Zur Beurteilung der Situation
18. März 1954
Informationsdienst Nr. 2157 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen weiterhin betriebliche Fragen. Von einem Teil der Werktätigen wird über die beabsichtigte Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland diskutiert, davon lehnt die Mehrzahl, besonders die Arbeiter und Jugendlichen, das Wehrgesetz in Westdeutschland ab.1 Man sieht die Gefahr eines neuen Krieges in dieser Maßnahme. Ein größerer Teil der Arbeiter von dem VEB Industriewerk Rauenstein, [Bezirk] Suhl, protestierte gegen die geplante Einführung der Wehrpflicht und forderte zu einem verstärkten Friedenskampf auf, indem man den Briefwechsel mit Westdeutschland verstärken soll.2 Verschiedentlich äußert man, dass die DDR durch diese neue Lage in Westdeutschland zu Gegenmaßnahmen gezwungen wird. Teilweise erklärt man sich bereit, die Republik aktiv zu schützen, ein anderer Teil erkennt die Werbungen zur Volkspolizei an, sieht aber noch nicht eine sofortige Werbung als notwendig an.
Verschiedene Arbeiter von dem Leuna-Werk »Walter Ulbricht«, [Bezirk] Halle, sind der Meinung, dass aufgrund der zu erwartenden Einberufung in Westdeutschland die DDR gezwungen wird, Gegenmaßnahmen zur Verteidigung zu ergreifen. Im VEB Zellwolle Wittenberge erkennt man die Notwendigkeit der Werbungen für die Volkspolizei an,3 sieht aber nicht ein, warum man bereits jetzt eintreten soll.
Ein Teil der Werktätigen, besonders Angestellte und die Intelligenz, verhalten sich abwartend und gleichgültig gegenüber politischen Problemen. Ein kleinerer Teil der Werktätigen spricht sich in negativer bzw. feindlicher Form aus, wobei besonders der Einfluss der westlichen Propaganda zum Ausdruck kommt. Inhalt: meist Hetze gegen die FDJ, DDR, Volkspolizei u. a.
Ein Arbeiter von dem VEB Hans-Ammon-Werk Eberswalde,4 [Bezirk] Frankfurt, erklärt: »Man muss sich die ganze Wirtschaft hier ansehen, wo soll das nur hinführen, solange die ›Russen‹ hier sind, können wir bei uns nichts anderes mehr erwarten.«
Ein Arbeiter vom Objekt 100 der Wismut in Aue:5 »Für mich ist es eine Ehre, für Adenauer6 zu sterben.« Ein Arbeiter von dem gleichen Objekt erklärte: »Ich bin erst wieder gesund, wenn ich mein Gewehr in der Hand habe.«
Ein Jugendlicher vom VEB der ČSR-Koh-i-noor (Herstellung von Kunstharz) in Lichtenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wir brauchen keine VP. Ich jedenfalls nehme keine Waffe in die Hand.«
Zu Ehren des IV. Parteitages7 wurden von einem Teil der Arbeiter Kollektiv- und Einzel-Verpflichtungen übernommen. Ein großer Teil aller Schichten der Werktätigen erhofft von dem IV. Parteitag Vorschläge zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage. Besonders erwartet man eine Preissenkung und die Abschaffung der Lebensmittelkarten.
Die Kollegen des Kraftwerkes Rummelsburg verpflichteten sich, bis zum IV. Parteitag 5 Millionen Kilowatt Strom über den Plan hinaus zu liefern. Bisher wurden sechs Kandidaten für die Partei geworben.
Im Steinkohlenwerk Deutschland, Bezirk Karl-Marx-Stadt, verfuhr man zu Ehren des IV. Parteitages Höchstleistungsschichten, wobei man durchschnittlich 120 Prozent erreichte.
Produktionsschwierigkeiten wurden aus dem RAW Cottbus, dem VEB Peniger-Maschinen-Fabrik Karl-Marx-Stadt und dem VEB Bettfedernfabrik Güstrow, [Bezirk] Schwerin, gemeldet. Ursachen sind Materialmangel.
Produktionsstörungen: Am 17.3.1954 fiel im Großkraftwerk Hirschfelde, [Bezirk] Dresden, die Maschine II aus. Die gesamte Maschinenleistung dieses Kraftwerkes ging dadurch um 40 Millionen Watt zurück.
Im Werk »Freiheit« Bitterfeld, [Bezirk] Halle, stieß ein voller Abraumzug in die Planke eines anderen. Ursache ist noch nicht bekannt. Der Sachschaden ca. 20 000 DM.
