Zur Beurteilung der Situation
15. März 1954
Informationsdienst Nr. 2154 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Betriebliche Fragen stehen weiterhin im Mittelpunkt der Diskussion. Ein größerer Teil der Werktätigen diskutiert über die beabsichtigte Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland.1 Die Mehrzahl, besonders Arbeiter und Jugendliche, nimmt gegen das Wehrgesetz Stellung. Sie erkennen, dass Westdeutschland mit allen Mitteln versucht, einen neuen Krieg herbeizuführen und dass dies dann eine Gefahr für ihr Leben bedeutet. Der größte Teil der Belegschaft des VEB Herko in Sonneberg, [Bezirk] Suhl, lehnt das Wehrgesetz ab. Man will mit Jugendlichen in Westdeutschland in briefliche Verbindung treten, um sie vom verbrecherischen Treiben Adenauers2 aufzuklären.
Während ein Teil der Werktätigen äußert, dass von der Regierung der DDR nun auch bald die Wehrpflicht eingeführt wird, fordert ein anderer Teil verstärkte Maßnahmen zum Schutze unserer Republik. Einige Kollegen des Reichsbahnausbesserungswerkes Meiningen äußern, dass noch vor dem IV. Parteitag3 bei uns in der DDR die Wehrpflicht eingeführt wird. Dann haben wir die gleichen Verhältnisse wie in Westdeutschland.
Ein Teil, besonders Angestellte und Intelligenz, verhält sich abwartend und gleichgültig zu politischen Problemen. Verschiedene Kumpels der Bleierzgruben in Freiberg bringen zum Ausdruck, dass es die Hauptsache ist, dass bei der Auszahlung das Geld stimmt. Über die anderen Dinge sollen sich andere die Köpfe zerbrechen.
Ein kleinerer Teil der Werktätigen diskutiert in negativer bzw. feindlicher Form, wobei der westliche Einfluss auf diese Menschen besonders zum Ausdruck kommt. Inhalt ist meist Hetze gegen die Sowjetunion und DDR, Vergleiche mit Wehrpflicht Westdeutschlands und KVP4 und ähnliche.
Ein Angehöriger des Betriebsschutzes für Sprengstoffe der Grube »Kraja«, Kreis Heiligenstadt,5 [Bezirk] Erfurt: »Die Russen sollen endlich machen, dass sie von hier verschwinden. Die schleppen uns doch alles fort. Die Regierung der Ostzone hat doch nichts zu sagen, alles bestimmen die Russen. Molotow6 will ein freies Deutschland aber keine freien Wahlen.7 Für uns ist nur der EVG-Vertrag das Richtige.«8
Ein Arbeiter vom Buna-Werk, [Bezirk] Halle: »In Westdeutschland hat man das Wehrgesetz eingeführt, während hier in der DDR dasselbe auf eine andere Art und Weise getan wird.«
Ein Arbeiter der Abteilung Werkzeugbau des VEB Aue,9 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich kann nicht begreifen, warum man bei uns gerade über das Wehrgesetz schimpft. Auf der anderen Seite kommen laufend Offiziere der KVP in die Betriebe, um für die KVP zu werben.«10
Einige Lehrlinge vom VEB Drehmaschinenwerk Zeulenroda, [Bezirk] Gera, gaben keine Unterschrift bei einer Unterschriftensammlung gegen das Bonner Wehrgesetz.11 Sie begründeten das damit, dass die drüben doch machen, was sie wollen und dies hätte man ja beim Fall Rosenberg gesehen.12
Zu Ehren des IV. Parteitages der SED werden von einem Teil der Arbeiter Kollektiv- und Einzelverpflichtungen übernommen. Ein großer Teil der Werktätigen erwartet vom IV. Parteitag Vorschläge zur Verbesserung des wirtschaftlichen Lebens. Besonders hofft man auf eine Preissenkung und den Wegfall der Lebensmittelkarten:
Die Kollegen des VEB Maschinenbau Neubrandenburg verpflichteten sich, zu Ehren des IV. Parteitages zusätzlich 20 Einscharpflüge für die Landwirtschaft bis 30.3.[1954] herzustellen.
