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Schriftstellerlesung bei Ekkehard Maaß

6. Oktober 1981
Information Nr. 507/81 über eine am 20. September 1981 bei dem DDR-Bürger Maaß, exmatrikulierter Philosophiestudent, wohnhaft Berlin, durchgeführte Lesung

Dem MfS vorliegenden internen Hinweisen zufolge fand am 20. September 1981, von 20.00 bis ca. 23.00 Uhr, in der Wohnung des Maaß, Ekkehard1 (30), wohnhaft: 1071 Berlin, [Straße, Nr.], ohne festes Arbeitsverhältnis, eine Zusammenkunft – an der etwa 40 Personen teilnahmen – statt, während der sogenannte Nachwuchsliteraten aus ihren »Arbeiten« lasen.2

Maaß hat in der Vergangenheit bereits mehrmals Zusammenkünfte in Privatwohnungen und kirchlichen Einrichtungen organisiert, bei denen wiederholt Personen mit negativ-feindlichen Grundhaltungen auftraten.

(Maaß geht seit seiner Exmatrikulation als Philosophiestudent 1979 keiner geregelten Tätigkeit nach. Gelegentlich tritt er in kirchlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen als Sänger mit Liedern des sowjetischen Lyrikers Bulat Okudschawa3 bzw. als Kleindarsteller auf. Maaß gehörte zum Verbindungskreis Biermanns4 und unterstützte aktiv die Sammlung von Unterschriften gegen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR Biermanns. Die Ehefrau des Maaß ist freiberufliche Keramikerin.)

Die »Lesung« am 20. September 1981 wurde durch Maaß eröffnet. Zu Beginn trug der Sänger und Texter der Gruppe »Karls Enkel«, Wenzel, Hans-Eckardt,5 drei Lieder vor. In einem dieser Lieder wurden in ironischer und politisch-aggressiver Form die Poetenseminare in Schwerin6 behandelt.

Am Anschluss daran trugen insgesamt 17 Personen größtenteils selbstgefertigte Texte vor, die zum überwiegenden Teil sozialismusfremde, den politischen und weltanschaulichen Positionen der DDR widersprechende sowie pazifistische Aussagen oder Andeutungen enthielten. Ein wesentlicher Teil der Texte ist nach intern vorliegenden Hinweisen literarisch minderwertig bzw. als vulgär zu bezeichnen.

Der überwiegende Teil der verlesenen Texte berührte wesentliche Teile der sozialistischen Gesellschaft und behandelte inhaltlich u. a. angebliche Erscheinungen der Bürokratie, enthielt Angriffe auf die sozialistische Erziehungs- und Bildungspolitik und die sozialistische Wehrerziehung, brachte Zweifel an Entfaltungsmöglichkeiten der Persönlichkeit im Sozialismus sowie Probleme des Altwerdens zum Ausdruck.

(Die verlesenen Texte liegen auszugsweise dem MfS vor.)

Hinweisen zufolge habe die gesamte Veranstaltung düster, deprimierend und pessimistisch gewirkt. Durch fatalistische Aussagen sei eine beängstigende Widerspiegelung eines verworrenen Weltbildes gegeben worden.

Folgende, sich literarisch betätigende Personen, die während der Veranstaltung z. T. »neue Arbeiten« lasen, sind auch mit Beiträgen in dem Anthologievorhaben bei der Akademie der Künste vertreten7 (siehe Information des MfS Nr. 464/81 vom 14. September 1981):

Schulze, Dieter – Berlin

Häfner, Eberhard8 – Erfurt

Gorek-Papenfuß, Bert9 – Berlin

Hegewald, Wolfgang10 – Leipzig

Kolbe, Uwe11 – Berlin

Brasch, Peter12 – Berlin

Rom, Michael13 – Dresden

Döring, Stefan14 – Berlin

Rosenthal, Rüdiger15 – Berlin

Rathenow, Lutz16 – Berlin

Lorek, Leonhard17 – Brandenburg

Anderson, Alexander18 – Dresden

Weiterhin lasen:

Kirsch, Rainer19 – Halle

Kahlau, Heinz20 – Berlin

Kulikowsky, Traudl21 – Berlin

Manzke, Roland – Berlin

Faktor, Jan22 – ČSSR-Bürger – Berlin.

Die ebenfalls durch Maaß eingeladenen Schriftsteller Heiner Müller23 und Volker Braun24 waren nicht anwesend.

Neben den genannten Personen waren weitere sich z. T. literarisch betätigende Personen anwesend, darunter Braband, Jutta25 und Paris, Helga.26

Es wurden geeignete Maßnahmen eingeleitet, um den Personenkreis und weitere beabsichtigte Aktivitäten rechtzeitig in Erfahrung zu bringen.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

  1. Zum nächsten Dokument Tödlicher Unfall von drei NVA-Soldaten bei unerlaubter Entfernung

    6. Oktober 1981
    Unerlaubte Entfernung durch drei Soldaten der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung in Briest, Kreis Brandenburg, Bezirk Potsdam [Bericht K 2/26]
  2. Zum vorherigen Dokument 5. Tagung der 3. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) der DDR

    1. Oktober 1981
    Information Nr. 496/81 über die 5. Tagung der III. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR vom 18. bis 22. September 1981 in Güstrow

  1. Im Original: »Eckehard«. Ekkehard Maaß, Jg. 1951, Liedermacher, Nachdichter, 1978–84 Gastgeber und Organisator von Lesungen unabhängiger Schriftsteller in Ostberlin.