Unzufriedenheit wurde aus einigen Betrieben über Lohnfragen und in der Verteilung der Ferienplätze des FDGB bekannt.
Unter den Arbeitern des VEB Waggonbau Bautzen, [Bezirk] Dresden, besteht eine Missstimmung in Lohnfragen, da die Arbeiter in Dessau und Ammendorf (Halle) für die gleiche Arbeit einen höheren Lohn erhalten.
Die Kollegen des VEB Werk für Fernmeldewesen Berlin sind über ungleiche Lohnberechnungen unzufrieden. In der Abteilung Vorkontrolle wird nach Leistungslohn und in der Abteilung Gütekontrolle nach Zeitlohn bezahlt, wodurch ein Lohnunterschied von 1,00 DM bis 1,50 DM in der Stunde entsteht.
Die Betriebsschutz-Angehörigen des VEB Feinprüfwerkes Schmalkalden sind über zu »niedrige Entlohnung« missgestimmt.
Im VEB Lauchhammer,8 [Bezirk] Cottbus, sind die Kollegen missgestimmt, dass dem Werk 140 Ferienplätze weniger als im vorigen Jahre zur Verfügung stehen. Einige Kollegen sagen dazu: »Den FDGB-Beitrag lehnen wir ab, für das Geld können wir privat in den Urlaub fahren.« Das Kunstfaser-Werk »Wilhelm Pieck« in Rudolstadt, [Bezirk] Gera, sowie die Leuna-Werke »Walter Ulbricht«, [Bezirk] Halle, haben ebenfalls weniger der Ferienplätze erhalten, als beantragt waren, wodurch die Arbeiter unzufrieden sind.
Im VEB Lederfabrik Hirschberg/Thüringen werden bei Diskussionen über den Betriebs-Kollektivvertrag immer wieder Forderungen auf Lohn- und Zusatzurlaub gestellt.
Um die Wiedereinführung der Omnibus-Linie von Tellerhäuser bis Oberwiesenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, werden von den Kumpels der Schächte 206, 253 und 336 der Wismut starke Diskussionen geführt, da man jetzt diese Strecke (7 km) zu Fuß zurücklegen muss.
Verhalten von Genossen zu SPD-Mitgliedern
Im VEB Tiefbau Berlin wird das Verhalten von einigen SED-Mitgliedern zu SPD-Mitgliedern von letzteren kritisiert.9 Man würde statt mit ihnen Aussprachen herbeizuführen, ihnen nur Vorwürfe machen, dass sie Mitglieder der SPD sind. Ein SPD-Mitglied wurde in einer Versammlung aufgefordert, zur Frage der »freien Wahlen« Stellung zu nehmen. Dieses Mitglied sprach sich für die Durchführung freier Wahlen nach dem Vorschlage des Genossen Molotow aus.10 Er erklärte in einem Gespräch, dass ein SED-Genosse, welcher ihm den Unterschied bei den Vorschlägen über freie Wahlen erklärt (Vorschlag von Westdeutschland und Vorschlag des Genossen Molotow),11 ihm nicht sagen konnte, worin dieser Unterschied besteht. Man würde ihm von der BPO dauernd nur bearbeiten und er sei nicht mehr gewillt, auf solche Fragen zu antworten. Er ist dadurch verärgert und hat keine Lust zu einer weiteren Mitarbeit. Ein anderer SPD-Genosse wurde in eine andere Kolonne versetzt, dabei brachte dieser zum Ausdruck, dass man ihn nur abschieben will, weil er Mitglied der SPD ist.
Handel und Versorgung
Im Kreis Schleiz, [Bezirk] Gera, mangelt es aufgrund schlechter Warenverteilung an Fischkonserven. Im Kreis Zeitz, [Bezirk] Halle, fehlen Därme, sodass keine Bockwürste für die HO-Gaststätten und Kleinverbraucher hergestellt werden können. Im Kreis Weißenfels, [Bezirk] Halle, ist die Versorgung mit Margarine, das Sortiment I und II, unzureichend.
Landwirtschaft
Über politische Fragen wurden nur ganz vereinzelt Stimmen zur Wehrgesetz-Debatte bekannt, die zum Teil positiv sind. Negative Diskussionen wurden nur von Großbauern bekannt. Ein Großbauer aus Straßberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Westdeutschland hatte doch früher auch Militär und braucht es auch jetzt.«
Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen die Frühjahrsbestellung sowie die verschiedentlich auftretenden Mängel. Besonders wird über den Mangel an Saatkartoffeln und über die unzureichende Futtergrundlage geklagt. In der Gemeinde Zapel, [Bezirk] Schwerin, fehlen ca. 200 Ztr. Saatkartoffeln und 30 Ztr. Saatgetreide.
