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Verbreitung selbstgefertigter Hetzschriften durch Studenten in Leipzig

28. Mai 1968
Einzelinformation Nr. 577/68 über die Verbreitung selbstgefertigter Hetzschriften durch zwei Studenten der Theologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig

Im Verlaufe der Aufklärung der in Vorbereitung des Volksentscheides1 vom 4.4. bis 6.4.1968 erfolgten Verbreitung von Hetzschriften im Stadtgebiet von Leipzig, die sich gegen die Annahme einer sozialistischen Verfassung2 richteten, wurden am 23. Mai 1968 durch das MfS die Studenten der Theologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig [Name, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1948 in Leipzig, wohnhaft 701 Leipzig, [Straße, Nr.], und Hassenrück, Johannes, geboren am [Tag, Monat] 1946 in Frankenberg, wohnhaft 701 Leipzig, [Straße, Nr.], festgenommen. Gegen die o. G. wurde Haftbefehl gemäß §§ 19 StEG3 und 47 StGB4 erlassen.

Nach den bisherigen Untersuchungen hat die [Name] am 4.4.1968, gegen 23.00 Uhr, während eines Telefonats mit Hassenrück in einer Telefonzelle der Innenstadt Leipzigs unter dem Telefonbuch ca. 30 Hetzschriften mit dem Text »Nein oder Ja, nur nach dem Gewissen« gefunden. Davon hat die [Name] nach eigenen Angaben zum Zwecke der Verbreitung ca. zehn Stück an sich genommen und auf dem Nachhauseweg verbreitet.

Aufgrund ihrer gegen die sozialistische Verfassung gerichteten Einstellung entschloss sich die [Name] nach der Verbreitung der gefundenen Hetzschriften und angeregt durch diese, in der gleichen Nacht in der elterlichen Wohnung ebenfalls Hetzschriften herzustellen. Mithilfe eines selbstgefertigten Stempels sowie eines Kugelschreibers stellte sie 150 Hetzschriften in der Größe A6, die praktisch Nein-Stimmen darstellten, her.

Am 5.4.1968, zwischen 7.00 Uhr und 8.00 Uhr, hat die [Name] auf dem Wege zur Fakultät ca. 20 derartige Hetzflugblätter durch Einwerfen in Hausbriefkästen verbreitet.

Am gleichen Tage informierte die [Name] den Hassenrück über ihre Tat, worauf dieser erklärte, die restlichen Hetzschriften selbst zu verbreiten.

[Name] und H. haben daraufhin in einer Vorlesungspause gemeinsam handelnd vorgenannte Hetzschriften in Leipzig durch Einwerfen in Briefkästen verbreitet. Die [Name] verbreitete im Verlaufe dieser Aktion auch die restlichen Hetzschriften, die von ihr am Vortage gefunden worden waren.

Am 6.4.1968 fertigte die [Name] erneut ein auf Zeichenpapier geschriebenes Hetzflugblatt, Größe A4, mit dem Text »Ja und Nein, nur nach dem Gewissen«, welches sie am gleichen Tage an der Wandzeitung der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft im Abstimmungslokal in der Löhrstraße anbrachte.

Als Motiv ihrer Handlungen geben die Beschuldigten an, dass sie mit den Hetzschriften andere Bürger aufwiegeln wollten, beim Volksentscheid mit »Nein« zu stimmen. Deshalb waren sie auch bemüht, die Hetzschriften vorwiegend solchen Personen zuzustellen, die eine schwankende politische Haltung gegenüber den Verhältnissen in der DDR einnehmen. Es handelt sich dabei u. a. um Lehrkräfte und Studenten der Theologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität sowie um Künstler.

Durch die Untersuchungen wurde weiter bekannt, dass sie auch bereits Schritte unternommen hatten, mit Abgeordneten zu sprechen bzw. an diese zu schreiben, um gegen den Abriss der Universitätskirche5 zu »protestieren«. Die Beschuldigten gehören dem reaktionären, von der Landeskirche Sachsen beeinflussten Teil der Studenten der Theologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität an.

Die [Name] legte 1967 das Abitur ab und begann im gleichen Jahr – entgegen dem Willen der Eltern – das Theologiestudium. Sie ist innerhalb der »Jungen Gemeinde«6 und der evangelischen Studentengemeinde aktiv tätig und wurde als Vertrauensstudentin der Landeskirche Sachsen eingesetzt.

Hassenrück entstammt einer Pfarrersfamilie und befindet sich gegenwärtig im 3. Studienjahr.

Beide Beschuldigten sind seit etwa einem Jahr durch das gemeinsame Studium befreundet.

Vom MfS werden weitere Untersuchungen, insbesondere über den tatsächlichen Umfang der staatsfeindlichen Handlungen der Beschuldigten und über alle Umstände der Verbreitung von Hetzflugblättern in Leipzig geführt.

  1. Zum nächsten Dokument Reaktionen zum geplanten Abriss der Leipziger Universitätskirche

    28. Mai 1968
    Einzelinformation Nr. 578/68 über Reaktionen kirchlicher Kreise und Angehöriger der Theologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig zum geplanten Abriss der Universitätskirche Leipzig

  2. Zum vorherigen Dokument Gruppenfahnenflucht von zwei Offiziersschülern in Nordhausen

    28. Mai 1968
    Einzelinformation Nr. 575/68 über die Gruppenfahnenflucht von zwei Offiziersschülern der Offiziersschule der Grenztruppen in Plauen im Bereich der Grenzkompanie Klettenberg, Grenzregiment Nordhausen, am 12. Mai 1968