In der Brikettfabrik Neumark, [Bezirk] Halle, wurde eine Höchstleistungsschicht mit 103 Prozent Gesamterfüllung gefahren.
Im Leichtmetallwerk Rackwitz, [Bezirk] Leipzig, verpflichtete sich das Handputzerkollektiv der Brigade Kegel, die Norm beim Verputzen von Lüfterinnenteilen von 50 auf 65 Stück zu erhöhen.
Produktionsschwierigkeiten wurden aus einigen Betrieben gemeldet. Ursachen sind Material-, Kohlen- und Auftragsmangel. Diese Störungen führen zum Teil zu Verdienstausfall bei den Arbeitern, welche wiederum die Stimmung negativ beeinflusst.
Materialmangel besteht im VEB Kompressorenwerk Gera (dadurch kann der März-Plan nicht erfüllt werden), im VEB Möbelleisten- und Rahmenfabrik Guben,13 [Bezirk] Cottbus, und im Bahnbetriebswerk Berlin-Schöneweide.
Kohlenstaubmangel besteht im VEB Kaliwerk Bleicherode, [Bezirk] Erfurt. Die Öfen I, II und III der Trockenstation mussten am 11.3.1954 stillgelegt werden. Dadurch ist der Plan gefährdet und die Arbeiter haben erheblichen Lohnausfall.
Auftragsmangel besteht im VEB Stahlbau Niesky, [Bezirk] Dresden. 15 Arbeiter mussten bereits entlassen werden. Die Stimmung ist schlecht.
Unzufriedenheit in Lohnfragen: Im Thomas-Müntzer-Schacht in Sangerhausen,14 [Bezirk] Halle, besteht Unzufriedenheit unter den Kollegen im Maschinenbetrieb, in der Werkstatt und Zimmerei, da im Betriebskollektivvertrag 1954 ihre Vorschläge in Lohn- und Urlaubsfragen nicht berücksichtigt wurden. Bei der Diskussion des Betriebskollektivvertrages in der Likörfabrik Starheimer in Neustadt, [Bezirk] Potsdam, wurde in der Abteilung Abfüllung heftig über die Lohnregelung diskutiert, da keine Unterschiede in der Bezahlung gemacht seien.
Im VEB Kraftverkehr Kyritz, [Bezirk] Potsdam, sind die Kraftfahrer gegen die Einführung des Zweischichten-Systems, da sie dadurch einen finanziellen Verlust von circa 200 DM monatlich haben würden. Einige Kraftfahrer in der VEAB Kyritz äußerten dazu, dass sie die Arbeit niederlegen wollen, wenn diese Neuregelung eingeführt wird.
Ferienplätze des FDGB: Unstimmigkeiten über die »zu geringe Zuteilung« von Ferienplätzen besteht unter den Arbeitern des VEB »Ernst Thälmann«,15 des »Karl-Liebknecht«-Werkes16 und des Karl-Marx-Werkes17 in Magdeburg sowie im Gaswerk Berlin-Lichtenberg. Im Karl-Marx-Werk Magdeburg wurde die Zahl der Ferienplätze um 200 gegenüber dem Vorjahr gekürzt. Die Nachfrage ist jedoch größer. Das Gaswerk Lichtenberg erhielt für 400 Beschäftigte 56 Plätze zugeteilt.
Produktionsstörungen: Im Sodawerk Karl-Marx in Bernburg, [Bezirk] Halle, fiel eine Turbine aus. Sämtliche Turbinen mussten abgeschaltet werden. Produktionsausfall 130 t Soda und 18 200 DM Schaden.
Handel und Versorgung
Immer wieder wird aus den Bezirken über mangelhafte Warenstreuung, besonders in ländlichen Kreisen berichtet. Es fehlt besonders an Industriewaren, Textilien sowie Damen- und Herren-Konfektion. Unter anderem ist zurzeit Bohnenkaffee stark gefragt. Teilweise werden dadurch rege Diskussionen ausgelöst. So wird zum Beispiel aus Cottbus berichtet, dass in den Lebensmittelgeschäften folgende Diskussionen geführt werden: »Warum gibt es keinen Bohnenkaffee? Ist das der neue Kurs?18 Die Außenministerkonferenz ist wohl vorbei?«19 und dergleichen.
