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Zur Beurteilung der Situation

31. März 1954
Informationsdienst Nr. 2169 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Betriebliche Fragen stehen weiterhin im Mittelpunkt der Diskussionen. Über die Regierungserklärung der UdSSR vom 25.3.1954 wird von den Werktätigen wenig diskutiert.1 In den Betrieben, wo eine gute Agitationsarbeit geleistet wird, wird stärker über diese Erklärung gesprochen. Die Mehrzahl der bekannt gewordenen Stimmen sind positiv. Dabei bringt man allgemein zum Ausdruck, dass diese Erklärung ein neuer Freundschaftsbeweis der Sowjetunion ist, welcher uns einen weiteren Schritt vorwärts zur Einheit Deutschlands bringt.

Die Stimmen zum IV. Parteitag der SED2 haben in den letzten Tagen ebenfalls zugenommen. Jedoch wird noch verhältnismäßig wenig diskutiert. Dies ist zum Teil auf mangelhafte Agitation- und Aufklärungsarbeit in den Betrieben zurückzuführen. So wurde im VEB Wälzlagerfabrik Berlin am Sonnabend bei Kurzversammlungen festgestellt, dass die Kollegen keine Kenntnis von der Bedeutung des IV. Parteitages haben.

Von einem Teil der Werktätigen werden Kollektiv- und Einzelverpflichtungen zu Ehren des IV. Parteitages übernommen. Die Abteilung Formerei des VEB Strumpfwerk Geyer, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, verpflichtete sich in diesem Jahr, 80 000 Paar Strümpfe und Socken über den Plan zu fertigen.

In der Mehrzahl der Diskussionen befasst man sich mit wirtschaftlichen Fragen (Verbesserung der Lebenslage). Ein großer Teil aller Schichten der Werktätigen erwartet vom IV. Parteitag Vorschläge zur Verbesserung der Lebenslage, dabei hofft man besonders auf eine Preissenkung und Abschaffung der Lebensmittelkarten ohne Erhöhung der Preise. Ein Arbeiter (parteilos) vom Braunkohlenwerk Plessa, [Bezirk] Cottbus: »Ich rechne stark mit einer Preissenkung nach dem IV. Parteitag, da diese für das Jahr der großen Initiative doch bereits angekündigt war.«3 Eine Arbeiterin (parteilos) vom VEB Pößnecker Volltuchwerk, [Bezirk] Gera: »Ich hoffe, dass eine weitere Preissenkung erfolgen wird. Weiterhin denke ich, dass für die Rentner etwas getan wird.«

Verschiedentlich kommt in Stimmen zum Ausdruck, dass man bei Abschaffung der Lebensmittelkarten eine Preiserhöhung befürchtet. Ein Arbeiter aus Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt: »In welcher Weise wird den Arbeitern geholfen, wenn die Karten wegfallen, die Preise werden dann höher sein. Was soll dann ein Arbeiter, der nur DM 250 verdient (im Monat), sich davon kaufen. Meiner Ansicht nach ist eine Erhöhung der Rationen für die Arbeiter die beste Lösung.«

Bei einem Teil der Arbeiter, besonders bei Angestellten und Intelligenzlern, zeigt sich eine Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem IV. Parteitag. Ein Zimmerer der Peene-Werft Wolgast, [Bezirk] Rostock: »Den Arbeitern [sic!] interessiert der IV. Parteitag nicht. Für uns ist es wichtiger, Arbeit zu haben, die in unserem Fach liegt. Nicht wie es zurzeit auf der Werft läuft,4 dass Facharbeiter mit nebensächlichen Arbeiten beschäftigt werden.«

Negative und feindliche Diskussionen sind nur vereinzelt bekannt, dabei zeigt sich besonders der Einfluss der westlichen Propaganda. Ein Schiffbauer der Peene-Werft Wolgast, [Bezirk] Rostock: »Für mich ist es klar, dass auf dem IV. Parteitag das Wehrgesetz angekündigt wird.5 Mir ist es ganz gleich, wo ich Soldat spielen muss, ob hier oder im Westen.« Ein Schlosser vom VEB Tuchfabrik Cottbus: »Lasst man, es wird ja noch ein 17.6.[1953] kommen und da bin ich als einer der Ersten dabei und dann werden die Köpfe rollen.«

Handel und Versorgung

Im Kreis Gräfenhainichen, [Bezirk] Halle, fehlt Frischfleisch, sodass Fleischkonserven auf Marken verkauft werden. Dies wirkt sich besonders schlecht auf die ländlichen Gemeinden aus, wo die Hausfrauen bei Fleischlieferungen stundenlang anstehen müssen.

