Verhalten des Genossen Grimmer – Staatliches Rundfunkkomitee
25. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 514/64 über Verhalten des 1. Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatlichen Rundfunkkomitees, Genossen Grimmer, im Zusammenhang mit Festnahmen von Mitarbeitern des Staatlichen Rundfunkkomitees und in der offiziellen Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit
Am 9.11.1963 wurde die Sekretärin des Genossen Grimmer,1 [Name 1, Vorname] wegen des dringenden Verdachts der Spionagetätigkeit festgenommen. Die gegen sie geführte Untersuchung ergab, dass die [Name 1] seit 1954 glaubhafte Kenntnis von der Spionagetätigkeit ihres Bekannten [Vorname Name 2], Diplomingenieur im Rundfunk- und Fernsehtechnischen Zentralamt, für den westdeutschen Geheimdienst hatte. In seinem Auftrage gab sie ihm mündlich wiederholt vertrauliche Informationen aus dem Staatlichen Rundfunkkomitee, u. a. etwa 25 Charakteristiken von Mitarbeitern des Staatlichen Rundfunkkomitees und Mitteilungen über geplante Dienstreisen bestimmter Mitarbeiter nach Westdeutschland, an denen der westdeutsche Geheimdienst äußerst stark interessiert war. Diese Angaben leitete [Name 2] auftragsgemäß an den Bundesnachrichtendienst weiter.
Genosse Grimmer war vor der Inhaftierung der [Name 1] von Mitarbeitern des MfS über deren geplante Festnahme unterrichtet worden. Außerdem wurde das Staatliche Rundfunkkomitee am 13.11.1963 durch ein Schreiben des Staatsanwaltes offiziell von der erfolgten Verhaftung der [Name 1] in Kenntnis gesetzt.
Nach der Verhaftung der [Name 1] zog Genosse Grimmer in verschiedenen Äußerungen die Richtigkeit der gegen sie beim MfS vorhandenen Beweise in Zweifel. In diesem Zusammenhang brachte er – zur Bestätigung seiner Ansichten – zum Ausdruck, dass er eine gute Menschenkenntnis habe und sich sehr täuschen müsste, wenn die [Name 1] eine Agentin wäre. Seine ablehnende Haltung zur Verhaftung der [Name 1] begründete er weiter damit, dass sich die [Name 1] als Genossin ganz normal verhalten habe und auch ihre unklaren politischen Fragen zum Ausdruck brachte. Sie habe nie versucht zu liebdienern, um dadurch bestimmte Informationen zu erlangen. Bezeichnend für das Verhalten des Grimmer sind weiter auch Äußerungen, »dass er lange genug im ZK tätig gewesen sei und manchen Fehler der Staatssicherheit habe korrigieren müssen«. Er befürchte, dass ihm mit der [Name 1] das Gleiche passieren könnte.
Offensichtlich aus dieser Einstellung heraus lehnte Genosse Grimmer es ab, eine für den Staatsanwalt bestimmte Beurteilung über die [Name 1] zu unterschreiben, mit der Begründung, die ganze Sache nicht zu sehr »hochzuspielen«.
Durch Aussagen der [Name 1] ist bekannt, dass das Verhalten des Genossen Grimmer ihr gegenüber oftmals sehr vertraulich war. Das sei darin zum Ausdruck gekommen, dass er Einzelheiten aus seiner privaten Sphäre mitteilte, zweideutige Witze erzählte oder solche Fragen an sie stellte, mit wem sie schlafe, ob sie nicht auch einmal einen Mann haben müsste usw. (Während der Untersuchungen bezeichnete die [Name 1] den Genossen Grimmer als »mein Regi« – Reginald ist sein Vorname.)
Dem MfS liegen weiter Hinweise vor, wonach Genosse Grimmer mit vertraulichen Materialien wiederholt leichtfertig umgegangen ist. Dadurch erhielt die [Name 1] von internen Vorgängen Kenntnis, wie z. B. über eine geheim zu haltende Kaderanalyse vom Radio Berlin International mit der Einschätzung der politischen Vergangenheit, der politischen Zuverlässigkeit und der moralischen Eigenschaften der einzelnen Mitarbeiter sowie über Aussprachen mit der Schauspielerin Irmgard Düren2 hinsichtlich einer von ihr beabsichtigten Reise ins kapitalistische Ausland.
Am 5.12.1963 wurde Genosse Grimmer von Mitarbeitern des MfS davon in Kenntnis gesetzt, dass der Sportreporter Hempel3 von dem beim MfS wegen Spionage und Hetze einsitzenden freiberuflichen Sportjournalisten [Name 3, Vorname] belastet wird. [Name 3] gibt an, dass Hempel seine Dienstreisen nach Westdeutschland und in das kapitalistische Ausland dazu ausnutzt, um mit republikflüchtigen Bekannten und anderen Personen zusammenzutreffen, so u. a. mit den ehemaligen Fußballspielern des ASK Vorwärts Assmy4 und Fritzsche5 sowie mit dem Chefredakteur der Westberliner »Nachtdepesche« und Mitarbeiter des »Ostbüros der SPD« Werner Nieke.6
Grimmer erklärte daraufhin den Mitarbeitern des MfS, Hempel nie mehr ins Ausland fahren zu lassen. In der Aussprache mit Hempel wollte er ihm vorschlagen, zu dieser Angelegenheit eine Stellungnahme zu schreiben.
