Analyse für die Zeit vom 16. bis 30.6.1954
7. Juli 1954
Analyse für die Zeit vom 16. bis 30.6.1954 [Nr. 12/54]
In der Berichtsperiode wurde allgemein wenig über politische Tagesfragen gesprochen.
Volksbefragung1
Die Volksbefragung stand während der gesamten Berichtsperiode im Mittelpunkt der politischen Diskussionen. [Zum] Ende der Berichtsperiode hat sich der Umfang der Diskussionen etwas vergrößert. Die meisten Diskussionen wurden in den volkseigenen Betrieben von Arbeitern und Angestellten geführt, innerhalb der Landwirtschaft meist von Angehörigen der MTS und von LPG-Bauern, unter der übrigen Bevölkerung meist von Hausfrauen und Rentnern. Jedoch sind die Diskussionen unter der Land- und übrigen Bevölkerung geringer als die in den Produktionsbetrieben. Der überwiegende Teil der Stimmen ist positiv. Darin bringt man meistens zum Ausdruck, dass man die Schrecken des letzten Krieges nicht vergessen hat und deshalb für den Frieden stimmen wird.
Ein Arbeiter aus dem VEB Maxhütte Unterwellenborn: »Wenn jetzt ein Mensch noch nicht weiß, wohin er sein Kreuz im Stimmzettel machen muss, dann ist das ein haltloser und für unsere Zeit nicht mehr tragbarer Mensch. Der Krieg und die vorangegangenen schweren Zeiten müssten doch jedem die Augen geöffnet haben. Ich bin für den Frieden und gegen die EVG2 und gegen die Stationierung von Atomwaffen in Westdeutschland.«3 Ein Angestellter der Betriebspoliklinik der Volkswerft Stralsund: »Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ich meine Stimme gegen die EVG und für einen Friedensvertrag abgebe.«
Eine Arbeiterin des MTS-Lehrkombinates Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Mein Mann kehrte schon 1918 als Kriegsbeschädigter zurück. Mein Sohn als Beinamputierter. Ich kenne die Leiden und Sorgen eines Krieges. Damit das nicht wieder vorkommt, stimme ich bei der Volksbefragung für den Frieden.« Eine Hausfrau aus Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Frage ist so eindeutig gestellt. Hier gibt es keine Ausrede. Alle Mütter wünschen, dass unseren Kindern die Schrecken des Krieges erspart bleiben.«
Im Zusammenhang damit verpflichteten sich verschiedentlich Brigaden oder die gesamte Belegschaft volkseigener Betriebe, bereits am 1. Tage der Volksbefragung ihre Stimme für einen Friedensvertrag und gegen EVG abzugeben.
Teilweise traten Diskussionen auf, die zum Ausdruck brachten, dass die Volksbefragung zwecklos sei bzw. überflüssig, da sowieso alle Menschen für den Frieden sind. Dabei äußerte man sich auch in der Form, dass die Volksbefragung nichts nützt, da Adenauer4 sich sowieso nicht von seinen Kriegsplänen abbringen lässt. Ein Rentner aus Krakow, [Bezirk] Schwerin: »Was nützt unsere Unterschriftensammlung sowie die Volksbefragung. Adenauer hat im Westen die Macht und setzt seinen Willen entgegen unseren Forderungen durch.«
Eine Arbeiterin aus der Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera: »Ich gebe auch meine Stimme für den Frieden, aber was hilft das, wenn die Volksbefragung nur bei uns durchgeführt wird und im Westen nicht. Der Kapitalismus macht ja doch was er will.« Ein Arbeiter aus dem Karl-Marx-Werk Magdeburg: »Wenn die Abstimmung nicht in Ost- und Westdeutschland stattfindet, hat sie sowieso keinen Zweck.«
Der Umfang der feindlichen Stimmen ist im Allgemeinen gering. Dabei ist festzustellen, dass die feindlichen Elemente die verschiedenartigsten Argumente gegen die Volksbefragung vorbringen. Dabei treten die Argumente wie – Die Fragestellung umändern in: Wer ist für die Regierung der DDR und wer für die Westdeutschlands – häufiger auf. Unter der Landbevölkerung hat das Argument, statt Volksbefragung die »Freie Wirtschaft«, einen größeren Umfang. Dies wird besonders von Großbauern und von ihnen beeinflussten werktätigen Bauern vertreten.
In den Bezirken Frankfurt und Schwerin trat im Zusammenhang mit der Volksbefragung die Hetze gegen die Oder-Neiße-Friedensgrenze etwas stärker auf.
Unter der übrigen Bevölkerung treten besonders die Pfarrer und die Angehörigen der Sekte »Zeugen Jehovas« negativ in Erscheinung.5 Teilweise lehnen diese Kreise eine Beteiligung an der Volksbefragung ab.
