Oppositionelle Gruppen in Berlin und Leipzig
21. November 1977
Information Nr. 725/77 über staatsfeindliche Aktivitäten von Personen in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie in Leipzig
Durch das Ministerium für Staatssicherheit wurden mit mehreren in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie in Leipzig wohnhaften und beruflich tätigen Personen auf der Grundlage strafprozessualer Voraussetzungen Befragungen durchgeführt. Ziel dieser Maßnahmen war es, auf der Grundlage bereits vorliegender Beweise konkreter zu überprüfen, welche staatsfeindlichen Aktivitäten von diesen Personen ausgingen bzw. weiterhin beabsichtigt waren und derartige Aktivitäten zu unterbinden.
Im Ergebnis der vom Ministerium für Staatssicherheit durchgeführten Maßnahmen ist festzustellen: In der Hauptstadt der DDR, Berlin, und in Leipzig hatten sich zwei staatsfeindliche Gruppen herausgebildet, die das Ziel verfolgten, auf der Grundlage einer gemeinsamen politischen Plattform und im engen Zusammenwirken im Sinne einer »Umwandlung« der Partei und der »Veränderung« der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR wirksam zu werden.
Der Kern dieser Gruppen bestand aus Absolventen der Wirtschaftswissenschaftlichen Sektion der Karl-Marx-Universität Leipzig, die teilweise als wissenschaftliche Nachwuchskader auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften tätig sind und derzeit ihre Promotion vorbereiten. Sie sind alle Mitglied der SED. Weitere Gruppenmitglieder sind Absolventen der Handelshochschule Leipzig, Studenten sowie politisch Gleichgesinnte aus dem näheren Bekanntenkreis der Vorgenannten. Als Organisatoren der staatsfeindlichen Gruppentätigkeit traten in Erscheinung Gehrke, Bernd (27), geb. am [Tag] 1950, wohnhaft: 1162 Berlin, [Adresse], Wissenschaftlicher Oberassistent am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Vater: Dreher im VEB Kühlautomat Berlin, 1956 Ausschluss aus der SED wegen parteischädigenden Verhaltens, Schwiegermutter: Dr. Schulz, Eva, Stellv. Direktor für Information und Dokumentation an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Dähn, Uwe (27), geb. am [Tag] 1950, wohnhaft: 1135 Berlin, [Adresse], Wissenschaftlicher Assistent am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Mutter: Sachbearbeiterin beim Rat des Stadtbezirkes Berlin-Friedrichshain, Abteilung Volksbildung, Mitglied der SED, Ettl, Wilfried (25), geb. am [Tag] 1952, wohnhaft: 112 Berlin, [Adresse], Wissenschaftlicher Assistent am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Vater: Betriebsdirektor im VE Kombinat Berliner Verkehrsbetriebe, Mitglied der SED, Jünger, Jürgen (26), geb. am [Tag] 1951, wohnhaft: 7022 Leipzig, [Adresse], Fachgebietsleiter Betriebswirtschaft im Sozialistischen Großhandelsbetrieb Textilwaren, Leipzig, Vater: Lehrer – Rat des Stadtbezirkes Leipzig-Süd, Abteilung Volksbildung.
Bereits während der Zeit des Studiums kam es zwischen den genannten Personen aufgrund ihrer durch feindliche Einflüsse systematisch verfestigten gemeinsamen antisozialistischen ideologischen Auffassungen zu Absprachen über eine zu organisierende angeblich marxistisch-leninistische Zirkeltätigkeit und in der Folgezeit (Zeitraum 1974/75) zur Bildung einer staatsfeindlichen Gruppe.1 Nach ihren eigenen Äußerungen habe dabei eine Rolle gespielt, dass von ihnen vorher vorgebrachte »kritische Fragestellungen« zurückgewiesen worden seien. Die theoretischen und praktischen Zielstellungen ihrer geplanten staatsfeindlichen Tätigkeit fixierten sie in einer gemeinsam erarbeiteten »Politischen Arbeitsgrundlage«. Sie anerkennen darin
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die Prinzipien des Marxismus/Leninismus, sehen aber die »Notwendigkeit der Weiterentwicklung dieser revolutionären Theorie der Arbeiterklasse«,
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den real existierenden Sozialismus, wenn auch »bürokratisch deformiert«, als stärkste Kraft im revolutionären Weltprozess,
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die führende Rolle der Arbeiterklasse, die aber wegen der »bürokratischen Deformierung der Partei und der gesamten Gesellschaft« noch nicht verwirklicht sei.
Ihrer Meinung nach zeigt sich diese »bürokratische Deformation« vor allem darin, dass
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»die Partei durch die ungenügende Anwendung der Prinzipien des Marxismus/Leninismus in einen von den werktätigen Massen weitestgehend isolierten Apparat entartet sei« und damit der Boden bereitet sei für Opportunismus und Revisionismus,
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»das Bewusstsein der Arbeiterklasse sehr widersprüchlich sei und nicht in der erforderlichen Richtung nivelliert werde«,
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Wissenschaft und Kunst »den politischen Interessen der Parteibürokratie untergeordnet« seien und »Meinungsstreit nur in dem von dieser Bürokratie fest umrissenen Rahmen existieren« würde.
