Zur Beurteilung der Situation
16. März 1954
Informationsdienst Nr. 2155 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Mittelpunkt der Diskussion stehen betriebliche Fragen. Ein Teil der Werktätigen diskutiert über die beabsichtigte Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland.1 Von diesem Teil ist die Mehrzahl gegen das Wehrgesetz. Sie sehen darin die Gefahr eines neuen Krieges und verurteilen diesen, da er nur neues Elend bringen würde. Ein Arbeiter aus Rosenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich habe mir über das Wehrgesetz wenig Gedanken gemacht und befasse mich nicht mit Politik. Ich bin jedoch für den Frieden und will keinen Krieg.«
Während ein Teil der Werktätigen zum Ausdruck bringt, dass jetzt in der DDR auch bald die Wehrpflicht eingeführt wird, fordert ein anderer Teil von der Regierung Maßnahmen, die den Schutz der DDR garantieren, verschiedentlich meldet man sich freiwillig zur Volkspolizei. Verschiedene Kollegen des Betriebes Kalamonsalpeter der Farben-Fabrik Wolfen, [Bezirk] Halle/Saale, bringen zum Ausdruck, dass mit Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland auch in der DDR ein derartiger Schritt gemacht wird.
Im VEB Kaliwerk »Marx Engels« in Unterbreizbach-Suhl meldeten sich 15 Jugendliche zur Volkspolizei.
Ein Teil der Werktätigen, besonders die Angestellten und die Intelligenz, verhalten sich abwartend und gleichgültig zu politischen Problemen. Der größte Teil der Kumpels von dem Wismut-Schacht 2062 ist politisch interesselos und sie wollen nur ihren Plan durchführen. Politische Fragen werden kaum diskutiert.
Ein kleinerer Teil der Werktätigen äußert sich in negativer und feindlicher Form, wobei der westliche Einfluss bei diesen Menschen besonders zum Ausdruck kommt. Inhalt: meist gegen die VP, Vergleiche der Wehrpflicht in Westdeutschland und der KVP und ähnliche.3 Ein Arbeiter vom VEB Farma-Werke Neuhaus,4 [Bezirk] Suhl (ehemals KVP-Angehöriger): »Ich bin bei der KVP auf Kasernenhöfen geschliffen worden. Für mich gibt es keine Volkspolizei mehr.«
Ein Obermeister (SED) von dem VEB Schachtbau Nordhausen ([Bezirk] Erfurt): »Ich habe im Radio gehört, dass Jugendliche in Westdeutschland die Gestellungsbefehle zerreißen sollen und dass sie in die DDR kommen sollen.5 Wenn sie aber zu uns kommen, wird man sie zwingen, in die Volkspolizei einzutreten.«
Ein Arbeiter von dem Kali- und Salzbergwerk Gröna, [Bezirk] Halle/Saale: »Ich kann nicht verstehen, dass man gegen das Wehrgesetz in Westdeutschland ist, wo man doch hier dauernd für die VP wirbt.«6 Ein Arbeiter (SED) von dem VEB Glashütte, [Bezirk] Dresden: »Die Kollegen in unserem Werk II sind der Meinung, dass es der Jugend nicht schadet, wenn sie zur Wehrmacht eingezogen wird. In acht Wochen wäre es bei uns auch soweit, dass die Wehrpflicht eingeführt wird. Die GST ist die gleiche Organisation wie die Wehrertüchtigung bei Hitler.«7
Zu Ehren des IV. Parteitages der SED8 werden von einem Teil der Arbeiter Kollektiv- und Einzelverpflichtungen übernommen. Ein großer Teil hofft, dass auf dem IV. Parteitag Vorschläge gemacht werden, die zu einer Verbesserung des wirtschaftlichen Lebens führen. Besonders erwartet man eine Preissenkung und den Wegfall der Lebensmittelkarten.
Die Brigade Klöder von dem VEB Holzindustrie Güstrow, [Bezirk] Schwerin, verpflichtete sich, ihre Norm um 5 Prozent zu erhöhen.
In der Wurzener Teppichfabrik, [Bezirk] Leipzig, gaben 53 Kollegen Verpflichtungen ab.
Die Kollegen des Betriebes Selinow9 der Farbenfabrik Wolfen, [Bezirk] Halle, verpflichteten sich, sechs Tage Planvorsprung herauszuarbeiten.
