Vorkommnisse im Zusammenhang mit Bundestagssitzung in Westberlin (3)
9. April 1965
Einzelinformation Nr. 333/65 über Vorkommnisse im Zusammenhang mit der provokatorischen Bundestagssitzung in Westberlin
Am 8.4.1965, gegen 13.40 Uhr, versuchte der Angestellte des Bundestages, Sachbearbeiter für Gesetzesannahme, [Vorname Name 1], geb. [Tag, Monat] 1926, wohnhaft in Düren, über die Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße in die Hauptstadt der DDR einzureisen. [Name 1] hatte angeblich die Absicht, sich die Hauptstadt der DDR anzusehen. Die ihm vorgelegte Erklärung1 lehnte er mit der »Begründung« ab, »dass er seine Grundsätze hätte«.
Nachträglich wurde bekannt, dass am 6.4.1965, gegen 15.00 Uhr, am westdeutschen Kontrollpunkt Ludwigstadt die Bayerische Grenzpolizei den FDJ-Mitgliedern Kurt Zahn,2 Jena, und Hans-Dieter Fritschler,3 Hildburghausen, die Einreise nach Westdeutschland verweigerte. Vor ihrer Zurückweisung, die nach Erklärungen der Bayerischen Grenzpolizisten auf Anweisung höherer Stellen Westdeutschlands und im Zusammenhang mit den Maßnahmen der DDR gegen die Bundestagsabgeordneten erfolgte, wurden beide FDJ-Mitglieder einer schikanösen Kontrolle unterzogen.4
Am westdeutschen Grenzübergang Herleshausen wurde am 6.4.1965, gegen 7.30 Uhr, ein Lkw des VEB Kraftverkehr Dresden von den westdeutschen Zollbehörden an der Weiterfahrt nach Belgien gehindert. Zur Begründung wurde angeführt, dass der preismäßige Wert der für eine belgische Firma bestimmten Gussmuffen auf den Ausfuhrmeldungen nicht vermerkt sei. Bisher ist das Fehlen dieser Angaben auf den Ausfuhrmeldungen von den westdeutschen Zollorganen nicht beanstandet worden.
Nach einer noch unbestätigten Information würden auch alle DDR-Fahrzeuge, die sich im Hamburger Hafen befinden, von den westdeutschen Behörden nicht abgefertigt werden. Angeblich würden sich die Hamburger Hafenarbeiter weigern, die Fahrzeuge zu entladen. Am 8.4.1965 sollen deshalb zehn DDR-Fahrzeuge vor der Halle 23 gestanden haben.
Weiterhin sollen auch die bisher bevorzugt abgefertigten Fahrzeuge der ČSSR in Lauenburg gestoppt und an der Weiterfahrt gehindert worden sein. (Entsprechende Maßnahmen zur Überprüfung wurden eingeleitet.)
Am 7.4.1965, gegen 1.00 Uhr, wurde von der Watenstedt-Salzgitter AG die Gaszufuhr in die DDR gesperrt. Begründet wurde diese Maßnahmen mit notwendigen Reparaturarbeiten und dadurch auftretenden Produktionsschwierigkeiten im westdeutschen Gasnetz. Während sonst zu anderen Anlässen der Gasdruck vor der Einstellung der Einspeisung absank, war das diesmal nicht zu verzeichnen. Es wird eingeschätzt, dass die Sperrung der Gaszufuhr in provokatorischer Absicht erfolgte. Diese Meinung wird dadurch erhärtet, dass die planmäßige Einspeisung von Westdeutschland nach ca. acht Stunden Unterbrechung wieder aufgenommen wurde, nachdem in einem Telefongespräch dem westdeutschen Vertragspartner angedroht wurde, unsererseits die Gaslieferungen nach Westberlin zu sperren.
Die Abwicklung des Reiseverkehrs von und nach Westberlin verlief am 8.4.1965 – mit Ausnahme der Stauungen durch die zeitweiligen Sperrungen der Verkehrswege – im Wesentlichen normal. Die längsten Wartezeiten ergaben sich für Lkw in Horst mit 30 bis 34 Stunden und in Marienborn mit 20 bis 25 Stunden.
Nach vorliegenden Informationen werden durch den Westzoll am West KPP Helmstedt leicht verderbliche Warentransporte bevorzugt abgefertigt. Während die übrigen Fahrzeuge bis zu 20 Stunden Standzeit vor dem westdeutschen Kontrollobjekt haben, betragen die Standzeiten bei Fahrzeugen mit leicht verderblichen Waren ca. 2 bis 4 Stunden. Im Pkw-Verkehr beliefen sich die Wartzeiten in Marienborn auf maximal neun Stunden und in Horst auf zwei Stunden.
Durch Sperrungen auf den Wasserstraßen haben sich am 8.4.1965 die gestauten Schiffe auf insgesamt 254 erhöht, davon 108 aus Westdeutschland, 28 aus der ČSSR, 1 aus Polen und 117 von der Deutschen Binnenreederei. Wegen Überfüllung in Magdeburg/Rothensee werden seit dem 8.4.1965 westdeutsche Schiffe aus Richtung Mittelland-Kanal bereits in Haldensleben gestoppt.
