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Außerordentliche Sitzung der ev. Kirchenleitung Berlin-Brandenburg

6. September 1968
Einzelinformation Nr. 1002/68 über eine außerordentliche Sitzung der evangelischen Kirchenleitung Berlin-Brandenburg in der DDR am 5. September 1968

Dem MfS wurde zuverlässig bekannt, dass am 5.9.1968 die evangelische Kirchenleitung Berlin-Brandenburg in der DDR in Berlin, Neue Grünstraße 19, zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentrat. (Zum Bereich der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg in der DDR gehören die Bezirke Potsdam, Frankfurt, Cottbus und die Hauptstadt der DDR.)

Von den 16 Mitgliedern der Kirchenleitung sollen nach dem MfS vorliegenden Hinweisen folgende an der Sitzung teilgenommen haben:

  • 1.

    Bischof Schönherr1/Eberswalde

  • 2.

    Propst Ringhandt2/Berlin

  • 3.

    Präses der Synode Berlin-Brandenburg und Superintendent Figur3/Berlin

  • 4.

    Konsistorialpräsident Kohlbach4 (Vertreter für Konsistorialpräsident Hagemeyer5/Berlin)

  • 5.

    Generalsuperintendent Schmitt6/Berlin

  • 6.

    Generalsuperintendent Jacob7/Cottbus

  • 7.

    Vizepräses der Synode Burkhardt8/Berlin

  • 8.

    Generalsuperintendent Lahr9/Potsdam

  • 9.

    Pfarrer Dr. Pietz10/Berlin

  • 10.

    Superintendent Steinlein11/Finsterwalde

  • 11.

    Pfarrer Schulz/Drehna

  • 12.

    Pfarrer Merker/Rangsdorf

Haupttagesordnungspunkt war die Abfassung eines Briefes an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen in der ČSSR.

Die unter Vorsitz von Bischof Schönherr stehende Sitzung wurde von diesem mit einer Erklärung eröffnet. Schönherr berichtete u. a. über eine »sehr harte« Aussprache mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Seigewasser.12 Dieser habe ihm eine komplizierte Frage gestellt. Schönherr sollte sagen, was die Kirchenleitung hinsichtlich der ČSSR-Ereignisse plane. Er habe jedoch die Frage geschickt abfangen können und mitgeteilt, dass am Donnerstag eine Sitzung der Kirchenleitung stattfinde. Da viele Pfarrer an die Kirchenleitung hinsichtlich der ČSSR-Ereignisse Fragen stellen würden, müsse die Kirchenleitung Stellung nehmen. Geschehe dies nicht, dann könnten einzelne Pfarrer selbst öffentlich Meinungen äußern, die »über das Ziel hinausschießen« würden und unerwünscht wären.

Zu dem Brief an die »tschechischen Brüder« führte Schönherr aus, dass er zu dem Schluss gekommen sei, einige Formulierungen im Entwurf seien zu »hart« gewesen. Er habe persönlich eine Überarbeitung vorgenommen, um die »Spitzen« zu beseitigen. Er verlas daraufhin den Brief (siehe Anlage 1) und bat um Zustimmung der Leitung. Weiterhin empfahl Schönherr, diesen Brief vertraulich zu behandeln und nicht am kommenden Sonntag von den Kanzeln zu verlesen.

Die anschließende Diskussion ergab Zustimmung zu dem Brief (mit Ausnahme von Präses Figur). (Wie dieser Brief in die ČSSR gelangen soll, wurde nicht erörtert.) Der Vorschlag Schönherrs, diesen Brief nicht von den Kanzeln zu verlesen, wurde einheitlich abgelehnt. Im Ergebnis der Diskussion wurde einstimmig beschlossen, den Brief zusammen mit einem Anschreiben an die Pfarrer (siehe Anlage 2) zu vervielfältigen und über die Superintendenten auszugeben. Konsistorialrat Stolpe13 schlug vor, »zu gegebener Zeit« auch dem Staatssekretär für Kirchenfragen ein Exemplar des Briefes zu übermitteln.

Die Verteilung an die Superintendenten und Pfarrer soll am 6./7.9.1968 erfolgen.

