparatur wurde bisher immer hinausgeschoben, sodass dieser noch nicht fertiggestellt ist.
Erkrankungen: Am 10.3.1954 erkrankten 57 Kollegen des VEB Riosana (Miederwarenfabrik),18 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, an Durchfällen. Die Ursachen sind vermutlich durch das Mittagessen hervorgerufen worden. Untersuchungen werden noch geführt.
Handel und Versorgung
Eine mangelhafte Warenstreuung, besonders in ländlichen Kreisen, macht sich immer wieder bemerkbar. Unzufriedenheit wird unter anderem immer wieder über das nur geringe Angebot von Bettwäsche, Hand-, Geschirr- und Taschentüchern usw. aus den Bezirken berichtet.
130,4 t schokoladenhaltige Erzeugnisse aus dem 4. Quartal 1953 lagern beim staatlichen und genossenschaftlichen Handel im Bezirk Suhl. Der Absatz ist sehr gering und es besteht die Gefahr des Verderbens. Trotz dieser Bestände von 1953 mussten aufgrund der Warenbereitstellungspläne für das 1. Quartal 1954 neue Abschlüsse getätigt werden. Ähnlich ist die Situation bei Süßwaren.
Am 18.2.1954 wurden vom Kontor Import und Lagerung Schwerin 637 kg Schmalz an den VEB Schlachthof in Bützow, [Bezirk] Schwerin, geliefert. Dieses Schmalz war nicht einwandfrei und wurde am 25.2.1954 wieder abgeholt. 751 kg wurden neu geliefert. Auch dieses war nicht einwandfrei und wurde am 9.3.1954 wieder abgeholt. 438 kg wurden neu geliefert. Die Untersuchungen ergaben, dass auch dieses nicht einwandfrei ist. Um die Bevölkerung mit Schlachtfetten zu beliefern, musste aus den vorhandenen Reserven ein Teil entnommen werden.
Landwirtschaft
Das Interesse für politische Probleme ist innerhalb der Landbevölkerung gering. Zur Wehrdebatte wird nur wenig diskutiert. Die meisten Stimmen sind positiv und richten sich gegen die Einführung der Wehrpflicht. Negative Stimmen sind nur ganz vereinzelt bekannt geworden. Sie stammen meist von Großbauern.
Ein Mittelbauer aus Schorbus, [Kreis] Cottbus: »Über die Einführung des Wehrgesetzes braucht man sich nicht zu wundern. In Westdeutschland würden nicht mehr unter Waffen stehen als bei uns. Die VP ist doch viel stärker als drüben.«
Eine Großbäuerin aus Breiteiche, [Bezirk] Magdeburg: »Wenn bei uns auch das Wehrgesetz in Kraft tritt, schicke ich meinen Sohn lieber nach Westdeutschland, denn es ist besser, wenn er drüben kämpft.«
Zu Ehren des IV. Parteitages der SED haben weitere LPG und Genossenschaftsbauern Verpflichtungen übernommen. Mehrere Genossenschaftsbauern der LPG Brenz, [Bezirk] Schwerin, verpflichteten sich, ihr Soll in Milch, Schweinefleisch und Getreide vorfristig zu erfüllen. Eine Genossenschaftsbäuerin von der LPG Balow, [Bezirk] Schwerin, will ihr Schweinefleischsoll bis zum IV. Parteitag 100-prozentig erfüllen. Die LPG Tarnow, [Bezirk] Schwerin, wird die Frühjahrsbestellung zwölf Tage vorfristig beenden. Die LPG »Rosa Luxemburg« in Blauenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, will 2 000 l Milch über das Soll hinaus abliefern.
Die meisten Diskussionen der Landbevölkerung werden über wirtschaftliche Fragen, besonders über die Frühjahrsbestellung und die auftretenden Saatgutmängel, geführt. Mangel an Saatkartoffeln herrscht in den Kreisen Angermünde, Bad Freienwalde, Eberswalde und Beeskow, [Bezirk] Frankfurt/Oder, worüber die Bauern missgestimmt sind.