Ein Arbeiter aus Geringswalde, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Volksbefragung hat keinen Zweck, denn die stellen ja nur die Frage Krieg oder Frieden. Und für den Frieden sind wir alle. Sie sollten einmal die Frage stellen, wer ist für den Osten und wer für den Westen, dann würde das Ergebnis ganz anders aussehen.« Eine Arbeiterin aus dem VEB Perlonzwirnerei Plaue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Auf dem Zettel zur Volksbefragung müsste es heißen: Wer ist mit der jetzigen Regierung zufrieden oder wer nicht. Das wäre wenigstens nutzbringend für uns.«
Ein Mittelbauer aus Neuenhoffen,6 [Bezirk] Gera: »Statt einer Volksbefragung sollte man lieber die ›Freie Wirtschaft‹ und die Herabsetzung des Ablieferungssolles herbeiführen bzw. durchführen.« Ein Neubauer aus Stramehl, [Bezirk] Neubrandenburg: »Wir wollen die ›Freie Wirtschaft‹, denn das ist für uns wichtiger als die Volksbefragung.« In der Gemeinde Pressen, [Bezirk] Leipzig, äußerten Großbauern, dass die Abstimmung ganz gut und schön sei, aber: »Wir wollen die ›Freie Wirtschaft‹! Und was wird damit?«
Ein Bauer aus der Gemeinde Bantin, [Bezirk] Schwerin: »Wenn über Ostpreußen abgestimmt wird, dass diese Gebiete zur DDR kommen, dann stimmen alle Leute dafür.« Ein Gewerbetreibender aus Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt: »Ich habe meine Heimat verloren und bekomme durch die Volksbefragung und einen Friedensvertrag diese sowieso nicht wieder zurück. Wenn man eine Abstimmung über die Oder-Neiße-Friedensgrenze machen würde, hätte die DDR-Regierung mehr Anhänger.«
Ein Pfarrer aus Großrodich,7 [Bezirk] Dresden: »Der Text der Volksbefragung ist falsch. Es müsste heißen, bist Du für Adenauer oder bist Du für Pieck.«8 Ein Pfarrer aus Gröbern, [Bezirk] Leipzig:9 »Die Frage ist auf dem Stimmzettel für einen Christen nicht zu beantworten. Es muss heißen: Für östliche oder für westliche Orientierung. Gott bewahre die Pfarrer und die Christen vor der Volksbefragung.«
Die Ehefrau eines Pfarrers aus Satuelle, [Bezirk] Magdeburg, äußerte sich gegenüber dem Bürgermeister: »Mein Mann hat mir verboten, zur Volksbefragung zu gehen. Für mich gibt es keinen Friedensvertrag, auch keinen EVG-Vertrag. Der hiesige Staat unterstützt die Kirche nicht und deshalb unterstütze ich den Staat auch nicht.«
In Dessau, [Bezirk] Halle, äußerten sich einige Anhänger der »Zeugen Jehovas«, dass sie nicht zur Abstimmung gehen werden, weil es »Jehova« ihnen nicht gestattet. Ein Bibelforscher aus Heugendorf,10 Wismutgebiet:11 »Wenn eine Atombombe in meinen Garten fällt und Jehova will nicht, dass ich kaputtgehe, passiert mir nichts. Es ist alles egal, ob ich kaputtgehe oder nicht.« Einige Anhänger der religiösen Christengemeinde aus Rätzlingen, [Bezirk] Magdeburg: »Im Kreis Roda12 haben die ›Zeugen Jehovas‹ in einer Versammlung beschlossen, nicht zur Volksbefragung zu gehen, weil sie von einer Regierung, von der sie unterdrückt werden, nichts wissen wollen.«
Produktionsschwierigkeiten
Der Umfang der Produktionsschwierigkeiten hat sich gegenüber der vorigen Berichtszeit nicht wesentlich verändert. Die Schwierigkeiten traten infolge Materialschwierigkeiten in allen Bezirken außer Gera auf. Einen Schwerpunkt bilden weiterhin die Werften des Bezirks Rostock, insbesondere die Neptunwerft Rostock.
Landwirtschaft
Im Vergleich zur vorangegangenen Berichtszeit ist in der Frage der Futterversorgung eine Besserung eingetreten. Mehr tritt jetzt in Erscheinung, dass die MTS über Schwierigkeiten in der Beschaffung von Ersatzteilen klagen. Dadurch kommt es vor, dass Maschinen und Traktoren nicht einsatzfähig sind und dass aufgrund dessen die aufgestellten Pläne der MTS nicht eingehalten werden können. Zum Beispiel zeigte sich im Kreis Bützow, [Bezirk] Schwerin, am Tage der Erntebereitschaft,13 dass insgesamt 23 Traktoren, neun Binder, drei Dreschmaschinen, zwei Strohpressen und vier Elektromotoren wegen Mangel an Ersatzteilen nicht einsatzfähig sind.