34 Brigaden der Wismut in Sorge-Settendorf verpflichteten sich, 1 000 bis 1 500 m³ über den Plan zu fördern.
Ein Arbeiter (parteilos) von dem VEB Zellwolle Wittenberge [Bezirk] Schwerin: »Ich fordere, dass der IV. Parteitag dem Wohnungsproblem besonders Aufmerksamkeit widmet.«
Teilweise wird dieser Wunsch (Preissenkung und Wegfall der Lebensmittelkarten), den große Teile der Bevölkerung zum Ausdruck bringen, von negativen Elementen ausgenutzt, um Gerüchte zu verbreiten. So wird in dem VEB Zellwolle Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, davon gesprochen, dass ab 1. Mai 1954 die Lebensmittelkarten wegfallen und Konsum- und HO-Preise entsprechend angeglichen werden. In der Abteilung Hof und Speicher des VEB Märkische Öl-Werke [Wittenberge, Bezirk] Schwerin diskutiert man darüber, dass bald eine HO-Preissenkung kommt.
Produktionsschwierigkeiten wurden aus einzelnen Betrieben des Bezirkes Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt bekannt. Ursachen sind Materialmangel, schlechtes Material und fehlende Aufträge. Diese Störungen führen teilweise zu Schwierigkeiten in der Erfüllung der Pläne und zu Verdienstausfall bei den Arbeitern. Dadurch wird die Stimmung in diesen Betrieben negativ beeinflusst.
Materialmangel besteht in dem VEB Gummi-Werk Riesa. Die Belegschaft verpflichtete sich, 2 700 Reifen über den Plan zu produzieren. Durch Materialmangel kann jedoch der Plan kaum erfüllt werden.
Weiterhin mangelt es an Material in dem VEB Stern-Radio Rochlitz [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, in dem VEB Tuchfabrik Parchim, [Bezirk] Schwerin, im VEB Damast- und Inlett-Weberei Oberoderwitz, [Bezirk] Dresden, und in dem Treuhandbetrieb Dörfelt, Heizungs- und Gewächshaus Halle/Saale Kirchberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt.
Schlechtes Material erhielt der VEB Kleiderwerke Güstrow, [Bezirk] Schwerin.
Im VEB Leipziger Bodenbearbeitungsgeräte wurden durch den Deutschen Innen- und Außenhandel halbfertige Aufträge von über 300 000 Pflugscharen wegen angeblicher Preisdifferenzen zurückgezogen. Die beiden Scharen-Walzwerke des Betriebes liegen zurzeit still.
Produktionsstörungen: Im Kraftwerk Großkayna, [Bezirk] Halle/Saale, fiel am 14.3.1954 die Turbine II infolge Spulenbrand am Generator aus. Der Ausfall beträgt 11 200 Kilowatt.
Im Stickstoffwerk Piesteritz, [Bezirk] Halle, wurde am 14.3.1954 der Karbid-Ofen abgeschaltet. Ursache: durch Wirbelströme glühte das Kupfer zusammen. Ausfall: 18 Stunden, 90 000 kg Karbid.
In dem Braunkohlenwerk »Freiheit« in Bitterfeld, [Bezirk] Halle, fiel am 14.3.1954 der Bagger 1 200 aus. Ursache: Die Eimerleiter stieß gegen eine freistehende Halde. Reparaturzeit: ca. acht Tage.
Unzufriedenheit besteht bei Frauen des VEB Walzwerkes Burg, [Bezirk] Magdeburg, über die Prämierungen zum 8. März. Dabei äußerte man, dass »immer die gleichen Frauen Prämien erhalten, die schon ein hohes Gehalt bekommen«.
Über die Beitragszahlung der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft wird im Fischkombinat Saßnitz, [Bezirk] Rostock, negativ diskutiert. Man will nicht die Neuregelung der Beiträge anerkennen, die sich nach der Höhe des Brutto-Einkommens richten. Der Leiter der Kutter-Versorgung: »Ich habe mich bei dem Eintritt in die DSF bereit erklärt, 50 Pfennige zu bezahlen und ich denke auch gar nicht daran, mehr zu geben« (Mitglied der SED). Einige parteilose Arbeiter erklärten ihren Austritt aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, wenn sie mehr Beiträge bezahlen müssen.
Erkrankungen: In dem VEB Femeta10 und in dem Privatbetrieb Ohmann in Großschönau,11 Kreis Zittau, erkrankten am 12.3.1954 insgesamt 51 Personen, davon 45 in dem VEB. Ursache: Mittagessen in der HO-Gaststätte in Großschönau. Das Untersuchungsergebnis steht noch aus.