In den Kreisen Gransee und Kyritz, [Bezirk] Potsdam, klagen die Handwerker über Mangel an Schmiedekohle. So hat z. B. der Kreis Kyritz ein Kontingent von 45 t Schmiedekohle zu erhalten, jedoch wurden von der DHZ Kohle in Potsdam-Babelsberg bisher noch keine Kohlen geliefert.

Landwirtschaft

Über politische Tagesfragen wird unter der Landbevölkerung wenig diskutiert. Zur Regierungserklärung der SU vom 25.3.1954 wurden nur vereinzelt Stimmen bekannt. Über den IV. Parteitag wird ebenfalls nur im geringen Maße diskutiert, überwiegend positiv. Meist sind es Äußerungen von Arbeitern der MTS, VEG und von Mitgliedern der LPG. Im Allgemeinen wird wenig über die politische Bedeutung des IV. Parteitages gesprochen. Größtenteils erwartet man Beschlüsse zur weiteren Verbesserung der Lebenslage. Ein Traktorist der MTS Sondershausen, [Bezirk] Erfurt: »Ich glaube, dass der IV. Parteitag zur weiteren Steigerung landwirtschaftlicher Produkte und zur Hebung des Lebensstandards der Landbevölkerung bedeutende Beschlüsse fasst.«

Ein Brigadier von der MTS Göhlen, [Bezirk] Schwerin: »Auf dem IV. Parteitag werden bestimmt Beschlüsse über eine bedeutende Hebung unseres Lebensstandards gefasst.« Ein LPG-Bauer aus Niederjesar, [Bezirk] Frankfurt: »Vom IV. Parteitag werden sicher Beschlüsse von großer Bedeutung gefasst werden. Vor allem werden sie sich auf die bessere Lebensgestaltung der Werktätigen erstrecken.«

Aus mehreren Bezirken wurde berichtet, dass verschiedentlich Bauern befürchten, dass mit dem IV. Parteitag die Abschaffung der Lebensmittelkarten erfolgt und dadurch die freien Spitzen wegfallen oder die Preise dafür niedriger werden.6 Dies wird auch als Gerücht verbreitet. Im Kreis Wismar, [Bezirk] Rostock, bestärken die Erfasser der VEAB die Bauern in ihrer Befürchtung, indem sie wie folgt diskutieren: »Auf dem IV. Parteitag wird bestimmt eine Preissenkung für Fett und Fleisch beschlossen und dadurch werden die freien Spitzen wegfallen.« Ein Bauer aus Großhartmannsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Hoffentlich werden auf dem IV. Parteitag keine Änderungen für uns Bauern getroffen. Sonst fallen womöglich die freien Spitzen weg, bei denen wir bisher gut weggekommen sind.«

Wie sich die Verbreitung des Gerüchtes auswirkt, zeigt folgendes Beispiel: In Waldheim, [Bezirk] Leipzig, verkauften mehrere Bauern landwirtschaftliche Produkte als freie Spitzen, obwohl sie ihr Soll in Eiern und Milch noch nicht erfüllt haben.

Zu Ehren des IV. Parteitages kommt es auch unter der Landbevölkerung zu Verpflichtungen. Die Mitglieder der LPG »Fortschritt« in Lützen, [Bezirk] Halle, verpflichteten sich, 50 000 kg Milch und 30 dz Schweinefleisch sowie 10 000 Stück Eier zusätzlich dem freien Markt zuzuführen. In den Gemeinden Grünberg und Trante,7 [Bezirk] Neubrandenburg, verpflichteten sich sämtliche LPG und werktätige Einzelbauern, ihr Jahressoll in tierischen Produkten 100-prozentig vorfristig zu erfüllen. Die Melkerbrigade des VEG Holzendorf, [Bezirk] Neubrandenburg, übernahm die Selbstverpflichtung, außer ihrem Soll 40 000 kg Milch zu liefern.

