Direkt zum Seiteninhalt springen

Zur Beurteilung der Situation

5. Juli 1954
Informationsdienst Nr. 2252 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über politische Tagesfragen wird im Allgemeinen wenig gesprochen. Über die Volksbefragung wurden uns nur noch wenige Diskussionen bekannt.1 Diese Stimmen sind meist positiv. Im Allgemeinen wird das Ergebnis der Volksbefragung begrüßt, wobei man zum Ausdruck bringt, dass man auch nichts Anderes erwartet hätte. Ein parteiloser Arbeiter aus Karl-Marx-Stadt: »Ich begrüße das Ergebnis, obwohl mich der Erfolg weniger überrascht. Es war ja vorauszusehen, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung für den Friedensvertrag entscheidet.«

Eine Arbeiterin aus dem VEB Cuwifa in Cunersdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wie das Ergebnis der Wahl gezeigt hat, ist der überwiegende Teil der Bevölkerung in der DDR für den Frieden. Deshalb gilt es für diese Menschen, fest zusammenzustehen, um den Frieden zu erhalten, damit die Kriegsbrandstifter nicht ein zweites Korea aus Deutschland machen.«2

Ein Arbeiter aus dem VEB Jenapharm, [Bezirk] Gera (parteilos): »Ich bin Zeuge bei der Auszählung der Stimmen in meinem Wahllokal gewesen. Da ging es ordentlich zu und es wäre nicht möglich gewesen, irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Bei uns in Lobeda haben alle stimmberechtigten Einwohner ihre Stimme abgegeben. Nur unser Pastor hat sich nicht bewegen lassen, zur Abstimmung zu gehen. Er ist der Einzige vom ganzen Ort.«

Nur ganz vereinzelt wurden uns negative Stimmen bekannt.

Ein Arbeiter aus dem Seehafen Wismar, [Bezirk] Rostock: »Ich habe im Wahlausschuss mitgearbeitet und den besten Eindruck von der demokratischen Wahl bekommen. Wenn es wirklich ehrlich zugegangen wäre, dann hätten über die Hälfte der Stimmen ungültig sein müssen.«

Eine Arbeiterin aus dem VEB Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« Rudolstadt, [Bezirk] Gera: »Es gibt noch Menschen, die nicht zur Wahl waren. Die haben aber Mut. Da spricht man von freien Wahlen, dabei ist alles Betrug. Die können genau feststellen, wann jeder Einzelne gewählt hat. Außerdem waren die Zettel so durchsichtig, dass man, wenn sie zugefaltet waren, genau sehen konnte, wo der Betreffende sein Kreuz gemacht hat. Ich selbst habe mich beraten lassen, dass es besser ist, wenn ich wählen gehe. Soll die Regierung ruhig glauben, wir stehen hinter ihr. Vielleicht gehen dann die Russen und wir bekommen bald Frieden.«

Aus Gera wird uns bekannt, dass im VEB Jenapharm über die durchgeführte Abschlagszahlung Missstimmung herrscht. So erhielten z. B. die Kollegen der Klempnerei DM 110, obwohl sie größtenteils im Leistungslohn stehen und immer DM 160 erhielten. Ein Arbeiter äußerte sich wie folgt: »So wie heute mein Abschlag, so ist auch heute meine Leistung. Dieser Haufen (gemeint sind gebogene Ringe) genügt für heute, obwohl ich noch einmal so viel machen könnte. Wenn die uns unser verdientes Geld nicht auszahlen wollen, oder können, dann sollen sie es auch an der Leistung merken.«

Produktionsschwierigkeiten entstanden in einigen Betrieben wegen Material- und Arbeitskräftemangel. Bei der Bau-Union Küste Stralsund, [Bezirk] Rostock, bestehen Schwierigkeiten in der Beschaffung von Rundeisen in allen Stärken. Sie werden in erster Linie für Objekte der KVP,3 der VP und der VP See benötigt. Es besteht die Gefahr, dass einige Objekte zum Stillstand kommen.

Die Kollegen des VEB Thuringia in Sonneberg,4 [Bezirk] Suhl, haben sich verpflichtet, zusätzlich Massenbedarfsgüter herzustellen. Öfen und Herde. Es fehlen ihnen Blech sowie Schrauben, um diese Verpflichtung zu realisieren.