In der LPG »Rosa Luxemburg« in Gülpe, [Bezirk] Potsdam, fehlen 100 dz Pflanzkartoffeln. In den örtlichen Betrieben19 von Spaatz, Wolsier und Gülpe, [Bezirk] Potsdam, fehlen Saatkartoffeln für ca. 100 Morgen Land.
In fast allen Kreisen des Bezirkes Leipzig bestehen große Schwierigkeiten bei der Saatkartoffelbeschaffung.
Im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl, beklagen sich die Einzelbauern darüber, dass nicht genügend Saatkartoffeln, Saatweizen, Saatroggen und Kleesamen vorhanden sind.
Infolge der Mängel in der Frühjahrsbestellung nehmen Diskussionen von werktätigen Einzelbauern und Großbauern über die Einführung der »freien Wirtschaft« in geringem Umfang zu. Ein werktätiger Bauer aus Kartlow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Es ist alles Dreck, wir müssen unbedingt die freie Wirtschaft haben, dann werden wir auch vorwärtskommen.«
Vereinzelt verlangen Einzelbauern in Versammlungen, dass das Ablieferungssoll herabgesetzt wird. Während einer Bauernversammlung in Limbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, verlangten Mittelbauern in der Diskussion, dass das unterschiedliche Soll abgeschafft und ein einheitliches Soll eingeführt wird. In einer Bauernversammlung in Gorsleben, [Bezirk] Halle, erklärte ein Bauer, dass alle Bauern zu hoch veranlagt seien. Dadurch wären sie gezwungen, nach dem Westen zu gehen.
Die Traktoristen der MTS Großkochberg, [Bezirk] Gera, sind darüber unzufrieden, dass keine Überstunden mehr gemacht werden dürfen bzw. nicht bezahlt werden. Ein Traktorist äußerte: »Ich verdiene so wenig, dass ich abends noch zum Großbauern arbeiten gehen muss.«
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen nach wie vor persönliche Belange. Über politische Tagesfragen wird wenig diskutiert. Die gering vorliegenden Stimmen über das Wehrgesetz, meist von Hausfrauen, sind überwiegend positiv. Eine Hausfrau aus Rostock: »Ich lehne das Wehrgesetz in Westdeutschland ab, denn daraus entsteht ein neuer Krieg. Hitler begann genauso und was daraus geworden ist, wissen wir alle.«
Ein Teil der positiven Stimmen erwartet Gegenmaßnahmen unserer Regierung. Ein Arbeiter aus Saßnitz, [Bezirk] Rostock: »Jetzt haben sie drüben das Wehrgesetz durchgebracht. Wir aber wollen keinen Krieg. Es macht sich aber erforderlich, dass unsere Regierung Gegenmaßnahmen trifft.«
Negative bzw. feindliche Stimmen sind nur vereinzelt bekannt. Ihre Argumentation richtet sich gegen die Politik der SU und gegen unsere Regierung. Nachfolgend einige Beispiele:
Im Bezirk Erfurt erhofft ein Teil der Umsiedler durch das Wehrgesetz die Rückkehr in ihre Heimat.