Landwirtschaft
Unter der Landbevölkerung wird sehr wenig über politische Probleme diskutiert. Über die Wehrgesetzdebatte sind vereinzelt von fortschrittlichen Kräften Stimmen bekannt, die sich meist gegen die Einführung eines Wehrgesetzes in Westdeutschland richten, da kein neuer Krieg kommen soll.
In negativen Diskussionen wird die KVP mit den Bonner Söldnertruppen gleichgesetzt. Eine Genossenschaftsbäuerin aus Sanitz, [Kreis] Rostock: »Auch bei uns sieht man in diesen Tagen Militärflugzeuge und Kanonen aller Art von der KVP zur Grenze fahren. Ist das kein Militarismus?«
Zu Ehren des bevorstehenden IV. Parteitages wurden vereinzelt von LPG- und werktätigen Einzelbauern Verpflichtungen übernommen. Eine LPG-Bäuerin von der LPG Karl-Marx in Hundshübel, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, verpflichtete sich, ein Schlachtschwein, ein Kalb und 200 Liter Milch für den freien Verkauf zu liefern. Aus der Gemeinde Neuholland, [Bezirk] Potsdam, haben zehn Neubauern Selbstverpflichtungen übernommen, ihr Soll an tierischen und pflanzlichen Produkten überzuerfüllen.
Über wirtschaftliche Probleme wird in der Landbevölkerung am meisten gesprochen. Dabei stehen die Frühjahrsbestellung und die Mängel in der Saatgut- und Futtermittelbeschaffung im Mittelpunkt der Diskussion. Diese Mängel bringen Beunruhigung und Missstimmung unter der Landbevölkerung hervor.
Saatkartoffeln fehlen in den Gemeinden Paretz und Lentzke, [Bezirk] Potsdam, in der LPG Allstedt (120 Ztr.)20 sowie im örtlichen Landwirtschaftsbetrieb21 Sangerhausen (240 Ztr.), [Bezirk] Halle.
In der Volkseigenen Mastanstalt Falkensee, [Bezirk] Potsdam, sind für circa 5 000 Schweine keine Futtermittel vorhanden. Im VEG Lichtentanne, [Bezirk] Gera, herrscht großer Futtermangel für 100 Schafe.
In der Siedlergemeinschaft Streckenthin, [Bezirk] Potsdam, sind die Siedler darüber missgestimmt, dass sie die Bodenkaufpreisraten abzahlen sollen. Zum Teil sind mehrere Siedler ihren Verpflichtungen einige Jahre nicht mehr nachgekommen. Sie erklärten deshalb, dass sie ihr Land an den Rat des Kreises abgeben werden, wenn man sie zur Zahlung zwingt.
Über die Wühltätigkeit der Großbauern wird Folgendes bekannt: Ein Großbauer aus Nieder Seifersdorf, [Bezirk] Dresden, stellt Klein- und Mittelbauern, die ihr Soll nicht erfüllen können, die Produkte käuflich zur Verfügung, um damit seinen Einfluss zu vergrößern.
In einer Bauernversammlung in Falkenhain, [Bezirk] Leipzig, verlangte ein Großbauer u. a., dass die Saatgutvermehrung den Großbauern überlassen werde, da die werktätigen Bauern keine Erfahrungen darin haben würden.