Aus diesen Auffassungen resultierend beabsichtigten sie, Aktivitäten zu entwickeln für
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die Verwirklichung der führenden Rolle der Arbeiterklasse unter »Zurückdrängung der Bürokratie«,
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die konsequente Verwirklichung des demokratischen Zentralismus innerhalb der Partei und in diesem Zusammenhang die »Verbesserung der Kontrolle der Führung durch die Massen«, den »ständigen Abbau der von der Bürokratie aufrechterhaltenen politischen Tabus« mit ersten Forderungen nach »wahren Informationen über den Verlauf geschichtlicher Prozesse, über die soziale Zusammensetzung der Partei, über die Einkommensverhältnisse aller Werktätigen, über die Tätigkeit anderer kommunistischer Parteien«,
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die »Zurückdrängung bzw. Beseitigung des Opportunismus und aller dem Marxismus/Leninismus feindlichen Auffassungen in Partei und Gesellschaft« usw.
Ihren Auffassungen zufolge sahen sie eine – bisher nicht realisierte – Möglichkeit, über eine aktive persönliche Mitarbeit und Einflussnahme in der Partei und in Massenorganisationen im Sinne einer »Umwandlung der Partei in eine Partei neuen Typus«, einer »Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR durch Beseitigung der Partei- und Staatsbürokratie und ihre Ersetzung durch ein Rätesystem« wirken zu können.
Zur exakten Regelung organisatorischer Probleme wurde von der Berliner Gruppe ein »Statut« erarbeitet, nach dessen Festlegungen u. a. vorgesehen war,
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die Gruppe arbeitet konspirativ,
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die Gruppenmitglieder sind verpflichtet, langfristig mit Sympathisanten zum Zwecke deren Einbeziehung in die Gruppentätigkeit zu arbeiten,
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in der ersten Phase sei die Form der Zirkelarbeit die günstigste Variante ihres Tätigwerdens (nach diesem Gesichtspunkt wurde durch das Mitglied der Berliner Gruppe Jünger die Arbeit in der im Jahre 1976 gebildeten Leipziger Gruppe organisiert).
In Erkenntnis des strafrechtlich relevanten Charakters ihrer Handlungen bedienten sie sich auch konspirativer Mittel und Methoden. Das zeigte sich insbesondere bei der Herstellung und Aufrechterhaltung von Kontakten und Verbindungen zu trotzkistischen Zentren und Kräften in nichtsozialistischen Staaten – zunächst vorrangig zur Beschaffung antisozialistischer Literatur.
Anfang 1976 nahm Dähn über eine in Westberlin wohnende persönliche Bekannte Verbindung zu dort ansässigen Mitgliedern der größten und aktivsten trotzkistischen Organisationen in der BRD und Westberlin, der als »Deutsche Sektion der IV. Internationale« fungierenden »Gruppe Internationaler Marxisten« (GIM)2 auf. In der Folgezeit fanden neben postalischen und telefonischen Kontakten persönliche Zusammentreffen mit Mitgliedern der »GIM« in der Hauptstadt der DDR statt, bei denen von diesen unter Umgehung der Zollbestimmungen in die DDR eingeschleuste größere Mengen antisozialistischer, insbesondere trotzkistischer Literatur übergeben wurden. Dazu gehören solche Machwerke wie
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»Revolutionäre oder bürgerliche Kritik an der Sowjetunion« (Verfasser: Mandel, Medwedjew, Grigorenko)3
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»Die linke Opposition in der Sowjetunion«– mehrbändig (Herausgeber: Ulf Wolter)4
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»Leo Trotzki – In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten« (Verfasser: Harry Wilde)5.
Ein von Gehrke im November 1976 verfasster »Offener Brief an Wolf Biermann« (Kopie dieses Briefes in Anlage), innerhalb der Gruppe beraten und bestätigt, wurde über eine Kontaktperson der »GIM« dem Trotzkisten Jakob Moneta6, einem der führenden Mitglieder des »Schutzkomitees für Freiheit und Sozialismus«7 und aktiven Förderer Biermanns, übermittelt. Durch diesen erfolgte eine Weiterleitung an Biermann mit gleichzeitiger Bestätigung der Existenz einer »Oppositionellen Gruppe« innerhalb der SED und der Abdruck dieses Briefes in den Zeitschriften »das da«8 und »Spartacus«9 sowie in der von antisozialistischen Emigrantenorganisationen in der BRD herausgegebenen Informationszeitschrift Nr. 20–21 des »Sozialistischen Osteuropakomitees«.10
In dem erwähnten Brief bekunden die Gruppenmitglieder, die unter dem Pseudonym »Oppositionelle Mitglieder der SED« auftraten und eine »breitere Massenbasis« vorzutäuschen versuchten, ihre Ablehnung zu den gegen Biermann getroffenen Maßnahmen11 der DDR und legen ihre eigene antisozialistische Position dar. Beachtenswert erscheint ihre Feststellung, »angesichts der jetzt noch bestehenden Schwäche der innerparteilichen Opposition den Ausschluss aus der Partei im Moment für unzweckmäßig zu erachten, weil der Kampf gegen eine gerissene Bürokratie und ihren Zwangsapparat nicht allein mit offenen Protesten geführt werden kann«. Bereits im Jahre 1975 verfasste Gehrke eine umfassende »Stellungnahme« zur in Vorbereitung befindlichen »Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas«12. Diese, insbesondere massive Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung beinhaltende und in Form einer »Kritik am realen Sozialismus« verfasste Schrift sollte später nach ihrer endgültigen Fertigstellung an die »GIM« zur Weiterleitung an die Zentralorgane der an der Konferenz beteiligten Parteien übergeben werden. (Aus zeitlichen Gründen ist es dazu nicht gekommen.)