In der Gemeinde Pröttlin, [Bezirk] Schwerin, klagt man über große Futterschwierigkeiten. In den Gemeinden Karlshorst12 und Fürstenberg, [Bezirk] Potsdam, mangelt es teilweise an Futtermitteln. Verschiedentlich werden deshalb Saatkartoffeln nicht abgegeben, sondern zur Fütterung benutzt.
Über Vorkommnisse in den LPG wurde Folgendes bekannt:
Aus der LPG Neu-Premslin, [Bezirk] Schwerin, wollen einige Mitglieder austreten wegen zu niedrigem Verdienst. (eine Arbeitseinheit 2,00 DM)
In der LPG Groß Kreien, [Bezirk] Schwerin, wurde noch nichts für die Bestellung der Felder getan. Begründet wurde das von dem Vorsitzenden damit, dass das Holzfahren erst einmal wichtiger ist.
Der Parteisekretär von der LPG Wischnewski13 in der Gemeinde Demern, [Bezirk] Schwerin, benimmt sich in der Gemeinde so, dass einige Einwohner sich darüber beklagen. Zum Beispiel sang er mit noch anderen Personen ein faschistisches Lied.
Vereinzelt wurden negative bzw. feindliche Stimmen bekannt. Sie beinhalten wirtschaftliche Fragen unter anderem Hetze gegen die LPG. Zum Beispiel äußerte ein Mittelbauer aus Kathlow, [Kreis] Cottbus: »Die Zustände in der DDR können so nicht bleiben. Wir Bauern werden zu sehr gedrückt. Gerade wir großen Betriebe müssen das dreifache Soll liefern wie die kleinen Betriebe.«
In einer Bauernversammlung der Gemeinde Massow, [Bezirk] Neubrandenburg, sprachen sich einige Bauern gegen das Abgabesoll aus und vertraten die Meinung, dass das noch immer bestehende Abgabe-Soll zur Republikflucht der Bauern führen kann. Ein Großbauer aus Rabutz, [Bezirk] Leipzig, sprach die Drohung aus, dass am 1. Mai 1954 den LPG-Mitgliedern der Kampf angesagt wird. Ein ehemaliges Mitglied einer LPG aus der Gemeinde Harbke, [Bezirk] Magdeburg, drohte dem Vorsitzenden der LPG, dass er nach der Herstellung der Einheit Deutschlands aufgehängt wird.
In der LPG Utendorf, [Bezirk] Suhl, brach die Schweinepest aus. 80 Schweine sind davon betroffen.
Bevölkerung
Im Vordergrund der Diskussionen stehen wirtschaftliche Fragen. In diesem Zusammenhang wird geäußert, dass man von dem IV. Parteitag eine Preissenkung bzw. Abschaffung der Lebensmittelkarten erwartet. Im Kreise Ilmenau, [Bezirk] Suhl, verbreitet sich immer mehr die Meinung, dass die Rationierung für Fleisch und Fett aufgehoben wird. Dabei bringen Hausfrauen zum Ausdruck, dass die Karten nicht wegfallen sollen, wenn die Preise in der HO nicht gleichzeitig gesenkt werden.
Über die Wehrdebatte wird nur sehr wenig diskutiert. Die uns bekannt gewordenen Stimmen sind meist positiv. Besonders von Hausfrauen wird die Einführung der Wehrpflicht abgelehnt, weil sie darin die Grundlage eines neuen Krieges sehen.