Übrige Bevölkerung

Über die Regierungserklärung der Sowjetunion wird wenig diskutiert. Die uns bekannt gewordenen Stimmen sind meist positiv. In bürgerlichen Kreisen treten ganz vereinzelt negative Diskussionen über die Regierungserklärung der SU auf.

Die Diskussionen zum IV. Parteitag haben gering zugenommen. Im Mittelpunkt der Diskussionen zum IV. Parteitag stehen wirtschaftliche Fragen, wie Wegfall der Lebensmittelkarten und Preissenkung der HO. Nur vereinzelt wird zur politischen Bedeutung des IV. Parteitages Stellung genommen. Ein Angestellter aus Frankfurt/Oder äußerte: »Der IV. Parteitag wird wie jeder Parteitag der Arbeiterpartei uns Überraschungen bringen. Ich bin fest im Glauben, dass der IV. Parteitag uns wieder einen Schritt näher dem Friedensvertrag bringt und den Abzug der Besatzungstruppen aus ganz Deutschland ermöglicht.«

Ein Schulleiter aus Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, äußerte: »Der IV. Parteitag wird entscheiden, ob die Lebensmittelkarten wegfallen oder nicht. Fallen sie weg, so besteht die Gefahr, dass durch den Zuzug vieler westdeutscher Bürger (auch Interzonenreisende gemeint) der Bestand der Lebensmittel nicht ausreichen wird.«

Aus Berlin wird berichtet, dass unter den Rentnern eine Antipathie gegen den Wegfall der Lebensmittelkarten besteht. Sie bringen zum Ausdruck, dass die Preise zwangsläufig steigen würden und sie sich dann wohl weniger kaufen können.

Zu Ehren des IV. Parteitages wurden uns aus Karl-Marx-Stadt Selbstverpflichtungen berichtet, wie z. B. verpflichteten sich 20 Kolleginnen der DHZ Lebensmittel in Wilischthal 1 Prozent ihres Gehaltes für das diesjährige Deutschlandtreffen8 zu spenden, eine Kollegin verpflichtete sich, ein westdeutsches Arbeiterkind auf vier Wochen in ihre Obhut zu nehmen.

Nur vereinzelt wurden uns negative Meinungsäußerungen bekannt. Ein Tischlermeister aus Eggesin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte sich anlässlich einer Sammelaktion des Friedensrates:9 »Die Sammlungen nehmen überhand. Es ist genauso wie bei Hitler, wenn nicht noch schlimmer.«

Ein Mitglied der CDU aus Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg, äußerte sich: »Die VP frisst alles weg und bekommt viel zu viel Geld.10 Die Besatzungsmächte müsste man aus Deutschland verjagen. Die Wahlen in der Sowjetunion mit einem Abschluss über 99,9 Prozent für die Regierung ist unmöglich. So etwas ist noch nie dagewesen, aber uns Deutschen kann man das ja erzählen, wir sind ja so dumm und glauben das.«11

Ein Arzt aus Eggesin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte: »Wir rüsten hier für einen Krieg. Darum gebe ich auch keinen Pfennig für die Sammlung, denn damit würde ich den Krieg unterstützen. Wir sollen erst einmal dafür sorgen, dass die KVP aus den Wäldern kommt, dass sind Soldaten und die brauchen wir nicht.«

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:12 Frankfurt/Oder 5 500, Magdeburg 5 000, Dresden 1 600, Gera 850, Karl-Marx-Stadt 75, Schwerin 600, Wismutgebiet 50. Inhalt: Hetze gegen die Regierung der DDR, gegen die SED, »freie Wahlen«.

KgU:13 Schwerin 50, Karl-Marx-Stadt 38. Inhalt: Hetze gegen den Genossen Molotow,14 Regierung der DDR, langsam arbeiten.

NTS:15 Frankfurt/Oder 2 000, Dresden 10, Potsdam 3. Inhalt: Hetze gegen SU.

CDU-Ostbüro: Frankfurt/Oder 1 000. Inhalt: Hetze gegen die Viermächtekonferenz.16

»Aktionsgemeinschaft der FDJ«:17 Frankfurt/Oder 1 700.