Ende des Jahres 1976 fertigte Dähn den Entwurf eines Briefes der Berliner Gruppe an das »Komitee zur Verteidigung der Arbeiter«13 in der Volksrepublik Polen, in dem sich die Gruppe mit dessen antisozialistischer Tätigkeit solidarisch erklärt und die Durchführung von Maßnahmen gegen die DDR ankündigt. Die von Gehrke überarbeitete Fassung dieses Briefes sollte unter Einbeziehung der »GIM« bei der Herstellung der Verbindung und über dritte Personen diesem »Komitee« – verbunden mit einer Geldspende von 1 200 Mark – übergeben werden. Dieses Vorhaben wurde vom »Komitee zur Verteidigung der Arbeiter« in der VR Polen gegenüber der »GIM« mit der Begründung abgelehnt, es arbeite legal und wolle sich durch die Verbindungsaufnahme mit »illegalen Gruppen« in der DDR nicht in Gefahr bringen.
Mitte 1977 entstand der Plan, einen der ideologischen Position der staatsfeindlichen Gruppe entsprechenden Artikel zum 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution zu verfassen und über die zu diesem Zeitpunkt bestehende Verbindung zur »GIM« einer Veröffentlichung in westlichen Massenmedien zuzuführen.
Dieser Plan und auch andere Festlegungen innerhalb der Gruppen wurden jedoch bis zum Zeitpunkt der durch das MfS eingeleiteten Maßnahmen nicht verwirklicht. Dabei ist hervorzuheben, dass es auf einer Zusammenkunft dieser Personen zu Pfingsten 1977 grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über weitere Aktivitäten gab, die auch im folgenden Zeitraum nicht geklärt wurden. Während Ettl und Jünger eine intensive Zirkeltätigkeit zur »theoretischen Durchdringung des Marxismus/Leninismus« durchzuführen beabsichtigten – in der Leipziger Gruppe gab es dazu bereits einen sogenannten Arbeitsplan 1977/78 –, vertraten Gehrke und Dähn Auffassungen dahingehend, weitere antisozialistische Machwerke auszuarbeiten oder zu vervollkommnen und erforderlichenfalls damit an die Öffentlichkeit zu treten.
Im Ergebnis der Untersuchungen und der dabei sichtbar gewordenen näheren Umstände, die im Zusammenhang mit dem dargelegten Sachverhalt zu berücksichtigen sind, erscheint es nicht zweckmäßig, strafrechtliche Maßnahmen durchzuführen. Dabei wird beachtet, dass die genannten Personen bei den durchgeführten Befragungen offen und sachlich auftraten und Ansatzpunkte für eine erfolgversprechende Umerziehung vorhanden sind. Es wird vorgeschlagen, unter Beachtung der Rolle der einzelnen Gruppenmitglieder, des Grades der Verfestigung ihrer feindlich-negativen Position und des Anteils an den feindlich-negativen Aktivitäten, differenzierte parteierzieherische und disziplinarische Maßnahmen einzuleiten.
Die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED Berlin und Leipzig erhalten – ausgehend von dieser Information – weitere detaillierte Hinweise über das Verhalten und über Aktivitäten der beteiligten, in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich befindlichen Personen.
Anlage zur Information Nr. 725/77
Linke Opposition in der SED. Zur Ausweisung von Wolf Biermann [Artikel und offener Brief in: Sozialistisches Osteuropakomitee. Info Nr. 20–21 vom Januar 1977]
Anfang Januar erhielten wir den hier abgedruckten Brief »oppositioneller Mitglieder der SED« an Wolf Biermann aus Westberlin zugeschickt. Weitere Adressaten waren die Redaktionen von: Arbeiterkampf, Der Lange Marsch, links, Wiener Tagebuch, Frankfurter Rundschau, das da, Was Tun, Der Spiegel, Osteuropa, Radikal, Spartacus, Konkret, Berliner Extradienst, Die Wahrheit, Spontan, UZ-Unsere Zeit.