Handel und Versorgung
Bei der DHZ Lebensmittelniederlassung Zeitz, [Bezirk] Halle, lagern an Überplanbeständen 16 t Dauerbackwaren, 5 bis 6 t Graupen und 150 000 Stück Suppenwürfel. Ein Teil der Waren droht zu verderben. Im Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, mussten Sardinen (Importwaren aus Marokko) auf Anweisung der Hygiene-Aufsicht aus dem Handel gezogen werden, da sie ungenießbar sind.
Die HO Lebensmittel in Suhl erhielt 1,5 t ungarische Salami, die sie nicht absetzen kann. Der Bevölkerung ist der Preis von 19,80 DM pro kg zu hoch.
Im Wismutgebiet mangelt es an Talonwaren12 (Untertrikotagen, Oberhemden), Nähmaschinen, Öfen, Herden, Emaillewaren sowie Uhren. Im Kreis Jena und einigen anderen Kreisen des Bezirkes Gera klagt die Bevölkerung über Mangel an Bohnenkaffee. Im Kreis Saalfeld, [Bezirk] Gera, gibt es nur ganz vereinzelt Fischwaren zu kaufen.
Landwirtschaft
Unter der Landbevölkerung wird wenig über politische Tagesfragen diskutiert. Über die Wehrgesetz-Debatte wurden nur ganz vereinzelte Stimmen bekannt. Die sich gegen die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland richten. Nach wie vor steht im Mittelpunkt der Diskussionen die Frühjahrsbestellung. Der Mangel an Saatgut, besonders an Saatkartoffeln sowie an Düngemitteln führen zur Missstimmung unter der Landbevölkerung.
In der Gemeinde Segeletz, [Bezirk] Potsdam, wurde im Herbst 1953 den Bauern erklärt, dass sie alle Kartoffeln abliefern müssten und dass das Saatgut die Regierung stellt. Da dieses Versprechen nicht eingelöst wurde, äußerte jetzt ein Bauer in einer Versammlung: »Saatkartoffeln wachsen nicht auf den Schreibtischen der Regierung, sondern auf den Feldern der Bauern.«
Im Kreis Zeulenroda, [Bezirk] Gera, fehlt es an 800 dz Saatkartoffeln. Allein die LPG Wiebelsdorf benötigt noch 150 dz. Im Bezirk Schwerin sind in den örtlichen landwirtschaftlichen Betrieben13 Klein Pankow und Burow sowie in der LPG Siggelkow insgesamt 1 200 z [sic!] Speise- und Saatkartoffeln durch schlechtes Abdecken der Mieten erfroren.
Der Mangel an Futtermittel führte in den Kreisen Spremberg und Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, zur Verringerung des Schweinebestandes um über 3 500 Stück gegenüber dem Vorjahr.
In der Gemeinde Sembzin, [Bezirk] Neubrandenburg, ist bei einem Großbauer die Schweinepest ausgebrochen. Es mussten bereits 30 Schweine geschlachtet werden. In der Gemeinde Crossen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sind 600 Rinder von einer Scheiden-Erkrankung befallen. Bereits im August 1953 traten Anzeichen dieser Krankheit auf, wurden jedoch vom Kreistierarzt nicht bekämpft.
Vereinzelt wurden negative bzw. feindliche Stimmen, besonders von Großbauern, bekannt. Insbesondere richten sie sich gegen die Entwicklung auf dem Lande. Der Sohn eines Großbauern (Student) aus Flötz, [Bezirk] Magdeburg, äußerte, »die Arbeiter sind nicht dazu berufen, die Hochschulen zu besuchen, sondern nur die Söhne der besitzenden Klasse«. Des Weiteren äußerte er, die MTS unterstützt nicht die Großbauern, sondern arbeitet gegen sie. Ein Bauer aus Relzow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Man müsste das ganze Vieh verkaufen und dann in die LPG eintreten. Denn so haben es doch viele LPG-Bauern gemacht. Die LPG sind der Untergang der Bauern.«
Bevölkerung
Über politische Tagesfragen wird unter der übrigen Bevölkerung nur sehr wenig diskutiert. Besonders in kleinbürgerlichen Kreisen macht sich eine abwartende Haltung bemerkbar. Die nur vereinzelt bekannt gewordenen Meinungsäußerungen über die Wehrdebatte sind ihrem Inhalt nach meist positiv. Der Wunsch, den Frieden zu erhalten, wird in diesem Zusammenhang immer wieder zum Ausdruck gebracht. Verschiedentlich werden von unserer Regierung Gegenmaßnahmen erwartet, teilweise zeigt sich auch eine pazifistische Haltung. In den Grenzorten des Kreises Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, wird von einem größeren Teil der Jugendlichen zum Ausdruck gebracht, dass es nicht lange dauern wird, bis ähnliche Maßnahmen in der DDR durchgeführt werden. Ein geringer Teil äußert, wenn bei uns die Wehrpflicht eingeführt wird, gehen wir nicht.