In der MTS Blesewitz, [Bezirk] Neubrandenburg, kann der Reparaturplan nicht erreicht und der Einsatz der Erntemaschinen nur zu 60 Prozent erfüllt werden, weil es an Kugellagern für sämtliche Traktorentypen fehlt.
In der MTS Polenz,14 [Bezirk] Dresden, fehlen Ersatzteile für Lkw und Traktoren, dadurch ist ein rechtzeitiger Ernteeinsatz nicht möglich.
Feindtätigkeit
Die Zahl der verbreiteten Hetzschriften hat sich gegenüber der 1. Juni-Hälfte erhöht. Sie stieg von 606 400 Stück in der 1. Juni-Hälfte auf 1 723 500 Stück in der 2. Juni-Hälfte. Schwerpunkte in der Verbreitung waren Karl-Marx-Stadt 326 200, Potsdam 115 780, Magdeburg 112 400.
In den meisten Fällen handelt es sich um Hetzschriften des SPD-Ostbüros,15 die sich gegen die Volksbefragung richteten (Stimmzettel), und der unbekannten Feindzentrale mit der Unterschrift: »Deutsche der Bundesrepublik« zum 17. Juni. Von der »KgU«16 wurden kleinere Hetzschriften mit der Aufforderung, diese nach Westdeutschland zu schicken, verbreitet, Hetzschriften der NTS,17 des CDU- und FDP-Ostbüors, des UFJ18 und in tschechischer Sprache wurden in kleineren Mengen verbreitet. Außer einem Flugblatt des UFJ gegen die Volksbefragung handelt es sich hierbei um bereits bekannte Hetzschriften.
Gefälschte Schreiben zur Störung der Volksbefragung wurden in größeren Mengen bekannt.
Antidemokratische Tätigkeit
Abreißen von Plakaten zur Volksbefragung, Anmalen von Hetzlosungen und Hakenkreuzen, mutwilliges Entfernen von Fahnen – wurde anlässlich der Volksbefragung in allen Bezirken im verstärkten Maße festgestellt.
Terrorfälle wurden insgesamt fünf Fälle bekannt, die sich gegen ein Mitglied der SED, einen Bürgermeister, einen LPG-Vorsitzenden, einen VP-Angehörigen, einen FDJ- und einen FDGB-Funktionär richteten.
Diversionshandlungen traten insgesamt elf auf, davon in der Landwirtschaft fünf und in der Industrie sechs Fälle. In fünf Fällen wurden Fahrzeuge von Referenten, Wahlhelfern und Funktionären zur Volksbefragung beschädigt.
Brandstiftungen insgesamt vier in der Landwirtschaft.
Hetze der Westsender und -zeitungen
Im Mittelpunkt der Hetze stand die Volksbefragung. Ziel war die Verleumdung unserer Partei und Regierung unter dem Gesichtspunkt, dass die Abstimmung nicht frei und geheim vor sich ging und das Ergebnis »gefälscht« wurde. Gleichzeitig wurden Vorschläge zur Störung der Volksbefragung (z. B. Ausfüllung der Stimmzettel auf beiden Seiten) unterbreitet. In anderen politischen Tagesfragen traten keine grundsätzlich neuen Probleme in der Hetze auf.
In Bezug auf die Industrie wird weiter über Normenerhöhungen gehetzt, in der Landwirtschaft wurden weitere Beispiele über »Kollektivierung« zur Beunruhigung der Bauern gebracht.
Die Reichsbahn ist des Öfteren Gegenstand der Hetze der Westsender. Die Lage wird als »katastrophal« bezeichnet und den Angestellten werden Hinweise gegeben, wie sie sich den einzelnen Anweisungen entziehen können (z. B. Lokführer bei durch Funkenflug verursachten Bränden).
Gegen die VP und KVP19 werden immer wieder Verleumdungsfeldzüge gestartet. Ziel: Beeinflussung der Jugendlichen, nicht zur KVP zu gehen. Zur Einstellung der VP-Angehörigen zu ihrer Arbeit werden mehrfach Beispiele gebracht, dass bei Zug- oder anderen Kontrollen die VP-Angehörigen nicht so hart vorgehen wollen, aber aus Angst vor Strafe doch machen, was angeordnet wird.
Zur Arbeit des FDGB-Feriendienstes wurde in mehreren Sendungen und Artikeln Stellung genommen und dabei gehetzt, dass niemand seinen Ferienplatz wählen könne, nur wenige Arbeiter überhaupt einen Platz erhalten und sehr viel bezahlen müssen.