In dem Begleitschreiben hieß es: »Kopien dieses Dokuments werden in erster Linie mit der Bitte um Abdruck an die Organe der linken und kommunistischen Presse versandt. Dies geschieht mit einer Ausnahme: ignoriert werden auf ausdrücklichen Wunsch der Genossen in der DDR jene Gruppierungen der ›Linken‹ in der BRD wie anderswo, die in den Staaten Osteuropas sozialfaschistische bzw. -imperialistische Systeme erblicken und sie zum Teil zum Hauptfeind erklären. (Wir möchten betonen, dass dieses Dokument auch an die Redaktion von UZ und ›Die Wahrheit‹ verschickt wurde.) Mit einem Abdruck dieses Dokuments unterstützt Ihr den Kampf der Genossen in der DDR um Arbeiterdemokratie und Sozialismus, denn auf vielfältigste Weise und über die verschiedensten Kanäle werden die in diesem Dokument ausgesprochenen Gedanken ihren Weg zurückfinden an den eigentlichen Adressaten: die werktätige Bevölkerung in der DDR selbst. Schafft also Öffentlichkeit.«
Der Brief ist nicht namentlich gezeichnet, und unsere Bemühungen, etwas über seine Herkunft herauszubekommen, haben bisher noch keinen Erfolg gehabt. (Begleitschreiben: »Die Genossen in der DDR – wie wir als ›Transmissionsriemen‹ – müssen, um wirksam zu bleiben, den Schutz der Anonymität wählen«.) Trotz der nicht eindeutig feststehenden Identität dieses Briefes können wir seinen Abdruck in unserem Info rechtfertigen. Aus zwei Gründen:
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Unsere eigene politische Arbeit in der westdeutschen Linken gibt uns die Möglichkeit, die Diskussionen, die in der DKP und ihren Unter- bzw. Vorfeldorganisationen über die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die anschließende Repressionswelle gegen Kulturschaffende in der DDR stattfinden, zu verfolgen. Was wir in unserem eigenen Arbeitsbereich beobachten, z. B. Protestschreiben von Fachbereichssektionen der DKP-nahen Studentenorganisation MSB Spartakus an die Parteiführung bzw. Austritte aus der Organisation an der Hamburger Universität, wird ergänzt durch Meldungen, die durch die bürgerliche und die linke westdeutsche Presse gingen: Einmütigkeit über den Ausbürgerungsbeschluss der DDR-Behörden besteht – trotz aller gegenteiligen Bekundungen – in der DKP nicht.
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Allein die Solidaritätserklärungen der Kulturschaffenden in der DDR mit Wolf Biermann bzw. ihre Proteste gegen das Vorgehen der DDR-Behörden sind Beweis dafür, dass der Ausbürgerungsbeschluss auch in der SED nicht unwidersprochen hingenommen wird.
Über den Umfang der bekannt gewordenen oppositionellen Bewegung in der SED und der DKP informieren wir in der anschließenden Dokumentation.
Die politische Bedeutung des Briefes der »Oppositionellen Mitglieder in der SED« liegt unserer Ansicht darin, dass mit ihm dokumentiert wird, dass:
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die Entwicklung der westeuropäischen kommunistischen Parteien, vor allem der KPI und der KPF – ob nun die Theorie und die politische Praxis des sogenannten »Eurokommunismus« kritisiert wird oder bejaht wird – Einfluss auf die innere Entwicklung der kommunistischen Parteien in den osteuropäischen Staaten genommen hat;
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es Möglichkeiten gibt, innerhalb der nach außen geschlossen wirkenden und auch auftretenden kommunistischen Parteien in den osteuropäischen Staaten oppositionelle Arbeit zu leisten.
Wir drucken diesen Brief ab, um »den Kampf der Genossen in der DDR um Arbeiterdemokratie und Sozialismus« zu unterstützen. Wir drucken ihn aber auch deshalb ab, weil wir in ihm einen Beitrag von DDR-Genossen zur Diskussion über die politische Praxis in der westdeutschen Linken und auch über die Entwicklung der westeuropäischen Kommunisten sehen.
Brief oppositioneller SED-Mitglieder
Lieber Genosse Wolf Biermann!
Die auf Beschluss des Politbüros des ZK der SED am 16. November 1976 von der Regierung der DDR ausgesprochene Aberkennung Deiner DDR-Staatsbürgerschaft stößt auf den Protest großer Teile der Bevölkerung unseres Landes. Die öffentliche Verurteilung dieser von den leitenden Organen der SED und des Staates getroffenen Entscheidungen durch die hervorragendsten Künstler der DDR widerspiegelt die tiefe Betroffenheit vieler Arbeiter, Angestellter und Angehöriger der Intelligenz. Aber auch große Teile der Mitgliedschaft der SED sind über Deine Ausbürgerung auf dem Zwangswege befremdet und empört. Als ehemaliges Mitglied weißt Du, dass in unserer Partei keine demokratische Willensbildung erfolgt, die es durch offene und öffentliche Diskussionen ermöglicht, den tatsächlichen Willen der Mitglieder auszudrücken. Durch die Herrschaft des Parteiapparats und seinen bürokratischen Zentralismus, der mit den von Lenin begründeten Prinzipien des demokratischen Zentralismus nichts gemein hat, sieht sich jedes Mitglied einem ständigen ideologischen und mit materiellem bis zu physischem Zwang untermauerten Druck ausgesetzt, jeder politischen Linie und selbst jeder einzelnen Handlung der Parteiführung mit einem Lippenbekenntnis zuzustimmen. Daher ist die Entscheidung der Parteiführung nicht die Entscheidung der Partei. Wir verurteilen als Kommunisten und Mitglieder der SED auf das entschiedenste Deine Ausbürgerung, die der Sache des Kommunismus und den Interessen unseres sozialistischen Landes, der DDR, auf das Äußerste schadet. Sie ist lediglich dazu angetan, die weitere sozialistische Entwicklung zu behindern und der reaktionären bürgerlichen Propaganda gegen den Sozialismus Schützenhilfe sowie Illusionen über die bürgerliche Demokratie Vorschub zu leisten.