Am 7.12.1963 übergab Genosse Grimmer dem MfS eine schriftliche Erklärung des Hempel. Über die vorangegangene Aussprache mit ihm erklärte er, dass Hempel alles bestreitet und einen Eid darauf leisten wolle, niemals mit republikflüchtigen Sportlern im Westen zusammengetroffen zu sein. In einer später mit Hempel durchgeführten zeugenschaftlichen Vernehmung über die Aussagen des [Name 3] gab dieser an, über die gegen ihn ausgesprochenen Belastungen vom Genossen Grimmer falsch informiert worden zu sein. Hempel erklärte, Genosse Grimmer habe ihm mitgeteilt, dass er sich nach Angaben von [Name 3] mehrfach in Westberlin und Westdeutschland mit republikflüchtigen Sportlern getroffen und außerdem versucht habe, Sportler zum illegalen Verlassen der DDR zu verleiten (für die letztere Anschuldigung gibt es keinerlei Hinweise; Genosse Grimmer hat derartige Angaben vom MfS auch nicht erhalten). Hempel sagt weiter aus, aufgrund der schwerwiegenden Beschuldigungen durch Grimmer, Versuche unternommen zu haben, Sportler der DDR zum illegalen Verlassen der DDR zu verleiten, habe er die in Wirklichkeit zu Recht bestehenden Aussagen über Treffen mit den genannten Personen bewusst abgestritten.
Wie dem MfS weiter bekannt wurde, äußerte sich Genosse Grimmer in einer Komiteesitzung am 18.12.1964 vor allen anwesenden Komiteemitgliedern wie folgt zu diesen Vorgängen um den Sportreporter Hempel: Das MfS sei vor längerer Zeit zu ihm gekommen und habe ihm mitgeteilt, dass Hempel nicht mehr in das kapitalistische Ausland fahren solle. Auf seine Frage, wie es mit Reisen in das sozialistische Ausland aussehe, sei ihm die Entscheidung überlassen worden. Er habe daraufhin angeordnet, dass Hempel auch nicht mehr in das sozialistische Ausland fahren dürfe. Der Grund dieser Verfügung sei darin zu sehen, dass der Sportjournalist inhaftiert wurde und in der Vernehmung ausgesagt habe, Hempel habe sich in Westdeutschland mit republikflüchtigen Sportlern getroffen. Nachdem Hempel und der Leiter der Sportredaktion, Genosse Kupfer,7 zu ihm gekommen seien, habe er Hempel den Grund gesagt. Hempel hätte alles als Lüge bezeichnet. Hempel hätte daraufhin mit dem Stellvertretenden Minister für Staatssicherheit auf dem Dynamo-Sportplatz gesprochen, der ihm eine kurzfristige Klärung zugesagt habe (ein derartiges Gespräch hat nicht stattgefunden). Inzwischen seien nun Wochen vergangen und nichts habe sich in der Angelegenheit getan. Das MfS könne nicht walten wie es wolle, denn auch das Komitee sei in Misskredit gebracht worden. Immer mehr setze sich bei ihm die Meinung durch, dass Hempel Unrecht geschehe.
Genosse Grimmer erklärte in diesem Zusammenhang weiter, dass er sich das mit Hempel nicht länger gefallen lasse und sich beschweren werde. So könne man nicht mit Menschen arbeiten. Durch die Verhaftung der [Name 1] sei er gehandicapt und könne deshalb nicht persönlich zum Genossen Mielke gehen. Deshalb wolle er Prof. Kaul8 zu ihm schicken. Wenn das nicht helfe, werde er zum Genossen Honecker gehen, den er schon persönlich kenne und der für derartige Fragen zuständig sei. Für ihn sei es eine Frage des Prinzips, »denn wenn er sich die Handlungsweise des MfS gefallen lasse, wären wir dort, wo wir früher waren«.
Am 20.5.1964 wurde vom MfS der Redakteur beim Staatlichen Rundfunkkomitee (Radio DDR – Redaktion Zeitgeschehen) [Name 4, Vorname] wegen Vorbereitung zur Republikflucht festgenommen. [Name 4] unterhielt seit Ende 1961 Verbindungen zu einer Westberliner Schleusergruppe und hatte mit Kurieren dieser Gruppe wiederholt Zusammenkünfte, bei denen Möglichkeiten seiner Ausschleusung besprochen wurden. Er hatte außerdem Kenntnis von den Fluchtvorbereitungen und der 1964 erfolgten Ausschleusung des Prof. Katner9 und seiner Familie aus Leipzig.
