Konferenz der Kirchenleitungen des BEK in Berlin
13. September 1976
Information Nr. 629/76 über die Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR am 10./11. September 1976 in Berlin
Am 10./11. September 1976 fand die turnusmäßige interne Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Sitz des Bundes in Berlin, Auguststraße 80, statt.
Es wurden 22 Tagesordnungspunkte behandelt, von denen der wichtigste der Fall Brüsewitz war.1 Bei den übrigen Tagesordnungspunkten ging es um Baufragen, Verwaltungsangelegenheiten und die Vorbereitung der Synode des Bundes in Züssow. Die Bischöfe Gienke, Greifswald, und Braecklein, Eisenach, nahmen an der Tagung nicht teil, da sie sich im Ausland befinden. Die Bischöfe Schönherr, Berlin, und Fränkel, Görlitz, waren nur bei der Behandlung des Falles Brüsewitz anwesend.
Am 10. September 1976 befasste sich die Konferenz mit der Haltung der Kirchen im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz. Ausgangspunkt der dreistündigen Diskussion (Tagungsleiter Präsident Domsch, Dresden) war der Entwurf eines »Wortes an die Gemeinden« zum Fall Brüsewitz. Der Entwurf war zuvor von einer Arbeitsgruppe ausgearbeitet worden, in der besonders Bischof Hempel, Dresden, Dozent Demke, Berlin (Sprachenkonvikt), Landessuperintendent Schröder, Parchim (Präses der Synode des Bundes), Propst Winter, Berlin, Evangelisches Konsistorium von Berlin-Brandenburg, mitarbeiteten.
Dieser Entwurf, der in bestimmten Passagen gegen die Zusammenarbeit Staat – Kirche gerichtet war, wurde von fast allen Teilnehmern aus den unterschiedlichsten Motiven abgelehnt. Die Ausarbeitung wurde von einigen als »zu scharf«, von anderen als »nicht deutlich genug« oder als »zu allgemein« bezeichnet. Es wurde eine neue Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer Neufassung gebildet. Dieser Gruppe gehörten an: Oberkirchenrätin Lewek, Berlin (Bund der Ev. Kirchen), Pastorin Grengel, Berlin (Bund der Ev. Kirchen), Propst Falcke, Erfurt, Dozent Demke, Berlin, Oberkonsistorialrat Haberecht, Greifswald [und] Bischof Hempel, Dresden.
Über den von dieser Gruppe vorgelegten Entwurf wurde weiter diskutiert. Zu Beginn der Diskussion sprach sich Bischof Schönherr grundsätzlich gegen einen Brief an die Gemeinden aus und vertrat die Meinung, die Konferenz der Kirchenleitungen sollte lediglich ein kurzes Wort zum Abschluss der Diskussion zum Fall Brüsewitz verfassen. Dieses Wort sollte höchstens zehn Zeilen umfassen und einen Schlusspunkt unter die Auseinandersetzungen setzen. Der vorliegende Entwurf, meinte er, könne vom Staat als Verschärfung der Konfrontation aufgefasst werden.
Schönherrs Ausführungen stießen jedoch bei der Mehrzahl der Teilnehmer auf sofortige Ablehnung. Insbesondere Konsistorialpräsident Kupas, Berlin, Pastorin Radke, Berlin, und Kirchenpräsident Natho, Dessau, sprachen sich heftig gegen den Vorschlag Schönherrs aus. Sie vertraten die Meinung, mit dem zu verfassenden Wort solle die Diskussion nicht beendet werden, sondern erst richtig beginnen, da über die existierenden Spannungen zwischen Staat und Kirche nicht einfach hinwegdiskutiert werden könne.
Oberkirchenrat Mitzenheim, Eisenach, erhob grundsätzliche Bedenken gegen den Entwurf und verlangte eine Abschwächung der missverständlichen und zu Provokationen neigenden Formulierungen. Insbesondere wandte er sich gegen solche darin enthaltenen Formulierungen wie »Zerreißprobe« und »Spannungen, die durch unsere Gesellschaft gehen«, da daraus provokative Absichten abgeleitet werden können. Dieser Vorschlag wurde von der Mehrheit der Tagungsteilnehmer abgelehnt.
Gegen die Ausführungen von Mitzenheim wandten sich besonders Pastorin Radke und Propst Falcke, die sich für noch schärfere Formulierungen aussprachen.
Frau Dr. Blumenthal, Berlin, sprach sich gegen den Entwurf aus, beanstandete insbesondere Formulierungen wie »Anklage« u. ä. und forderte eine Abschwächung solcher Formulierungen.
Propst Dr. Winter, Berlin, Pastorin Radke, Berlin, und andere nahmen Bezug auf die Presseveröffentlichung in »Neues Deutschland« vom 1. September 19762 und behaupteten, hier sei »journalistische Leichenschändung« betrieben worden.
Bischof Schönherr erklärte sich mit dieser Diskussion nicht einverstanden und forderte, dass man vielmehr zur Westpresse Stellung nehmen müsste.