Damit identifizieren wir uns keineswegs mit allen Deinen politischen Auffassungen und vielen von Dir in den letzten Jahren getätigten Handlungen und Äußerungen. Wir sehen jedoch in Dir einen aufrechten kommunistischen Künstler, dem es immer darum ging und geht, durch seinen künstlerischen Beitrag dem Sozialismus und der Entwicklung seines sozialistischen Staates zu dienen – besonders auch dadurch, dass er dessen jetzige bürokratische Form kritisiert und alles seine Entwicklung Hemmende attackiert. Du hast immer deutlich gemacht, dass Dein Hass auf alle bürokratischen Verknöcherungen, auf alle zur Realität unseres sozialistischen Landes gehörenden undemokratischen Verhältnisse aus der Liebe zu diesem Lande, zum Sozialismus, entspringt und Dein Eintreten für die Demokratisierung unserer politischen Verhältnisse stets ein Eintreten für die sozialistische Demokratie ist. Niemanden hast Du im Zweifel darüber gelassen, dass dieses Eintreten für sozialistische Demokratie nichts mit der demagogischen Forderung der bürgerlichen Reaktion nach einer »Liberalisierung« des Sozialismus als Vorspiel kapitalistischer Rückeroberung zutun hat, sondern im Gegenteil auch zu einer sozialistischen Revolution im Westen, die allerdings nicht die Halbheiten des bürokratischen Sozialismus wiederholt, beitragen soll.
Wenn wir Deine Vorstellungen darüber im Einzelnen nicht teilen und namentlich Deine Haltung zum sogenannten »Euro-Kommunismus« als eine für die Arbeiterbewegung gefährliche Illusion ablehnen, so ist hier nicht Anlass und Ort, über die besten Wege zum Sturz des Kapitalismus und der Erreichung des Sozialismus zu diskutieren, sondern um auf das Schärfste den im Inhalt demagogischen und der Form nach verleumderischen Vorwurf der offiziellen Repräsentanten der SED und der DDR zurückzuweinen, Du wärst ins Lager der Feinde des Sozialismus übergegangen und hättest die DDR verraten.
Die Art und Weise, wie man Dich aus der DDR hinausexpediert und wie man Deine Ausbürgerung begründet hat, spricht allein Bände über den Charakter jener Repräsentanten als auch über den Charakter des von ihnen repräsentierten politischen Systems, – eindeutiger kann man sich überhaupt nicht vor aller Welt als Betrüger und Demagoge selbst entlarven! Es ist dies nur erneuter Ausdruck für die von jeglicher demokratischer Kontrolle durch die Arbeiterklasse befreite Herrschaft des bürokratischen Apparats, der einzig durch polizeiliche Unterdrückung der Arbeiterklasse aufrechterhalten werden kann. Die von der Arbeiterklasse getrennte, in besonderen Repressionsorganen verselbstständigte Macht – die so die Macht der verselbstständigten Bürokratie in ihren verschiedenen Schichtungen ist – hat sich in den letzten Tagen wieder als das Kardinalproblem unserer Gesellschaft erwiesen. Die Bürokratie, für welche die Produktion auf Rechnung der ganzen Gesellschaft, oder anders ausgedrückt, das Volkseigentum, unser aller Arbeit, die Quelle ihrer zahllosen Privilegien ist, vermag sich diese Privilegien – die ebensoviel über das Maß der von der Bürokratie selbst durch die Verrichtung notwendiger gesellschaftlicher Funktionen der Gesellschaft gegebenen Arbeit hinausgehende und deshalb der Gesellschaft vorenthaltene Arbeit sind – nur anzuzeigen, indem sie durch die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse, damit aller Formen demokratischer Kontrolle, den ganzen gesellschaftlichen Produktionsprozess bürokratisch deformiert. Ihre Verselbstständigung wie ihre Privilegien vor den Augen der Massen zu verbergen suchend, gibt sich die Bürokratie gleichzeitig scheinheilig als deren notwendigen Führer aus. Ihrer zwiespältigen Lage entsprechend ist sie gezwungen, sich als Betrüger zu betätigen, wie es in Deinem Falle erneut geschehen ist. Die öffentliche Diskussion, auch die mit Dir, als latent demokratische Institution wie die Pest fliehend, vermag sie nur zu bürokratischen Tricks und Zwang Zuflucht zu ergreifen, um sich mit politisch Andersdenkenden auseinanderzusetzen.
Die Aberkennung Deiner DDR-Staatsbürgerschaft für eine überstürzte und panische Maßnahme zu halten, ist unseres Erachtens eine die Realitäten verkennende Illusion. Sie ist im Gegenteil ein wohlgezielter Schlag gegen die sich in den letzten Jahren wachsend äußernden demokratischen Aktivitäten bei den Arbeitern, Angestellten, der Intelligenz und besonders bei Jugendlichen, aber auch gegen die in unserer Partei zunehmende oppositionelle Tendenz der Mitglieder gegen ihre Entmündigung durch den Parteiapparat. Dass sich die demokratischen Forderungen und Aktivitäten bei einem Teil der Bevölkerung der DDR nicht nur gegen die bürokratischen Strukturen unseres Landes richten, sondern mit einer Verherrlichung bürgerlicher Freiheiten einhergehen, was die Bourgeoisie in ideologischer oder sonstiger Weise zu fördern sucht, findet seine Quelle in jenem politischen System, welches die Entmündigung der Arbeiter- und Volksmassen zur einzigen Form sozialistischen Lebens erklärt und mit der Unterdrückung kritisch-kommunistischen Denkens und Handelns der Bourgeoisie das ideologische Bett bereitet, in das diese ihre demagogischen Freiheitsphrasen nur hineinzulegen braucht. Ihrer eigensüchtigen Interessen wegen ist es also die Bürokratie, die dem Angriff der Bourgeoisie auf den Sozialismus Vorschub leistet!