In der Nacht vom 7. zum 8.4.1965 wurden bei Blankenfelde (Staatsgrenze nach Westberlin) die pioniertechnischen Grenzsicherungsanlagen auf einer Länge von 10 m durch unbekannte Täter von Westberlin aus zerstört. Am 8.4.1965, gegen 10.55 Uhr, erschien im Grenzabschnitt Blankenfelde ein VW-Bus, pol. Kennzeichen B-143, mit vier Westberliner Zöllnern, die ihre Waffen auf die dort mit Instandsetzungsarbeiten an einer Drahtsperre beschäftigten Pioniere (44. GR) richteten. Am 9.4.1965, gegen 5.00 Uhr, verletzte im Raum Staaken ein Funkstreifenwagen der Westberliner Polizei (pol. Kennz. B-3905) die Staatsgrenze der DDR durch zweimaliges provokatorisches Überfahren um jeweils 3 bis 4 m.
Ergänzend zu den bisherigen Informationen über die Alarmbereitschaft der Streitkräfte der Westmächte in Westberlin wurde noch bekannt, dass auch den Familienangehörigen der britischen Militärangehörigen empfohlen wurde, die Wohnungen nur in dringenden Fällen zu verlassen. Weiter wurde festgestellt, dass die Militärfahrzeuge der westlichen Besatzungsmächte im Gegensatz zur bisherigen Praxis in allen Sektoren verstärkt in Erscheinung treten.
Im Raum Hennigsdorf/Hohen Neuendorf/Groß Glienicke war in den letzten 48 Stunden eine verstärkte Streifentätigkeit französischer und englischer Besatzer sowie des Westberliner Zolls festzustellen, wobei Fotoaufnahmen und Karteneintragungen durchgeführt wurden.
Am 8.4.1965, gegen 11.40 Uhr, erschien auf der Brücke der Einheit in Potsdam ein US-Kübelwagen mit drei Mann Besatzung, die ihr MG auf den DDR-Kontrollpunkt richteten.
Am 8.4.1965, gegen 20.00 Uhr, wurde auf dem S-Bahnhof Westkreuz auf einen Schaukasten der Westberliner Zeitung »Die Wahrheit« eine Hetzlosung gegen die DDR aufgeklebt.
Am 8.4.1965 kam es erneut zu provokatorischen Fahrten von Fahrzeugen der westlichen Militärverbindungsmissionen (MVM), wobei verstärkt Fahrten über einen Zeitraum von acht Stunden hinaus durchgeführt wurden. Gegen 15.50 Uhr befuhr das Fahrzeug Nr. 26 der US-MVM mit 180 km/h die Autobahn in Richtung Marienborn. Als es von Posten der Sowjetarmee gestellt werden sollte, überfuhr es den Grünstreifen und entfernte sich wieder in Richtung Berliner Ring, wo es an der Abfahrt Glindow wegen zu hoher Geschwindigkeit ins Schleudern geriet und verunglückte. Die Insassen wurden mit Fahrzeug der sowjetischen Kommandantur in Potsdam zugeführt und von dort gegen 21.00 Uhr entlassen. Gegen 18.00 Uhr wurde das Fahrzeug Nr. 33 der französischen MVM im zeitweiligen Sperrgebiet Michendorf gestellt. Das Fahrzeug Nr. 31 der französischen MVM wurde an der Abfahrt Glindow wegen überhöhter Geschwindigkeit gestellt. Beide Fahrzeuge wurden ebenfalls der sowjetischen Kommandantur in Potsdam zugeführt. Das Fahrzeug Nr. 22 der US-MVM überfuhr mit überhöhter Geschwindigkeit in Potsdam bei roter Ampel eine Kreuzung und gefährdete dabei Fußgänger. Das Fahrzeug konnte entkommen.
Im Zusammenhang mit der am 7.4.1965 in Westberlin stattgefundenen Kabinetts- und Bundestagssitzung und über die von der Regierung der DDR durchgeführten Maßnahmen wurden aus Westberlin weitere Einzelheiten bekannt:
Vom Ältestenrat des Bundestages war ursprünglich festgelegt worden, dass Bürgermeister Brandt5 vor dem Parlament eine Erklärung abgeben solle. Der Ältestenrat setzte sich für die von Brandt beabsichtigte Erklärung ein, da sie keine scharfmacherischen Töne enthalten habe. Am Morgen des 7.4.1965 sei aber Barzel6 mit der Forderung an Gerstenmaier7 herangetreten, dass Brandt unter keinen Umständen sprechen dürfe. Eine Rede Brandts würde nach seiner Auffassung die SPD im Wahlkampf begünstigen.