Dagegen gab es mehrfach Einspruch, wobei die Meinung zum Ausdruck gebracht wurde, eine solche Stellungnahme sei nicht möglich, da niemand von den Anwesenden im Besitz der Westpresse sei und staatliche Organe bisher nicht offiziell darüber informiert hätten.
Die letzte Fassung des Entwurfs, an der Bischof Hempel, Dresden, maßgeblich mitarbeitete, wurde mit Mehrheit angenommen. Der Brief wurde nach der Abstimmung sofort vervielfältigt und den Teilnehmern ausgehändigt (wird als Anlage beigefügt).
Dabei wurden folgende Festlegungen zu seiner weiteren Handhabung getroffen:
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Für den kirchlichen Bereich besteht freie Verwendung ab 13. September 1976, 17.00 Uhr. (Die Briefform wurde deshalb gewählt, um eine freie Verwendung zu ermöglichen.)
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Der Brief wird am 13. September 1976 dem Staatssekretär für Kirchenfragen mit einem Begleitschreiben von Bischof Schönherr durch Oberkirchenrat Stolpe übergeben. Im Begleitschreiben soll insbesondere um ein Grundsatzgespräch zum Fall Brüsewitz ersucht werden.3
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Für die Presse besteht eine Sperrfrist bis zum 19. September 1976, 12.00 Uhr.
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Den Gemeinden wird empfohlen, am 19. September 1976 in den Gottesdiensten den Brief mit zu verwenden.
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Der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (BRD/Westberlin) wird am Montag, dem 13. September 1976 der Wortlaut des Briefes mit der gleichen Sperrfrist wie für die Presse übermittelt.
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ADN soll am Dienstag, dem 14. September 1976 der Wortlaut zugestellt werden (ebenfalls Sperrfrist 19. September 1976).
Progressive Kräfte in der Leitung des Bundes schätzen den Brief intern wie folgt ein:
Mit dem nunmehr beschlossenen Brief haben sich die negativen Kräfte in der Konferenz durchgesetzt. Der eigentliche Fall Brüsewitz tritt gegenüber bisherigen Erklärungen kirchenleitender Gremien zurück. Er richtet sich mit Verleumdungen und Entstellungen gegen die sozialistische Ordnung im Allgemeinen und das sozialistische Bildungswesen im Besonderen. Die Selbstbezichtigungen der Kirchenleitungen sind offensichtlich darauf gerichtet, politisch vernünftige kirchenleitende Kräfte, die das Hochspielen des Falles Brüsewitz beenden wollen, zurückzudrängen.
Die vorhandenen Spannungen zwischen realistischen und negativen Kräften innerhalb der Kirchen werden, um sie zu vertuschen, als Gegensatz zwischen Kirchenleitungen und Gemeinden deklariert. In diesem Brief an die Gemeinden werden Existenzwirklichkeit und Arbeitsmöglichkeit der Kirchen in der DDR entstellt und damit der Entwicklung eines normalen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche entgegengewirkt.
Intern wurde weiter bekannt: Das Gespräch zwischen dem Mitglied des Politbüros Gen[ossen] Paul Verner, und Bischof Schönherr am 10. September 1976 habe auf Bischof Schönherr starken Eindruck gemacht.4 Bischof Schönherr äußerte intern, für ihn würden sich daraus noch grundsätzliche Schlussfolgerungen ergeben.
Es wurde weiter intern bekannt, dass Bischof Schönherr während seines kürzlichen Aufenthaltes in Österreich mit dem Vorsitzenden des Rates der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD), Bischof Class, ein Gespräch geführt hat. Class habe bei diesem Gespräch zum Ausdruck gebracht, er sei bereit, sich von negativen und konservativen Kräften in der Kirche offen zu distanzieren. Als mögliche Form dafür käme nach seiner Meinung ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR infrage. Der Einladung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, als Gast an der Synode des Bundes (24. September – 28. September 1976 in Züssow) teilzunehmen, wolle er nachkommen und könnte zu einem Gespräch am 22. und 23. September 1976 nach Berlin kommen.
Vom Bund ist vorgesehen, am 13. September 1976 einen Antrag für die Einreise des Class in die DDR zur Teilnahme an der Synode in Züssow zu stellen.5
Diese Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme geeignet.
Anlage zur Information Nr. 629/76
Abschrift
Brief an die Gemeinden
Die Selbstverbrennung unseres Bruders Pfarrer Oskar Brüsewitz hat eine tiefe Beunruhigung ausgelöst. Erklärungen, Verleumdungen, Richtigstellungen, der Ruf nach Informationen haben viele in Atem gehalten. Im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR sind die Erklärungen der Kirchenleitungen der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen mit Zustimmung aufgenommen worden. Sie werden den Gemeinden zugeleitet.