Die erneute Repression gegen Dich ist nicht nur eine Repression gegen demokratische Aktivitäten in unserem Lande allgemein, sondern insbesondere Abschreckungs- und Unterdrückungsmaßnahme gegen die für eine sozialistische Demokratie kämpfende kommunistische Opposition, die einzig in der Lage ist, eine unserem Volk und der internationalen Arbeiterklasse wirklich dienende Alternative zur jetzigen bürokratischen Misere des Sozialismus und eine dauerhafte sozialistische Entwicklung zu garantieren. Dieser Zweck der Maßnahme muss entlarvt und sie selbst bekämpft werden von allen Bürgern der DDR, die in der sozialistischen Demokratie die notwendige politische Zukunft unseres Landes sehen, besonders jedoch von den Kommunisten.
Deine Ausbürgerung ordnet sich ein in die nach dem IX. Parteitag und insbesondere seit dem 2. Plenum des ZK von der Parteiführung zwar nicht offen ausgesprochene, dennoch nicht minder nachdrücklich betriebene Politik der Zurücknahme jener – wenn auch minimalen – seit dem VIII. Parteitag von ihr gemachten Zugeständnisse an geistigen Freiheiten. Die Begründung der Ausbürgerung mit Deinem Auftritt in Köln – von dem wir uns allerdings, wegen seiner Bedeutung als erster Auftritt in einem kapitalistischen Land nach langen Jahren gewünscht hätten, in erster Linie Deine antifaschistischen und antikapitalistischen Lieder zu hören –; diese Begründung war lediglich dazu gedacht, Dich als Einzelfall hinzustellen und das »Anziehen der Schrauben« in der Innenpolitik zu verschleiern. Aber Dein Fall ist nur ein besonders extremer Fall unter den zunehmenden Disziplinierungsmaßnahmen gegen Oppositionelle, wie der Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband zeigt, wogegen wir ebenfalls schärfsten Protest erheben. Richten sich die jetzigen Zwangsmaßnahmen scheinbar nur gegen – die Annehmbarkeitsschwelle der Bürokratie überschreitende – Künstler, so treffen sie doch die Arbeiterklasse. Nicht nur, weil Freiheit der Intellektuellen und intellektuelle Freiheit der Arbeiter im Allgemeinen zusammenfallen, sondern die besondere Situation wachsender demokratischer Aktivität in den verschiedenen Bevölkerungsschichten die Bürokratie dazu zwingt, gegen diese vorzugehen und von der Unterdrückung garstiger Lieder wieder stärker zur Unterdrückung garstiger Witze überzugehen. Die Einschränkung der Möglichkeiten politischer Meinungsäußerung in allen Bereichen der Gesellschaft wird die notwendige Folge sein, wenn es jetzt nicht gelingt, diesen alten neuen Kurs der Bürokratie aufzuhalten. Das gilt sowohl für die Parteibasis wie für die parteilosen Arbeiter, Angestellten, Intellektuellen und Jugendlichen. Wir alle müssen in jedem Bereich und mit den unter den jeweiligen konkreten Bedingungen möglichen Mitteln das in den letzten Jahren Errungene an politischen Äußerungsmöglichkeiten – wenn es auch nur wenig, aber immerhin doch spürbar ist – verteidigen. Im Irrtum befinden sich jene, die da glauben mit ihrer Zustimmung zu Deiner Ausbürgerung, mit der Opferung Biermanns, die kultur- und innenpolitische »Entspannung« der letzten Jahre retten zu können. Von denen, die die »Wahrheitssucher leimen« wollen, brauchen wir ohnehin nicht zu reden.
Deine Ausbürgerung aus der DDR bekommt jedoch noch eine andere Dimension, wenn man bedenkt, dass die von Dir vertretenen Ansichten über den realen Sozialismus nicht nur von zahlreichen Mitgliedern kommunistischer Parteien geteilt werden, sondern dem offiziellen Standpunkt der Führungen einiger dieser Parteien gleich oder zumindest sehr ähnlich sind. Diese Ausbürgerung zeigt, dass unsere bürokratische Führung entschlossen ist, alle in unserer Partei vorhandenen Sympathien für die Suche nach einer demokratischen Alternative zum bürokratischen Sozialismus seitens einiger kommunistischer Parteien im Westen, sowie den stetig wachsenden Willen der Parteimitglieder zur Diskussion der vom »Euro-Kommunismus« aufgeworfenen Fragen zu unterdrücken. Deine Ausbürgerung verdeutlicht darüber hinaus, dass es in Zukunft unmöglich sein soll, nicht nur in der Partei, sondern auch als Bürger der DDR offen den Standpunkt westeuropäischer Kommunisten zu vertreten, wobei dies natürlich auch bisher durch den Entzug der Massenkommunikationsmittel und Berufsverbote für bestimmte Bevölkerungsgruppen usw. weitestgehend verhindert wurde. Mit Dir wurden jetzt auch Enrico Berlinguer, Santiago Carillo und Georges Marchais ausgebürgert. Dies enthüllt jedoch die ganze Verlogenheit der Berliner Konferenz der Kommunistischen und Arbeiterparteien Europas; während man gemeinsame Erklärungen über den Kampf für Demokratie usw. abgibt, wird die eine Richtung von der anderen mit staatlicher Repression verfolgt!