Der überwiegende Teil der aufgeführten Flugblätter wurde mit Ballons eingeschleust und gebündelt aufgefunden.

Im Bezirk Suhl wurden 15 000 Hetzschriften »Kleine Tribüne«18 durch ein Flugzeug abgeworfen. In Berlin wurden am 30.3.1954 in einigen Bezirken Flugblätter der KgU. Inhalt: »Freie Wahlen« und Hetzschriften »Kleine Tribüne« sichergestellt. Anzahl ist noch nicht bekannt.

Terror: Am 28.3.1954 wurde ein Instrukteur der Kreisleitung der SED von Doberan, [Bezirk] Rostock, von einem Kleinbauern niedergeschlagen.19

Antidemokratische Tätigkeit: In der Nacht vom 29. zum 30.3.1954 wurde in der Prenzlauer Allee in Berlin der Fahnenschmuck von fünf HO- und Konsumverkaufsstellen beschädigt und teilweise heruntergerissen. In derselben Nacht wurde eine schwarz-rot-goldene Fahne am Kaufhaus »Freundschaft« in Schwerin heruntergerissen. In der Nacht vom 28. zum 29.3.1954 wurde eine schwarz-rot-goldene Fahne der Konsumgenossenschaft Birkenwerder, [Bezirk] Potsdam, gestohlen, die zu Ehren des IV. Parteitages aufgestellt war.

Eine gefälschte Anweisung erhielt der VEB Grenzquell-Brauerei Wernesgrün, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt. Danach soll die Brauerei die Produktion einschränken und strukturelle Veränderungen einleiten. Als Grund hierfür wird angeführt, dass wegen Verrechnungsschwierigkeiten mit der ČSR von dort Brauereifertigerzeugnisse eingeführt werden müssen. Absender der Anweisung: Ministerium für Lebensmittelindustrie.

Folgende Hetzbriefe wurden sichergestellt: Von der »SED-Opposition«20 im Bezirk Halle 31, Schwerin einer, Potsdam einer. Vom UFJ im Bezirk Halle 11, Wismutgebiet 3. Vom SPD-Ostbüro im Bezirk Erfurt 8. Inhalt: Hetze gegen Partei und Regierung.

Vermutliche Feindtätigkeit

In der Nacht vom 25. zum 26.3.1954 wurden bei neun Einwohnern von Weimar, [Bezirk] Erfurt, die bei den staatlichen Verwaltungsorganen beschäftigt und zum Teil SED-Mitglieder sind, von unbekannten Tätern die Fenster mit Steinen eingeworfen.

Am 28.3.1954 wurde in Pößneck, [Bezirk] Gera, ein VP-Kommissar bei einer Passkontrolle von drei Personen niedergeschlagen.

Am 29.3.1954 wurde im Karl-Marx-Werk in Zwickau festgestellt, dass eine Eisenbahnschiene über der Schachtrühre der Förderanlage lag. Untersuchungen hierüber werden noch geführt.

Am 30.3.1954 brannte in Hennersdorf, [Bezirk] Dresden, die Scheune des Bürgermeisters (SED) nieder. Schaden beträgt ca. 25 000 DM. Es wird Brandstiftung vermutet.

Westberlin

Am 30.3.1954 wurden an einem Zeitungskiosk in der Nähe des Kurfürstendammes Hetzschriften in Form von »FDGB-Mitgliedsbüchern« verteilt, in denen den Werktätigen der DDR Hinweise gegeben werden, wie und welche Krankheiten sie vortäuschen können, um der Produktion fernzubleiben.21

Einschätzung der Situation

Im kleinen Umfange wird in Betrieben über die Erklärung der Sowjetregierung diskutiert, in den übrigen Bevölkerungskreisen, besonders auf dem Lande, nur sehr wenig, aber fast immer positiv.

Gegenüber den Vortagen ist heute zu erwarten, dass nach Bekanntwerden des Referates von Genossen Walter Ulbricht22 in allen Schichten der Bevölkerung der IV. Parteitag große Beachtung finden wird.23

Negative und feindliche Diskussionen wurden weiterhin in geringem Umfang geführt.

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