Aus den Bezirken Magdeburg und Karl-Marx-Stadt wird von einzelnen negativen Äußerungen aus Kreisen der CDU und LDP berichtet. In einer CDU-Versammlung in Schwiersam,20 [Bezirk] Magdeburg, äußerte der Vorsitzende: »Wir müssen uns noch enger zusammenschließen. Leider haben wir in der DDR nichts zu melden und müssen alles mitmachen.«
Ein CDU-Mitglied aus dem Kreis Hainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erklärte: »Ich leiste erst dann wieder eine aktive Parteiarbeit, wenn in der DDR freie Wahlen durchgeführt werden.«
In einer LDP-Versammlung in Magdeburg äußerte ein Mitglied: »Man sollte über die von den Russen geklauten Gebiete eine Volksabstimmung herbeiführen, denn wir würden wirtschaftlich ganz anders dastehen, wenn wir die Gebiete zurückerhielten.«
In Meuselwitz, [Kreis] Altenburg, [Bezirk] Leipzig, brachte ein Angestellter seine feindliche Einstellung gegenüber unserer Partei zum Ausdruck, indem er äußerte: »Bald hat die SED nichts mehr zu sagen, da bestimmen wir selbst.« Die gleiche Person äußerte am 17.6.1953: »Jetzt werden Köpfe rollen und Blut fließen.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriften der NTS:21 Frankfurt/Oder (3 040), Potsdam (10 000), Cottbus (200), Magdeburg (200). Inhalt: Hetze gegen die SU, Aufforderung zum Desertieren.
Hetzschriften der KgU:22 Suhl (10 000). Inhalt: Namen und Adressen Angehöriger des SfS Potsdam.
Hetzschriften des Ostbüros der SPD:23 Potsdam (5 000), Frankfurt/Oder (1 400), Gera (1 000), Magdeburg (240). Inhalt: Hetze gegen Walter Ulbricht24 und gegen die Regierung der DDR. Meist sind es Hetzschriften des »Sozialdemokrat«25 Januar- und Februar-Ausgabe.
15 000 Hetzschriften »wir fordern Freiheit«, unterzeichnet »Aktionsgemeinschaft der FDJ«,26 wurden in Potsdam sichergestellt. Inhalt: Aufforderung, am 1. Mai mit antidemokratischen Forderungen zu demonstrieren. 13 000 gefälschte VP-Zeitschriften wurden im Bezirk Schwerin sichergestellt.
Eingeschleust wurden diese Hetzschriften zum größten Teil durch Ballons oder Flugzeuge. Zum überwiegenden Teil wurden diese noch gebündelt oder durch Suchkommandos sichergestellt.
Antidemokratische Schmierereien und Handlungen: In der Nacht vom 10. zum 11.3.1954 wurden in der Kantine des Kunstseidenwerkes Premnitz, [Bezirk] Potsdam, mehrere Losungen, Büsten und Bilder, welche anlässlich der Parteiaktivtagung des Werkes angebracht waren, abgerissen bzw. beschädigt.
An der Wandzeitung der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in der DHZ Maschinen- und Fahrzeugbau Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde folgender Hetzzettel angebracht: »Nachklang zum Frauentag – wenn Ihr uns Zucker, Mandeln, Rosinen und Marzipan in den Hintern blast, Kommunistinnen macht Ihr aus uns nicht.«
Westberlin
Aus den Wechselstuben Westberlins wird bekannt, dass nur noch sehr wenige DM-Beträge zu erhalten sind. Von einem Wechselstubenbesitzer aus Reinickendorf wird dies damit begründet, dass nach der Preissteigerung im Westsektor27 nur noch ca. 20 Prozent der früheren Kunden aus dem demokratischen Sektor Ost gegen West eintauschen.
Weiterhin wird berichtet, dass in Berlin-Steglitz Lebensmittelschieber aus der DDR und dem demokratischen Sektor Berlins einen 2. Wochenmarkt aufmachen. Angeboten werden Eier, Schweinefleisch, Eisbeine, Wellfleisch und dergl. Von diesen Schiebern werden auch Bestellungen entgegengenommen.
Aus der Stummpolizei28 wurde bekannt, dass in allen Revieren Dienstbesprechungen zur Vorbereitung der zu erwartenden Unruhen aufgrund der Brotpreiserhöhung und Annahme des Wehrgesetzes durchgeführt werden. Ein Offizier erklärte, dass schon jetzt auf »Ruhestörer« zu achten sei, damit alle Aktionen im Keine erstickt werden.
Einschätzung der Situation
Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht wesentlich verändert.