Im VEB Schutzbekleidung Dahme, [Bezirk] Cottbus, fehlen 15 Nähmaschinen. Dadurch ist die Planerfüllung mit 16,5 Prozent in Rückstand gekommen.

Im VEB Baubetrieb Luckau, [Bezirk] Cottbus, bestehen Materialschwierigkeiten an Hohl- und Lochsteinen sowie Zement und Bauholz. Dadurch wurde der Finanzplan um 120 000 DM nicht erfüllt.

Im Buna-Werk,5 [Bezirk] Halle, besteht ein Mangel an Arbeitskräften. So ist z. B. der Zimmereibetrieb in kurzer Zeit derart zusammengeschmolzen, dass die anfallenden Arbeiten nicht in dem Maße durchgeführt werden können, wie es die Produktion und deren Sicherheit verlangen.

Im VEB Textilwerk Zittau ist die Energieversorgung sehr schlecht. Ebenfalls besteht eine schlechte Wasserversorgung, was sich dahingehend auswirkt, dass Produktionsausfälle eintreten und die Klimaanlagen nicht produktionsfähig sind.

Produktionsstörung

Im Betriebskraftwerk Hirschfelde, [Bezirk] Dresden, wurden durch Entgleisung zwei Bagger blockiert. Dadurch entstand ein Planrückstand von 49 t Brikettierkohle. Die Störungsdauer: ca. 30 Stunden.

Im VEB Kaliwerk »Ernst Thälmann« Merkers, [Bezirk] Suhl, trat eine Produktionsstörung ein. Ursache: Überlastung des Nachlöseelevators, welcher auf Laufschienen läuft. Es wurden ca. 30 m Laufschienen dadurch beschädigt, Schaden ca. 60 000 DM.

Im Sprengstoffwerk Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, kommt es in letzter Zeit oft vor, dass bereits brennende Kohlenwagen in das Werk einliefen, dies bedeutet eine große Gefahr für das Werk. Trotz ständiger Proteste und Reklamationsschreiben vonseiten der Leitung des Sprengstoffwerkes wurde in dieser Beziehung nichts verändert.

Handel und Versorgung

Die Konsumgenossenschaft Strehla, [Bezirk] Dresden, erhielt im April mehrere Kühlschränke, die dringend benötigt werden und nicht verkauft werden können, weil kein passender Schalterschutz von 220 Volt vorrätig ist.

Dem VE Kontor Import und Lagerung-Fleisch-Fette-Molkereiprodukte, [Bezirk] Magdeburg, fehlen am Ende des II. Quartals 1954 ca. 3,5 Millionen DM zur Bezahlung ihrer Rechnungen.

In den Kreisen Pasewalk und Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg, klagen Bienenzüchter darüber, dass sie zur Ablieferung des Honigs keine Gläser erhalten.

Im Fischkombinat Rostock sind 3 300 kg Rotbarsch verdorben.

In Genthin, [Bezirk] Magdeburg, lagern 1½ t Schokoladenerzeugnisse, für die keine Absatzmöglichkeiten geschaffen werden können.

Landwirtschaft

Unter der Landbevölkerung wird nach wie vor zu aktuellen politischen Problemen wenig Stellung genommen. Über die Volksbefragung wird nur noch vereinzelt gesprochen, überwiegend positiv. Ein Bauer aus Teichel, [Bezirk] Gera: »Ich habe für den Frieden gestimmt, weil wir Bauern am meisten den Frieden brauchen und am stärksten den Krieg spüren. In unserem Ort sind allein sieben Bauern aus dem Zweiten Weltkrieg nicht wiedergekommen. Dies darf nie wieder geschehen.«6

Die im geringen Maße bekannt gewordenen negativen bzw. feindlichen Stimmen über die Volksbefragung stammen meist aus großbäuerlichen Kreisen. Ein Großbauer aus Reichenau, [Bezirk] Dresden: »Ich wusste, dass es so kommen würde, aber die, die dagegen gestimmt haben, sollten nicht so viel quatschen, das ist zu gefährlich. Wenn unsere Reichenauer SED ihre bauernfeindliche Politik nicht ändert, dann sieht es zu den Volkskammerwahlen noch ganz anders aus. Die Ergebnisse sind dann noch schlechter.«7