Wir alle sind betroffen. Aus dieser Betroffenheit werden Anfragen laut: an unsere Kirchen, ob in ihnen das Zeugnis von Jesus Christus nicht unentschlossen und ängstlich ausgerichtet wird; an die Kirchenleitungen, ob sie die tatsächlichen Sorgen und Nöte der Gemeinden, Pfarrer und Mitarbeiter entschieden genug aufnehmen und vertreten; an Pfarrer, Mitarbeiter und Gemeinden, ob sie einander tragende Gemeinschaft gewähren; an staatliche Organe, ob Glaubens- und Gewissensfreiheit, besonders für junge Menschen, wirklich Raum bekommt; an die Behandlung des Vorganges in der Öffentlichkeit, wie sie zusammenstimmt mit Wahrhaftigkeit und der Würde des Menschen.
Über Anfragen und Anklagen darf die Klage zu Gott nicht verstummen, dass ein Bruder diesen Weg ging. Wie wissen nicht, was Bruder Brüsewitz letztlich zu seiner Tat getrieben hat, aber wir haben nicht seine Richter zu sein, sondern den Weg, den er gewählt hat, in Gottes Urteil stehen zu lassen. Gewiss ist, dass er ein Zeuge unseres Herrn Jesus Christus sein wollte.
Als Lehrtext stand über dem 18. August 1976: »Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit.« Die Tat von Bruder Brüsewitz und die Wirkungen, die sie auslöste, zeigen erneut die Spannungen, die durch unsere Gesellschaft gehen und die Zerreißproben, in die viele gestellt sind. Es wird sichtbar, dass wir dem Leben in unserer Gesellschaft und unserer Kirche nicht dienen, wenn wir Probleme und Widersprüche verdrängen, statt an ihrer Lösung offen mitzuarbeiten. So haben wir dafür einzutreten, dass in unserer Gesellschaft Achtung und Respekt vor der Überzeugung des anderen das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Menschen wirklich prägen. Dazu gehört, dass Christen und Nichtchristen sich gegenseitig ernst nehmen als Partner im Bemühen um die Bewältigung der Probleme und Aufgaben in unserer Welt. Besonders dringlich ist, dass im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem eine Atmosphäre des Vertrauens geschaffen wird und Kinder und Jugendliche ungekränkt als Christen leben können. Wir alle sind auch herausgefordert, eindeutiger und überzeugender als bisher unseren Kindern darin zur Seite zu stehen. Über die Regelung von Einzelfällen im Bildungssektor hinaus, muss auch eine grundsätzliche Klärung im Ganzen erreicht werden. Das Gespräch über diese grundsätzlichen Fragen, um das wir bisher vergeblich gebeten haben, streben die Kirchenleitungen weiterhin an. Wir bitten Eltern und kirchliche Mitarbeiter, auch ihre Gesprächsmöglichkeiten weiterhin zu nutzen.
Durch die Tat von Bruder Brüsewitz sind unüberhörbar Fragen laut geworden, die unter uns nicht ausgetragen worden sind.
Viele Pfarrer, Mitarbeiter und Gemeindemitglieder leiden unter dem Kleinerwerden der Gemeinden, unter Gleichgültigkeit und mangelndem Mut. Die großen Verheißungen der Bibel und die kleine Schar scheinen einander zu widersprechen. Dass die Wirkungen unseres Zeugnisses so oft verborgen sind, macht uns zu schaffen. Wir wollen diese Fragen gemeinsam und vor allem voreinander ehrlich austauschen und bedenken.
Angst und Resignation trüben uns oft den Blick für das, was wir tun können.
Wir haben immer noch nicht genügend Klarheit gefunden für das politische Zeugnis der Kirche und jedes einzelnen Christen in unserer Umwelt.
Viele empfinden einen tiefen Graben zwischen den Entscheidungen und Erklärungen der Kirchenleitungen und dem, was die Gemeinde wirklich braucht. Wir haben noch nicht gelernt, füreinander durchschaubar zu handeln und zu reden.
Wir hoffen, dass die Spannungen in unseren Kirchen, die wir jetzt durchstehen müssen, uns zu neuer Gemeinschaft untereinander führen. Wir können offen miteinander umgehen. Wir brauchen uns unserer Schwächen voreinander nicht zu schämen. Wir dürfen uns den Zusagen Gottes anvertrauen. So werden wir uns gegenseitig zu Schritten der Hoffnung ermutigen. Unser Brief möchte dazu beitragen.
Jesus Christus hat viele Möglichkeiten, uns durch sein lebendiges Wort aus Traurigkeiten und Verkrampfungen, unseren aufgebrachten Antihaltungen, unseren Lähmungen und Lustlosigkeiten herauszureißen und uns seines Lebens so gewiss zu machen, dass wir seinen Weg getrost mitgehen und sagen können: »In allen Dingen erwiesen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, … als die Traurigen, aber allerzeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen, als die nichts haben und doch alles haben.« (2. Kor. 6,4 und 10)
Berlin, den 11. September 1976
Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der Deutschen Demokratischen Republik.