Ganz vereinzelt werden Diskussionen über den Aufruf der Regierung der DDR zur Gewährung von Asyl für Jugendliche von Westdeutschland bekannt.14 Hierzu Jugendliche aus Grimmen, [Bezirk] Rostock: »Das ist gut, dann müssten sie Adenauer ausrücken, damit er sie nicht einziehen kann.«
In den einzeln bekannt gewordenen negativen Meinungsäußerungen wird zu wirtschaftlichen Fragen Stellung genommen. [Die] Inhaberin einer Landmaschinen-Reparatur-Werkstatt in Dahme, [Bezirk] Cottbus, äußerte sich über die Lohnerhöhung, die sie ihren Arbeitern zahlen muss,15 folgendermaßen: »Wenn es ein Arbeiterstaat wäre, müssten alle Sachen billiger werden, damit sich die Arbeiter mehr leisten können.« Darauf hingewiesen, dass doch alles noch die Auswirkungen des Kriegsausganges wären, sagte sie: »Das hat doch damit nichts zu tun, der Krieg ist schon längst bezahlt, die Russen haben doch genug rausgeschafft.«
Nachfolgend einige Beispiele zu negativen bzw. feindlichen Stimmen:
Die katholische Kirche beeinflusst die Kinder in dem katholischen Jugendheim so, dass es zu folgendem Zwischenfall in der 8. Klasse (Berlin) kam. Schüler: »Die Ostgebiete werden bald wieder deutsch und zwar recht bald holen wir uns diese zurück. Die Partisanen-Bewegung in Polen ist tüchtig angewachsen, die deutschen Menschen dort lassen sich die Herrschaft der Polen nicht länger gefallen.« Nach der Quelle seines Wissens befragt, erklärte er: »Ich höre den Westdeutschen Rundfunk und lese die Westpresse.«16
Ein LDPD-Mitglied aus Bad Sulza, [Bezirk] Erfurt: »… Der 17.6.1953 war nur die Verlobung und im März 1954 findet die Hochzeit statt. … Unsere Regierung ist nicht von dem Volke gewählt, sondern die Regierungsmitglieder sind nur Strohpuppen der Russen.«
Ein parteiloser Geschäftsmann aus Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus: »Wenn die einheitliche Wahl kommt, wird die Regierung der DDR sowieso abgesägt.«
Eine Hausfrau aus Carlshöhe, [Bezirk] Schwerin, verbreitet das Gerücht, dass in nächster Zeit die 50,00-DM-Scheine der Deutschen Notenbank ungültig werden.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:17 Potsdam 6 030, Magdeburg 300, Cottbus 200, Dresden 30, Karl-Marx-Stadt 7. Inhalt: Hetze gegen die SED, Genossen Walter Ulbricht,18 gegen Steigerung der Produktion, »freie Wahlen«.
KgU:19 Potsdam 4 150, Frankfurt/Oder 10. Inhalt: Hetze gegen den Genossen Molotow, gegen die Regierung der DDR, »langsam arbeiten, freie Wahlen«.
NTS:20 Potsdam 270, Dresden 200, Cottbus 200, Frankfurt/Oder 20. Inhalt: Aufforderung zum Desertieren, Hetze gegen die Viermächtekonferenz.21
CDU-Ostbüro: Potsdam 3 000, Halle/Saale 500. Inhalt: Hetze gegen die Viermächtekonferenz.
Im Bezirk Frankfurt/Oder wurden 4 000 Hetzschriften eingeschleust. Inhalt: Hetze gegen den Genossen Molotow, »Freie Wahlen«. Im Bezirk Magdeburg werden verstärkt Flugblätter der NTS durch Ballons verbreitet.
Der größte Teil der o. a. Hetzschriften wurde durch Ballons eingeschleust und gebündelt vorgefunden.
In Apolda, [Bezirk] Erfurt, wurden einige Hetzschriften »Frohe Botschaft«22 gefunden. Inhalt: Hetze gegen die DDR und SU, unter dem Deckmantel des Christentums.
Am 16.3.1954 wurde aus dem Aushängekasten der »Jungen Gemeinde« in Annaberg ein Plakat mit versteckter Hetze gegen die DDR entfernt.
In der Nacht vom 15. zum 16.3.1954 wurden im VEG Dömitzow, [Bezirk] Rostock, an zwei Tafeln, wo Losungen zu dem IV. Parteitag angebracht waren, Hakenkreuze angeschmiert.
In den örtlichen landwirtschaftlichen Betrieben in Wendig,23 [Bezirk] Schwerin, wurden am 16.3.1954 an einer Häcksel-Maschine zwei Mangeln24 eingeschlagen und ein Bolzen entfernt, sodass die Maschine außer Betrieb gesetzt wurde.
In der Nacht vom 13. zum 14.3.1954 streuten unbekannte Täter in der Hühner-Farm der LPG in Kroppenstedt, [Bezirk] Magdeburg, Giftweizen. Von 560 Hühnern sind bisher 90 verendet.
Vermutliche Feindtätigkeit
Am 16.3.1954 brach im Kükenhaus des Volksgutes Großschweidnitz, Kreis Löbau, [Bezirk] Dresden, ein Brand aus. Eine Stunde später brannte im selben Kreis eine Scheune mit Stallungen, Ackergeräten und Futtermitteln nieder. Der Schaden beträgt ca. 80 000 DM.