  2. Vgl. Gegenverkehr auf der Töpferscheibe. In: Kaiser, Paul; Petzold, Claudia: Bohème und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere 1970–1989. Berlin 1997, S. 349–355, und Böthig, Peter; Michael, Klaus (Hg.): MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit. Leipzig 1993.

  3. Bulat Okudschawa, Jg. 1924, sowjetischer Schriftsteller und Liedermacher. Okudschawa griff in seinen Liedern nicht nur Motive der städtischen Folklore und der Zigeunerromantik auf, er setzte sich auch in einer Weise mit Tagesereignissen, Kunst und Natur auseinander, sodass er bald als moralische Instanz und Symbol der Aufrichtigkeit gefeiert wurde. Die sowjetische Parteiführung stufte seine Texte als versteckte Kritik an den Lebensumständen in der Sowjetunion ein und zwang ihn, sich in einem offenen Brief in der »Literaturnaja Gaseta« von westlichen Interpretationen seiner Texte zu distanzieren.

  4. Wolf Biermann, Jg. 1936, Liedermacher, 1976 während einer Konzertreise in der Bundesrepublik vom SED-Politbüro ausgebürgert.

  5. Im Original: »Eckehard«. Hans-Eckardt Wenzel, Jg. 1955, Liedermacher, 1976–85 Liedertheater »Karls Enkel«, seit 1981 freischaffend, 1986 erste Schallplatte »Stirb mit mir ein Stück« (Amiga), 1978 Johannes-R.-Becher-Preis, 1990 Heinrich-Heine-Preis.

  6. Poetenseminare waren fester Bestandteil der SED-Kulturpolitik. Diese Schreibseminare (Poetenseminare) wurden von der FDJ für Jugendliche im Alter von 14 bis 26 Jahren organisiert. In diesem Rahmen fand von 1970 bis 1989 jeweils ein einwöchiges zentrales Poetenseminar in Schwerin statt. Vgl. Reitel, Axel: Die Zentralen Poetenseminare der FDJ von 1970 bis 1979. Berlin 2008; zum Poetenseminar 1981: Lyrik und Prosa von Alexander Ruika u. a. In: Neue Deutsche Literatur 30(1982)1, S. 61–64.

  7. Franz Fühmann hatte Ende 1980/Anfang 1981 mit Uwe Kolbe und Sascha Anderson besprochen, eine Anthologie mit Texten jüngerer Autoren als ein »Arbeitsheft« der Akademie der Künste zu veröffentlichen. Kolbe und Anderson trugen aus ihrem z. T. ästhetisch und politisch sehr unterschiedlichen Umfeld unveröffentlichte Texte zusammen, die Anfang Juni vorlagen und an Fühmann gingen. Da Anderson zugleich das MfS über das Unternehmen informierte, konnte dort die adäquate Gegenstrategie entwickelt und in Gang gesetzt werden, um das als staatsfeindlich angesehene Vorhaben zu verhindern. Vgl. Braun, Matthias: »Die Anthologie von den jungen Leuten lässt mich nicht mehr schlafen«. In: Franz Fühmann. Text + Kritik. München 2014, S. 121–136; Kolbe, Uwe: Die Situation. Göttingen 1994, S. 28–31. Darüber hinaus hatten sich beispielsweise Christa Wolf und Stephan Hermlin für die Freilassung dreier junger Schriftsteller bei Erich Honecker eingesetzt. Vgl. Rathenow, Lutz, in: Schlüter, Kai: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Berlin 2010, S. 176–177.

  8. Häfner, Eberhard, Jg. 1941, Schriftsteller, Kupfer- und Silberschmied, bis 1985 als Restaurator in den Kirchlichen Werkstätten Erfurt beschäftigt, danach freischaffend in Berlin, 1989 erschien im Aufbau Verlag ein erster Band mit Lyrik »Syndrom D«.

  9. Im Original: »Gorek-Papenfuß«. Bert Papenfuß-Gorek, Jg. 1956, Lyriker, seit 1980 freier Schriftsteller, zahlreiche Veröffentlichungen im Samizdat und einige in legalen Sammlungen in der DDR, seit 1994 auch Redakteur der Zeitschriften »Sklaven«, »Sklavenaufstand«, »Gegner«, »Abwärts«, 1998 Erich-Fried-Preis.

  10. Wolfgang Hegewald, Jg. 1952, Schriftsteller, studierte Informatik und Theologie, 1983 Übersiedlung in die Bundesrepublik.

