Leitung des VEB Leuna-Werks »Walter Ulbricht«
28. Dezember 1956
Information Nr. 396/56 – Betrifft: Leitung des VEB Leuna-Werkes »Walter Ulbricht«
Mit leitenden Mitarbeitern des Leuna-Werkes – Direktor Prof. Dr. Schirmer1 (SED), technischer Direktor Dr. Dr. Wirth2 (SED), Produktionsleiter Dr. Sundhoff3 – führten Mitarbeiter des MfS getrennte Aussprachen über die Lage des Betriebes.
Das Hauptargument, welches von allen vorgebracht wurde, war die Forderung nach bedeutend mehr Investitionsmitteln zur Modernisierung des Betriebes und Steigerung der Produktion. Im Zusammenhang damit wurden Vorwürfe gegen SED und Regierung erhoben, dass zu viele Maschinen exportiert würden, während man sie in der DDR gebrauchte [sic!]. Ferner wurde über Mangel an Fachkräften geklagt. Diese Meinung beherrscht das genannte Leitungskollektiv einschließlich des Betriebsassistenten Nitsche, wobei Sundhoff besonders aggressiv auftrat. Schirmer als Werkdirektor kann diesen Ansichten nicht überzeugend entgegentreten, weil er selbst – nach seinen Worten – von der Richtigkeit der Forderung nach höheren Investitionen überzeugt ist. Er sei – wie er weiter ausführte – der Ansicht, dass Maschinen aus Westdeutschland zur Modernisierung des Betriebes eingeführt werden müssten, um innere Betriebsreserven zu erschließen. Die Chemie würde in der DDR unterschätzt. – Zusätzliche Schwierigkeiten seien – wie er sagte – durch insbesondere qualitativ schlechte Lieferungen der Betriebe des Ministeriums für allgemeinen Maschinenbau entstanden. Schirmer bemängelte auch, dass kein Staatsfunktionär – weder die Ratsvorsitzenden der örtlichen Organe noch der Minister Dr. Winkler4 – bisher den Betrieb besucht hätten.
Wirth, (SED), der von vornherein den Wert einer Aussprache bezweifelte, weil auch bisher keine Hilfe gewährt worden wäre, erklärte, die schlechte Lage des Betriebes würde eine verstärkte Republikflucht bewirken. Unter Hinweis auf die Disproportionen zwischen Finanzmitteln, Arbeitskräften und Produktion forderte er eine Verbesserung der Materialversorgung und in erster Linie eine Erhöhung der Investitionen. Er sagte, von den vorgesehenen 75 Mio. DM Investmitteln seien dem Werk nur 35 Mio. bewilligt worden. Offensichtlich beeindruckt durch die westdeutsche Wirtschaft verneinte er die Möglichkeit, dass die DDR aus eigenen Mitteln eine hochentwickelte chemische Industrie aufbauen könnte. Während Westdeutschland in einem Jahr 1,5 Mrd. [DM] in der chemischen Industrie investiert hätte – so sagte er – waren es in der DDR von 1945 bis 1956 nur 0,3 Mrd. [DM] gewesen. Daraus folgerte er, es sei notwendig, ausländische Kapitalanleihen aufzunehmen.
Die geplanten Arbeiterkomitees5 bezeichnete er als Katastrophe, weil den Arbeitern die akademische Ausbildung fehle und die Werkleitung mit ihnen nur Zeit vergeuden müsste. Ähnlich äußerte sich auch Sundhoff, der nach Gründung der Arbeiterkomitees eine verstärkte Republikflucht voraussagte. SED und FDGB haben nach seiner Meinung im Betrieb versagt. Deshalb sollten nun Arbeiterkomitees das verlorene Vertrauen der Arbeiter wiederherstellen, aber – fuhr er fort – die Arbeiter seien schlau und ließen sich nicht so leicht fangen.
Sundhoff, der im Leitungskollektiv besonders hartnäckig auf größere Investitionen drängt, trat auch in der Aussprache am aggressivsten auf. Er lehnte grundsätzlich die Planwirtschaft ab. Die Plankommission sei Dilettantismus. Die Regierung mit bedingter Ausnahme von Dr. Winkler habe keine Ahnung von einem chemischen Großbetrieb. Die Chemie der DDR hätte den Tiefstand erreicht und an der Meinung, die Wirtschaft müsse der Politik folgen, würde die SED noch zugrunde gehen.
In diesem Zusammenhang nannte er den zweiten Fünf-Jahresplan6 einen »Wahnsinnsplan« und die Entscheidung, die Werke EKS, Calbe,7 Lauchhammer8 und die Werften aufzubauen, eine »Schnapsidee«. Im Übrigen vertrat er dieselbe Konzeption wie Wirth und äußerte, dass 1945 Delegationen aus der ČSR und anderen Ländern zu uns gekommen wären, um zu lernen. Jetzt müssten wir uns in Fragen der Modernisierung an diese Länder wenden. Sundhoff äußerte sich weiter abfällig über die Tätigkeit demokratischer Organisationen im Betrieb und über die Presse der SED, die von den Arbeitern aus der Überzeugung, doch belogen zu werden, nicht gelesen würde. Zu den konterrevolutionären Umtrieben in Ungarn befragt, erklärte er, dass sich hungernde Arbeiter erhoben hätten, und wehrte sich gegen die Tatsache, dass faschistische Elemente Provokationen organisiert hätten.9 Die Ermordung von Staatsfunktionären und Angehörigen der Sicherheitsorgane fand er ganz in Ordnung.
In einer weiteren Aussprache mit dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Leuna, Schwarz,10 erklärte dieser im Gegensatz zu früheren Äußerungen, die Intelligenz des Werkes wolle das Beste, nämlich den Betrieb auf den technisch höchsten Stand bringen. Die Gegner des Werkes, meinte er, seien unter den Arbeitern zu suchen, denn ein ehemaliger Werkangehöriger und jetziger DGB-Funktionär in Westdeutschland unterhält noch Verbindungen zu sozialdemokratischen Kreisen im Werk.