Wir teilen nicht Deine Sympathien für den sogenannten »Euro-Kommunismus«, weil er die Suche nach einer sozialistischen Demokratie mit der Illusion verbindet, ohne die gewaltsame Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die revolutionäre Diktatur des Proletariats zum Sozialismus gelangen zu können. Der Generalsekretär jener Partei, die Du »reifen und wachsen« siehst »unter Italiens Sonnenschein«, Enrico Berlinguer, singt ein ganz anderes Lied als Du, Genosse, über »die kostbare Wahrheit der Unidad Popular«! Wir bekämpfen jedoch entschieden die Ersetzung der politischen Auseinandersetzung durch polizeiliche oder sonstige Zwangsmaßnahmen, denn unser Eintreten für eine sozialistische Demokratie in unserem Lande, das sich nicht im Bürgerkrieg befindet, ist auch ein Eintreten für das Recht aller, ihre politischen Vorstellungen durchsetzen zu können, sofern nicht der Sturz des Sozialismus ihr erklärtes Ziel ist.
Der Streich, den die Bürokratie gegen Dich geführt hat, gilt nicht der bürgerlichen Restauration, sondern der Zukunft des Sozialismus und wird in dieser oder jener Form auf sie selbst zurückfallen. Er wird die demokratischen Aktivitäten der Arbeiter, Angestellten, der Intelligenz und der Jugend nicht erwürgen, sondern verstärken. Das Anwachsen der Solidarität mit Dir gibt ein beredtes Zeugnis davon ab. (Ein Wort über die gegen Dich inszenierte Kampagne der »Zustimmung« zu Deiner Ausbürgerung zu verlieren lohnt nicht – Du weißt ebenso gut wie jeder DDR-Bürger, mit welchen schmählichen Mitteln so etwas bei uns zustande kommt.) Der neuerliche Angriff des bürokratischen Apparats auf die Möglichkeiten politischer Meinungsäußerung wird jedoch besonders die Energie der oppositionellen Kommunisten im Kampf für sozialistische Demokratie verdoppeln, seien sie nun Mitglieder der SED oder nicht, denn ihre Sache ist es, der wachsenden demokratischen Aktivität die sozialistische Perspektive zu geben und gegen die Versuche der Bourgeoisie anzugehen, die demokratischen Bestrebungen der Arbeiterklasse und des Volkes für ihre Zwecke auszunutzen. Nur wenn der Kampf um Meinungsfreiheit und sonstige demokratische Rechte verbunden wird mit der schonungslosen Entlarvung der demagogischen Freiheitsparolen, die durch die Bourgeoisie und ihre rechtssozialdemokratischen Agenten über die bürgerlichen Massenmedien eingeschleust werden, und dieser Kampf der Erringung der unmittelbaren Herrschaft der Arbeiterklasse untergeordnet ist, vermag er zur sozialistischen Demokratie zu führen. Sozialistische Demokratie ohne die direkte Machtausübung der Arbeitermassen ist unmöglich, wie letztere ohne die Organisierung der Arbeiter in durch sie selbst oder ihre Delegierten gebildeten Räten – welches auch immer deren konkrete, durch bestimmte Umstände bedingte und von den Arbeitern selbst gefundene Form sein mag –, in Räten, die die demokratische Kontrolle über die von den Arbeitern gewählten Vertretern nicht nur durch deren ständige Rechenschaftspflicht, sondern auch ihre jederzeitige Absetzbarkeit garantieren. Herrschaft der Arbeiterräte und sozialistische Demokratie sind eins. Die Vereinigung der Arbeiterräte im Maßstab des ganzen Landes wird nicht nur die Verwirklichung der demokratischen Rechte für alle Werktätigen ermöglichen, sie wird auch durch die wirkliche Teilnahme aller an der Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten den gesellschaftlichen Produktionsprozess von seiner bürokratischen Deformation befreien. Die Errichtung der sozialistischen Demokratie muss daher die Tat der Arbeiter selbst sein. Deshalb muss auch heute den Interessen und Bedürfnissen der Arbeiter die größte Aufmerksamkeit seitens der oppositionellen Kommunisten geschenkt werden.
Nachdrücklich werden wir oppositionellen Kommunisten jedoch auch – so wie Du es immer getan hast – allen, die mit unseren heutigen Zuständen unzufrieden sind, und durch die Ausreise ins gesellschaftliche Gestern ihr Glück zu finden hoffen, verdeutlichen müssen, dass man aus dem Sumpf nicht in den Fluss, sondern an trockenes Land streben muss, um seine Füße dem Wasser zu entziehen. Die wichtigste Aufgabe jedoch, die vor uns oppositionellen Kommunisten in der Gegenwart steht, ist die Verbesserung unserer eigenen Befähigung, der Arbeiterklasse im Kampf für sozialistische Demokratie voranzugehen. Kommunistische Träume mögen uns anspornen, aber nur Kenntnis vermag uns zu befähigen. Das gründliche Studium der Schriften von Marx, Engels, Lenin und anderer kommunistischer Revolutionäre sowie der Geschichte der kommunistischen Bewegung in der Gemeinschaft von Genossen wird uns in die Lage versetzen, die Fragen unserer Zeit und unserer Gesellschaft konkreter als bisher zu beantworten. Der kommunistische Zirkel ist die geeignete Form dazu. Er lässt sich vor den Augen der Bürokratie verbergen und gibt dem Einzelnen die Kraft der Genossen, u. a. auch die Kraft, mit der Alltagsheuchelei fertig zu werden. Wo ein einzelner Genosse ist, muss er die Gemeinschaft der anderen suchen, wo die Diskussion unter befreundeten Genossen existiert, muss sie systematisch geführt werden und wo ein Zirkel bereits wirkt, muss er seine Verbindungen ausdehnen. Wenn jeder für sozialistische Demokratie eintretende Kommunist in einem Zirkel arbeitet oder noch besser einen leiten wird, kann es die Bürokratie viel weniger wagen, einen von ihnen auszubürgern, wie es mit Dir geschah, weil die Kraft der kommunistischen Opposition dann bereits eine Macht sein wird.