Barzel habe Gerstenmaier darauf hingewiesen, dass im Falle des Auftritts Brandts auch Erhard8 sprechen müsse. Auch die FDP würde dann eine ähnliche Forderung stellen. Ein Auftreten schließlich aller Fraktionsvorsitzenden sei gefährlich, da sich daraus eine außenpolitische Debatte hätte entwickeln können. In Westberlin müsse unbedingt eine Anhäufung von »politischem Explosivstoff« vermieden werden. Gerstenmaier habe daraufhin Brandt veranlasst, von der Abgabe seiner Erklärung Abstand zu nehmen. Im Interesse seines guten Einvernehmens mit Lübke9 und Gerstenmaier, die in gewisser Hinsicht zu einer großen Koalition mit der SPD nach den Bundestagswahlen bereit seien, sei Brandt nach seinem Gespräch mit Gerstenmaier von seiner Absicht zurückgetreten.10
In Kreisen leitender Beamter der Bundesregierung wird eingeschätzt, dass sich nach Beendigung der Bundestagssitzung die Situation auf den Zufahrtsstraßen von und nach Westberlin wieder normalisieren wird. Aber auch nach erfolgter Normalisierung der Dinge könne übersehen werden, dass die DDR nachdrücklich für sich das Recht in Anspruch genommen hat, Behinderungen im Verkehr nach Westberlin auf dem Landwege vorzunehmen und unerwünschten Personen das Recht auf Durchfahrt zu verweigern. Es wurde mit Bedauern eingeschätzt, dass die Alliierten diese Entwicklung stillschweigend hingenommen haben.
In Kreisen der westlichen Militärkommandanten in Westberlin wird ebenfalls nach Beendigung der Bundestagssitzung mit einer baldigen Normalisierung der Lage gerechnet. Sollten allerdings auch nach Beendigung der Truppenübungen in der DDR die Zufahrtswege von und nach Westberlin weiterhin zeitweise blockiert werden, würden sich die Westmächte zu entsprechenden Maßnahmen veranlasst sehen. Sie würden sich keineswegs mit einer Fortsetzung der gegenwärtigen Beschränkungen abfinden. Zurzeit gibt es keine Anzeichen bei den westlichen Militäreinrichtungen in Westberlin, die auf die Vorbereitung bestimmter Maßnahmen schließen lassen.
Der ehemalige GdP-Vorsitzende, v. Heinitz,11 jetzt CDU-Mitglied, bezeichnete die Bundestagssitzung in Westberlin als Schildbürgerstreich, mit dem für den Westen keine Erfolge verbucht werden können. Die Bundesregierung solle nach seiner Auffassung dafür eintreten, dass Westberlin völkerrechtlich zu einem Bestandteil der Bundesrepublik erhoben wird oder sie solle künftig derartige politische Kindereien unterlassen.
In zahlreichen Westberliner Betrieben waren die Kabinetts- und Bundestagssitzung und die von der DDR eingeleiteten Maßnahmen Gegenstand zum Teil heftiger Diskussionen. Während einerseits das Recht Bonns auf Tagungen in Westberlin abgelehnt wurde, sprachen sich zahlreiche Westberliner für derartige Veranstaltungen aus, da Westberlin nach ihrer Auffassung politisch und ökonomisch Bestandteil der Bundesrepublik sei. Andererseits wurden Befürchtungen geäußert, dass die Regierung der DDR als Gegenmaßnahme eine Kündigung des Passierscheinabkommens12 aussprechen könnte. Einige leitende Angestellte Westberliner Betriebe bezeichneten die Bundestagssitzung als Schritt Bonns gegen eine Annäherung beider Teile Deutschlands. Nach ihrer Auffassung sei es vernünftiger, wenn sich die Bundesregierung über das Passierscheinabkommen hinaus für weitere Erleichterungen im Verkehr zwischen beiden deutschen Staaten einsetzen würde und es auf keine Verschärfung der Situation ankommen lasse. Die Bundestagssitzung stelle auf alle Fälle eine Gefährdung des Passierscheinabkommens dar.
In SPD-Kreisen findet das Durchreiseverbot Willy Brandts durch die DDR wenig Verständnis. In breiten Kreisen der Bevölkerung Westberlins setzt sich die Auffassung durch, dass nach Beendigung der Bundestagssitzung in Westberlin in spätestens einer Woche wieder Ruhe eintreten würde. Innerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes wurde provokatorisch gefordert, dass die USA in Westberlin ebenso konsequent für die Sache des Westens wie in Vietnam eintreten sollten. Andererseits wurde betont, dass Bonn durch seine Anwesenheit wieder einmal die überholte Hallstein-Doktrin neu beleben wollte. Die Reaktion der DDR sei genau einkalkuliert worden.
Ergänzend zur Abwicklung der provokatorischen Bundestagssitzung wurde noch bekannt, dass es sich bei den vor der Kongresshalle zur »Begrüßung« versammelten ca. 250 Personen, meist Jugendliche, hauptsächlich um Westdeutsche handelte. U. a. war eine 32 Personen umfassende Jugendgruppe des Christlichen Vereins Junger Männer aus Ansbach, die in Westberlin weilte, dorthin geschickt worden. Weitere anwesende Gruppen von Jugendlichen aus Westdeutschland diskutierten, »so schnell kommen wir nicht wieder nach Westberlin, da man hier wegen der Knallerei seines eigenen Lebens nicht mehr sicher ist«.