Aufgrund des bevorstehenden IV. Parteitages der SED werden von einem Teil der Bevölkerung, besonders von Hausfrauen, weitere Verbesserungen in der Lebenslage erwartet. Diese Meinung kam z. B. bei einem Aufklärungseinsatz der Nationalen Front14 in Ammendorf, [Bezirk] Halle, zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang wird verschiedentlich über die Abschaffung der Lebensmittelkarten diskutiert bzw. wird dies als Gerücht verbreitet. So wird z. B. in Eisleben, [Bezirk] Halle, unter den Hausfrauen gesprochen, dass ab 1.5.1954 die Marken für Fleischwaren aufgehoben werden. Man müsste sich dann rechtzeitig anstellen, da nicht genügend Fleischwaren vorhanden sind. Weiterhin würden die Preise erhöht werden.
Wie aus dem Bezirk Gera berichtet wird, ist unter der Intelligenz dahingehend diskutiert worden, dass die Wissenschaftler in der Industrie ungefähr 1/3 mehr Gehalt beziehen, wie die Wissenschaftler der Universitäten. So äußerte der Leiter des physikalisch-chemischen Institutes,15 »dass bei ihm in der Hauptsache Laborantinnen wegen der besseren Bezahlung in die Industrie überwechseln«.
Ein Pfarrer aus Kochstedt, [Bezirk] Halle, äußerte zu jungen Pionieren, die verspätet zum Religionsunterricht kamen: »Sie sollen aus der Pionierfreundschaft austreten, damit sie den Religionsunterricht besuchen können.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:16 Suhl 3 000, Erfurt 50, Halle/Saale 13, Potsdam 11, Dresden 8, Karl-Marx-Stadt 5. Inhalt: Hetze gegen die DDR, SED, Genossen Walter Ulbricht,17 »langsam arbeiten, freie Wahlen«.
NTS:18 Potsdam 623, Rostock 100, Dresden 58, Karl-Marx-Stadt 4. Inhalt: Hetze gegen die SU und SfS.
KgU:19 Potsdam 10, Karl-Marx-Stadt 8, Neubrandenburg 4. Inhalt: Hetze gegen SfS, Namen und Adressen von Mitarbeitern der Verwaltung Neubrandenburg.
CDU-Ostbüro: Potsdam 100. Inhalt: Hetze gegen die Viermächtekonferenz.20
Die aufgeführten Hetzschriften wurden zum überwiegenden Teil durch Ballons oder Flugzeuge eingeschleust und durch Such-Kommandos der VP sichergestellt.
In den Bezirken Dresden, Halle, Magdeburg, Potsdam und Schwerin wurden vereinzelte Hetzbriefsendungen der KgU (Namen von Mitarbeitern der Verwaltung Neubrandenburg), der NTS (Aufforderung zum Desertieren, Hetze gegen die SU) und des UFJ21 (Hetze gegen die VP-Helfer) sichergestellt.
Gefälschte Einladungen zur Vorbereitungsbesprechung für die Durchführung des II. Pfingsttreffens der FDJ,22 die am 20.3.1954 in Berlin stattfinden soll, erhielt die Kreisleitung der FDJ Lübz, [Bezirk] Schwerin.
Hetzparolen wurden im VEB Stahlwerk Silbitz und im RAW Jena, [Bezirk] Gera, in Toiletten angeschmiert. Inhalt: »Wir wollen Freiheit, wie 1939« und »Weg mit der SED«.
Von einem Fahnenmast des Kulturhauses des Walzwerkes Willy Becker [Kirchmöser], [Bezirk] Potsdam, wurde eine Fahne heruntergerissen.
In der Nacht vom 14. und 15.3.1954 wurden auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof in Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, 40 Grabsteine von unbekannten Tätern umgestoßen.
Am 12.3.1954 wurden im VEB Seehafen-Stralsund, [Bezirk] Rostock, Motorenteile eines Portalkrans, die repariert werden sollten, von unbekannten Tätern mit Kies bestreut.
Einschätzung der Situation
Die Lage hat sich gegenüber dem Vortage nicht wesentlich geändert.