  11. Uwe Kolbe, Jg. 1957, Lyriker, erste Veröffentlichung in »Sinn und Form« 1976, seit 1979 freischaffend, 1980/81 Sonderkurs am Literaturinstitut Leipzig, 1982–85 Publikationsverbot, Autor und Herausgeber im Samizdat, 1987 Übersiedlung in die Bundesrepublik, 2012 Heinrich-Mann-Preis. Zum Versuch des MfS, Kolbe als IM anzuwerben, vgl. Kolbe, Uwe: Eine Art »IM-Vorlauf« … In: Feinderklärung. Literatur und Staatssicherheitsdienst. Text + Kritik, H. 120. München 1993, S. 26–28.

  12. Peter Brasch, Jg. 1955, Schriftsteller, Hörspielautor und Regisseur, 1976 wegen seines Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung von der Universität relegiert, in den 1980er Jahren Dramaturg beim Rundfunk, freischaffend seit 1990.

  13. Michael Rom, Jg. 1957, 1981/82 Sänger und Texter in der Punkband Zwitschermaschine (Cornelia Schleime/v, Ralf Kehrbach/g, Mathias Zeidler/b, Lothar Fiedler/g, Wolfgang Grossmann/dr, Volker Palma/tb, v).

  14. Stefan Döring, Jg. 1954, Schriftsteller und Übersetzer, seit 1980 freischaffend, seit 1990 Mitherausgeber der Zeitschriften »Sklaven«, »Gegner«, »Abwärts«.

  15. Rüdiger Rosenthal, Jg. 1952, Lyriker, Publizist, bis 1977 Zirkel schreibender Arbeiter der TH Magdeburg und Lyrikclub Pankow, ab 1980 freischaffend, veröffentlichte in »Temp(e)ramente« 1977/1.

  16. Lutz Rathenow, Jg. 1952, Schriftsteller, bis zum Verbot 1975 Leiter des Arbeitskreises Literatur und Lyrik in Jena, 1976 Verhaftung durch das MfS, 1977 Relegierung von der Universität, seit 1977 freischaffend.

  17. Leonhard Lorek, Jg. 1958, Schriftsteller, zahlreiche Veröffentlichungen im Samizdat, 1988 Übersiedlung in die Bundesrepublik.

  18. Sascha Anderson, Jg. 1953, Lyriker, 1975–90 unter verschiedenen Decknamen auch nach seiner Übersiedlung nach Westberlin 1986 einer der wichtigsten Einflussagenten des MfS in der Lyrikszene der DDR. Vgl. Fuchs, Jürgen: Landschaften der Lüge. Über Schriftsteller im Stasi-Netz. Teile I–V. In: Der Spiegel v. 18.11., 25.11., 2.12., 9.12. u. 16.12.1991.

  19. Rainer Kirsch, Jg. 1934, Lyriker und Nachdichter, 1963–65 Studium am Literaturinstitut Leipzig, nach Veröffentlichung der Komödie »Heinrich Schlaghands Höllenfahrt« 1973 Ausschluss aus der SED, 1990 Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes.

  20. Heinz Kahlau, Jg. 1931, Lyriker, 1953–56 Meisterschüler bei Bertolt Brecht, seit 1956 freischaffend, 1970–80 Präsident des PEN-Zentrums DDR.

  21. Im Original: »Kulikoski«. Traudl Kulikowsky, Jg. 1943, Schauspielerin, 1971–82 auch als IM des MfS aktiv, 1984 Übersiedlung nach Westberlin.

  22. Jan Faktor, Jg. 1951, Schriftsteller, 1978 Übersiedlung aus der ČSSR in die DDR, in den 1980er Jahren zahlreiche Veröffentlichungen im Samizdat. Jan Faktor las seine Gedichte, wie er in einer Mail vom 12.5.2015 an den Bearbeiter schrieb, »nicht selbst […], witzigerweise hat das Sascha Anderson übernommen. Und ich habe es sofort bereut – er las sie völlig inadäquat, viel zu ernst«.

  23. Heiner Müller, Jg. 1929, Dramatiker, 1961 Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, international anerkannter Bühnenautor, seit 1970 Dramaturg am Berliner Ensemble, 1984 Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1990–93 Präsident der Akademie der Künste.

  24. Volker Braun, Jg. 1939, Schriftsteller, zeitweise Dramaturg und Hausautor am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater.

  25. Jutta Braband, Jg. 1949, 1972 Exmatrikulation von der Fachschule für Außenwirtschaft aus politischen Gründen, 1971–75 IM des MfS, Abbruch des Kontaktes, seit 1975 in verschiedenen oppositionellen Gruppen aktiv, 1979 Austritt aus der SED, 1980 neun Monate Haft wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme« zum Sozialistischen Osteuropakomitee in der Bundesrepublik, arbeitete als Modezeichnerin.

  26. Helga Paris, Jg. 1938, Fotografin, seit 1968 freischaffend. Helga Paris hielt diese Lesung, darauf wies Jan Faktor in seiner Mail an den Bearbeiter vom 12.5.2015 hin, auf einer Reihe von Fotos fest. Vgl. Quaas, Ingeborg; Gericke, Henryk (Hg.): brennzeiten. Die Keramikwerkstatt Wilfriede Maaß 1980–1989–1998. Ein Zentrum des künstlerischen Offgrounds in Ost-Berlin. Berlin 2014.