Zweiter Tagesordnungspunkt der Sitzung waren Fragen des Kirchentages in Berlin.

Im Interesse der Sicherheit der Quellen darf keine publizistische Auswertung dieser Information erfolgen.

2 Anlagen

Anlage 1 zur Information Nr. 1002/68

[Brief an die Kirchen der ČSSR]

Evangelische Kirchenleitung | Berlin-Brandenburg | 02 Berlin, den 5.9.1968 | Neue Grünstraße 19

An die | im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen | in der ČSSR | Prag/ČSSR | Jungmannova 9

Liebe Brüder! | In diesen für Euer Volk und Land so schweren Tagen sind wir Christen aus den Gemeinden unserer Berlin-Brandenburgischen Kirche mit unseren Gedanken und mit unserer Fürbitte bei Euch. Wir haben die Stunden gemeinsamen Bekennens und Anbetens auf ökumenischen Tagungen und gelegentlich vieler persönlicher Begegnungen nicht vergessen. Wir leiden mit Euch darunter, dass noch immer militärische Mittel eingesetzt werden, um politische Fragen zu lösen. Wir danken es auch Eurer Besonnenheit und Festigkeit, dass es zu keinem größeren Blutvergießen gekommen ist, und hoffen, dass es auch hinfort nicht dazu kommt.

Wir wissen und verstehen, dass es Euch besonders verletzt hat, dass unter den einrückenden Truppen Deutsche und auch Christen gewesen sind. Wir hoffen, dass im Laufe der kommenden Verhandlungen feste Termine für den Abzug der Truppen vereinbart werden. Wir beten, dass die beteiligten Regierungen rechte Entscheidungen treffen, die dem Frieden und der Freiheit Eures Volkes und damit auch dem Frieden der Welt dienen. Wir beten für die Vollmacht Eurer Verkündigung, dass Ihr in dieser Zeit das Wort des Trostes und der Mahnung findet, dessen Eure Gemeinden bedürfen.

Wir rufen in diesen für unsere brüderliche Gemeinschaft so belastenden Tagen zum Herren: »Hilf du uns, Gott, unser Helfer, um deines Namen Ehre willen. Errette uns und vergib uns unsere Sünden um deines Namen willen« (Psalm 79,9 – Losung der Brüdergemeinde vom 21.8.1968).

Euch im Glauben verbunden | Evangelische Kirchenleitung | Berlin-Brandenburg | gez. D. Schönherr

Anlage 2 zur Information Nr. 1002/68

[Anschreiben an die Pfarrer]

Evangelische Kirchenleitung | Berlin-Brandenburg | K. Ia 2514/68 | 102 Berlin, d. 5.9.68 | Neue Grünstraße 19

An | alle Pfarrer, Pastoren und Prediger | der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg

Liebe Brüder und Schwestern! | Die Kirchenleitung hat beschlossen, Ihnen den beigefügten Brief an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen in der ČSSR mit der dringenden Bitte um eine umfassende Information der Gemeinden zuzusenden. Dabei empfiehlt sie, ihn im nächsten Gottesdienst im Wortlaut bekanntzugeben.

Die Erläuterung des Briefes könnte etwa folgendermaßen geschehen:

  • Unter dem Eindruck der Ereignisse, von denen die Völker der ČSSR seit dem 21.8.1968 betroffen wurden, hat die Kirchenleitung aus ihrer Sitzung vom 5.9. heraus einen Brief an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen in der ČSSR gerichtet.

  • Die Kirchenleitung hält es für ihre Pflicht, ihre Gemeinden hiervon in Kenntnis zu setzen, zumal aus den Gemeinden viele Stimmen an sie gelangt sind, die einen derartigen Schritt nahelegten.

  • Die Kirchenleitung verbindet mit der Bekanntgabe des Briefes den Aufruf, in der konkreten Fürbitte für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt nicht müde zu werden. Zugleich empfiehlt sie, diesen Brief daraufhin durchzuarbeiten, ob er der Verantwortung des Christen für den Frieden in sachgemäßer Weise nachkommt.

Wir verstehen unseren Brief als eine konkrete Interpretation der beiden Verse aus unserem Predigttext: 1. Joh. 4, 11 + 12.14

Ihr | gez. D. Schönherr

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