Von der Festnahme des [Name 4] ist Genosse Grimmer am 20.5.1964 offiziell vom MfS in Kenntnis gesetzt und unmittelbar danach darüber informiert worden, dass seine Verhaftung wegen Vorbereitung zur Republikflucht erfolgte. Das Staatliche Rundfunkkomitee erhielt außerdem durch den Generalstaatsanwalt eine Mitteilung über die Inhaftierung des [Name 4].
Trotz dieser Kenntnis trat Genosse Grimmer den im Staatlichen Rundfunkkomitee kursierenden Gerüchten über die Verhaftung [Name 4] nicht mit der nötigen Konsequenz entgegen. Er äußerte sinngemäß, dass sich schon noch herausstellen werde, »ob an der ganzen Sache etwas dran sei«. Er vertrat die Meinung, dass er den Gerüchten nicht wirksam entgegentreten könne, da er vom MfS über die Gründe der Inhaftierung ungenügend unterrichtet worden sei.
Nach vorliegenden Informationen erklärte Genosse Grimmer in der Komiteesitzung am 9.6.1964 vor allen Komiteemitgliedern, dass er die Genossen des MfS »überrumpelt« habe. Vom ZK der SED hätte er erfahren, dass es sich im Fall [Name 4] um ein Staatsverbrechen handelt, während die Genossen des MfS von einem Passvergehen gesprochen hätten (wie bereits erwähnt, wurden derartige Angaben nicht gemacht, sondern eindeutig erklärt, dass [Name 4] wegen Vorbereitung zur Republikflucht inhaftiert wurde).
Nachdem Genosse Grimmer am 20.5.1964 von der Verhaftung des [Name 4] informiert worden war, beauftragte er seine persönliche Referentin mit der Beschaffung der Kaderakte. Da die Kaderakte das MfS am 16.5.1964 durch den Kaderleiter zur Einsichtnahme erhalten hatte, rief Genosse Grimmer den Kaderleiter, Genossen Lange, zu sich. Genosse Grimmer forderte in einem äußerst erregten Zustand von Genossen Lange Rechenschaft, weshalb er nicht davon unterrichtet worden sei, dass das MfS die Akte geholt habe. Auf den Hinweis, dass das MfS und andere Institutionen oft Kaderunterlagen anfordern und er darin nichts Besonderes sehe, erhielt Genosse Lange die Anweisung, dem Genossen Grimmer alle drei Tage vorzulegen, welche Akten vom MfS angefordert wurden. Später erweiterte er diese Anweisung auch auf Aktenanforderungen durch andere Organe wie Ministerrat, Volkspolizei usw. sowie auf eine sofortige Informierung bei Anforderungen von Akten durch das MfS.
Das bei den o. g. Vorgängen charakterisierte Verhalten des Genossen Grimmer zur Tätigkeit des MfS zeigt sich auch bei anderen Gelegenheiten in der ständigen offiziellen Zusammenarbeit mit ihm. Aus seinem gesamten Auftreten ist ersichtlich, dass er den zuständigen Mitarbeitern des MfS Misstrauen entgegenbringt und in einer der Tätigkeit des MfS abträglichen Form ihre Qualifikation anzweifelt. In einer Kollegiumssitzung am 10.3.1964 z. B. informierte Genosse Grimmer die anwesenden Komiteemitglieder über ein Gespräch mit dem Minister für Staatssicherheit am 9.3.1964, bei dem angeblich Übereinstimmung erzielt worden sei, dass die für das Staatliche Rundfunkkomitee zuständigen Mitarbeiter des MfS für diese Arbeit nicht die entsprechende Qualifikation besitzen und durch andere Mitarbeiter ersetzt werden (dieses Gespräch hat stattgefunden, aber nicht den von Genossen Grimmer angegebenen Inhalt gehabt). Zur »Beweisführung« führte Genosse Grimmer an, dass die Varianten zur Überwachung bzw. Festnahme der ehemaligen Sekretärin [Name 1] durch die Mitarbeiter des MfS mehrmals geändert worden seien. Ausführlich ließ er sich vor allen Komiteemitgliedern darüber aus, welche Legende für die Festnahme der [Name 1] die Mitarbeiter des MfS mit ihm vereinbart hatten und welche Maßnahmen er treffen sollte, damit die [Name 1] und eventuell Mittäter nicht vorher gewarnt werden. Diese Darlegungen über die aus berechtigten operativen Gründen erfolgten Veränderungen des Planes zur Festnahme der [Name 1] erfolgten in einer Form, die die Tätigkeit der Mitarbeiter des MfS lächerlich erscheinen ließ.
Diese Verhaltensweise zeigt Genosse Grimmer auch bei anderen Anlässen, bei denen über die Tätigkeit des MfS und ihre Mitarbeiter gesprochen wird.