Jetzt konnten wir Deine Ausbürgerung noch nicht verhindern, aber wir werden alles daran setzen, ihre Rücknahme zu erzwingen. Wir fordern jeden Bürger der DDR und besonders die Arbeiter auf, gegen die Aberkennung Deiner DDR-Staatsbürgerschaft zu protestieren und ihre Rücknahme zu verlangen, sei es durch Unterschriftensammlungen, Briefe an den Ministerrat oder sonstige Formen offenen Protestes. Diejenigen, die dazu nicht bereit sind, sei es, weil sie berufliche, familiäre oder sonstige Pressionen befürchten müssen oder weil ihnen einfach der Mut fehlt, fordern wir dazu auf, wenigstens anonyme Protestbriefe an die Regierungen zu schreiben.
Lieber Genosse Wolf Biermann! Die Bourgeoisie und ihre rechtssozialdemokratischen Helfer werden in der nächsten Zeit Deine Ausbürgerung aus der DDR als willkommenen Vorwand für eine zügellose antikommunistische und gegen die DDR gerichtete Hetze missbrauchen, um von ihren eigenen Schwierigkeiten abzulenken. Wir wissen, dass Du Dich entschieden dagegen verwahrst. Unter den für Dich jetzt veränderten Umständen, die Dich unmittelbar in die Klassenauseinandersetzung in der BRD stellen, solltest Du Dir keine Gelegenheit entgehen lassen, öffentlich zum Kampf gegen die Berufsverbote, gegen die Einschränkung demokratischer Rechte und für den Sozialismus in der BRD aufzurufen. Je mehr die Bourgeoisie versucht, kommunistische »Abweichler« als Bündnispartner zu vereinnahmen, umso nachdrücklicher müssen diese ihr »auf die Pfoten hau’n« und den existierenden Sozialismus, der selbst in seiner deformierten Form eine große Errungenschaft der internationalen Arbeiterklasse ist, gegen die Kritik des historischen »gestern« verteidigen. Du hast Dir Deine jetzige sehr unangenehme Lage nicht ausgesucht. Aber verliere nicht den Mut, unser Ziel lohnt. Vertraue auf die Kraft der Arbeiterklasse und der Werktätigen unseres Landes – sie werden Dich zurückholen! Du bleibst ein Bürger der DDR, weil die Bürger dieses Landes es wollen. Singe ihnen Deine Lieder, denn sie werden gebraucht. (Davon konnte man sich übrigens durch den massenhaften Kauf von Tonbändern unmittelbar vor der Übertragung Deines Auftritts in Köln im Fernsehen und Rundfunk der BRD überzeugen.) Singe Deine Lieder jedoch so, dass nicht ihr Transportmittel den Inhalt verschlingen kann; sie finden ohnehin den Weg zu uns.
Die breite Solidarität mit Dir in der DDR hat unsere Bürokratie in Furcht versetzt. Nichts vermag dies besser auszudrücken als die Verhaftung oder Bewachung Deiner Freunde, das Riesenaufgebot an bewaffneter Macht, um Künstler zu »schützen« usw. Doch es wird ihr nichts nützen: Die sozialistische Demokratie kann man aufhalten, verhindern kann man sie nicht. Unser Sieg über den bürokratischen Absolutismus ist gewiss, weil er historisch notwendig und das tiefe Bedürfnis der Arbeiterklasse ist.
Wir wünschen Dir Kraft und Stärke, den Kampf für sozialistische Demokratie weiterzuführen und uns noch viele kommunistische Lieder, die die Arbeiterklasse ermutigen, ihr Werk zu vollbringen. Aber auch die Ermutiger brauchen Ermutigung, heißt es in einem Deiner Lieder. Dieser Brief soll Dir Ermutigung sein. Wir bitten Dich, ihn der sozialistischen und kommunistischen Presse in der BRD zur Veröffentlichung zu übergeben. Wenn wir diesen Brief anonym verfassen, so nicht, weil wir wie jene Dir schmeichelnden Freunde, »scharf sind auf die scharfen Sachen und selber in die Hosen machen«, sondern weil wir weiterhin auch in der Partei gegen die Herrschaft der Bürokratie und ihres Apparats kämpfen wollen. Angesichts der jetzt noch bestehenden Schwäche der innerparteilichen Opposition halten wir unseren Ausschluss aus der Partei im Moment für unzweckmäßig; und der Kampf gegen eine gerissene Bürokratie und ihren Zwangsapparat kann nicht allein mit offenen Protesten geführt werden.
Mit solidarischen kommunistischen Grüßen | Oppositionelle Mitglieder der SED | November 1976