In einer von der VdgB einberufenen Bauernversammlung in Steutz, [Bezirk] Magdeburg, traten Groß- und Mittelbauern als negative Sprecher auf. Als den versammelten bekannt gegeben wurde, dass in diesem Jahr keine Kartoffeln ohne Genehmigungen des Rates des Kreises verkauft werden dürfen, brüllten einige Großbauern dazwischen: »Wir machen in diesem Jahr mit unseren Kartoffeln was wir wollen.«
Bevölkerung
Über politische Tagesfragen wird wenig diskutiert. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen persönliche Belange. Die nur gering bekannt gewordenen Stimmen der Wehrgesetzdebatte sind überwiegend positiv. Vereinzelt wird mit ähnlichen Maßnahmen unserer Regierung gerechnet. Eine Hausfrau aus Themar, [Bezirk] Suhl: »Jetzt wird auch bei uns die Wehrpflicht kommen, denn die VP-Werbung bedeutet doch nichts anderes.«
Ein Teil der Bevölkerung erwartet, dass mit dem IV. Parteitag eine weitere Verbesserung der Lebenslage erfolgen wird. Ein Angestellter (parteilos) aus Jarmen, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich erwarte vom IV. Parteitag eine weitere Verbesserung unseres Lebensstandards, weil ich Vertrauen zur SED habe.«
In den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Leipzig wird vereinzelt über den Wegfall der Lebensmittelkarten diskutiert. Ein Dozent von der Fachschule für Textilindustrie Karl-Marx-Stadt: »Im Juli kommen die Marken weg. Ein Pfund Wurst soll dann 3,60 DM kosten. Das kommt einer Gehaltskürzung gleich. Nur Kinder und Rentner sollen die Karten weiterbekommen. Das wird wohl zu Unruhen führen.«
Durch die VP-Werbung kam es in der Oberschule Roßlau, [Bezirk] Halle, unter einigen Schülern zu folgender Diskussion: »Wir Arbeiterkinder sind gegenüber den Kindern der Intelligenz im Nachteil, denn sie können ihr Studium fortsetzen und wir sollen zur VP gehen.«
Negative bzw. feindliche Stimmen wurden nur vereinzelt bekannt. Ein Förster aus Altstrelitz,22 [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte: »Es wird höchste Zeit, dass der Westen uns befreit, damit hier aufgeräumt werden kann.«23
In der Abteilung für Handel und Versorgung des Kreisrates Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, antwortete eine Angestellte auf die Frage: ob sie aufgrund ihrer guten Arbeit Kandidat unserer Partei werden wolle. »Nein jetzt noch nicht, denn es ist möglich, dass es noch einmal anders kommt und dann möchte ich nicht Mitglied der SED sein.«
Im Grenzgebiet (500 Meter Streifen) der Gemeinde Pottiga, [Bezirk] Gera, äußerte ein Jugendlicher auf einer FDJ-Versammlung: »Wir wollen unsere Freiheit wiederhaben, denn wir werden von der Grenzpolizei laufend gedrückt.« Viele Jugendliche wollen, solange der 500-m-Streifen bestehen bleibt, keine FDJ-Versammlung mehr besuchen. Sie hoffen, dass dadurch eine Änderung erfolgt.24
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
CDU-Ostbüro:25 Magdeburg 3 800, Potsdam 3 000. Inhalt: Hetze gegen Genossen Molotow, Genossen Pieck26 und Viermächtekonferenz.
SPD-Ostbüro: Cottbus 300, Potsdam 200, Karl-Marx-Stadt 17. Inhalt: Hetze gegen die Regierung der DDR und SU.
NTS:27 Neubrandenburg 4 500, Frankfurt 1 800, Potsdam 1 000. Inhalt: Hetze gegen SU – Aufforderung zum Desertieren.
KgU:28 Frankfurt 4 000. Inhalt: Hetze gegen SfS – Namen und Adressen der Verwaltung Neubrandenburg.
Vereinzelte Hetzschriften der NTS, SPD, CDU und KgU wurden aus den Bezirken Dresden, Halle, Erfurt und Gera berichtet bzw. sichergestellt.
Die aufgeführten Hetzschriften wurden zum überwiegenden Teil durch Ballons oder Flugzeuge eingeschleust und gebündelt oder durch Suchkommandos sichergestellt.
Im Bezirk Potsdam wurden 99 Briefe mit Hetzmaterial – »Widerstandsgruppe Mecklenburg« sichergestellt.
Gefälschte Vorladungen, wonach die betreffenden Personen sich binnen drei Tagen auf dem VPKA Neubrandenburg zu melden haben, wurden an fünf Personen im Bezirk Neubrandenburg gesandt.
Einschätzung der Situation
Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht wesentlich verändert.