Zwei Großbauern äußerten gegenüber dem BHG-Leiter in Nebitzschen, [Bezirk] Leipzig: »Die Fragestellung ist nicht richtig gewesen. Man hätte die Vertrauensfrage an die Regierung stellen müssen.«

Eine Großbäuerin aus Deutsch, [Bezirk] Magdeburg: »Wenn der Ami Atombomben wirft, dann sind wir wenigstens gleich alle kaputt.8 So geht man ja auch zugrunde. Das ewige Soll, die Verfolgungen usw., dieser Staat ist doch nur für die LPG da.«

Nachfolgend einige Beispiele über wirtschaftliche Mängel und Schwierigkeiten, die verschiedentlich in der Landwirtschaft zu verzeichnen sind und über die diskutiert wird.

In der Gemeinde Sagast, [Bezirk] Potsdam, herrscht unter den Bauern eine schlechte Stimmung, weil ihnen die Milch für die Monate Mai und Juni noch nicht bezahlt wurde. Zum Beispiel hat eine Bäuerin Anfang Juni 800 l Milch für freie Spitzen9 abgegeben. Auch dafür hat sie noch kein Geld erhalten.10

Immer wieder wird von den Bauern, deren Schweinebestand von der Schweinepest befallen war oder ist, darüber gesprochen, dass für die notgeschlachteten Tiere noch keine Sollanrechnung erfolgte. In der Gemeinde Sagast, [Bezirk] Potsdam, erklärten die Bauern z. B. dass sie gern ihr Soll erfüllen möchten, aber es wird ihnen nicht erlaubt, privat Schweine zu kaufen. Deshalb müsste der Staat dafür sorgen, dass sie Läuferschweine erhalten.

Von den MTS

Unter den Kollegen der MTS Hamersleben, [Bezirk] Magdeburg, herrscht eine schlechte Stimmung, weil sie nicht die versprochenen Prämien erhalten haben. Die Kollegen äußern: »Wenn es Prämien für die Leistung gibt, setzt sich der Oberbuchhalter hin und rechnet bis in die späte Nacht, aber bei uns lässt er sich Zeit.«11

Die MTS-Spezialwerkstatt Stralsund hat Schwierigkeiten in der Beschaffung von Ersatzteilen und Material. Unter anderem fehlt es an Kant- und Wellenstahl.

Ganz vereinzelt wurden aus den Kreisen der ehemaligen Umsiedler negative Stimmen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze bekannt. Ein Bauer aus Heinersdorf, [Bezirk] Frankfurt: »Ich bin mit der Grenze hier drüben nicht einverstanden. Scheinbar haben diejenigen Menschen, die jetzt abgestimmt haben, im Kriege ihre Heimat nicht verloren, sonst wären sie auch meiner Meinung. Ich kann mein Haus drüben auf polnischer Seite sehen und es tut mir weh, wenn ich sehe, wie die polnischen Halunken mein Haus abreißen.«12

Ein Maurer, der zurzeit in der LPG Milda, [Bezirk] Gera, beschäftigt ist, äußerte im angetrunkenen Zustand: »Wir fordern unsere Heimat wieder.« Als ihn der LPG-Vorsitzende fragte, ob er denn hier keine neue Heimat gefunden habe, sagte er: »Ja, ich habe sie gefunden, aber trotzdem fordere ich meine Heimat wieder. Am 9. Juli [1954] werden wir ja sehen. Da passen wir besser auf, als am 17.6.1953.«13

Übrige Bevölkerung

Diskussionen über politische Probleme werden unter der übrigen Bevölkerung nur ganz vereinzelt geführt. Hierin wird meist das Ergebnis der Volksbefragung begrüßt. Teilweise wird Empörung geäußert, dass noch Menschen für die EVG14 und damit für den Krieg gestimmt haben. Ein Einwohner aus Barchfeld, [Bezirk] Suhl: »Ich hatte in unserer Gemeinde mit 20 Stimmen für die EVG gerechnet. Ich war erschüttert, als wir bei der Auszählung über 100 Stimmen für die EVG feststellten. Das ist wirklich empörend.«

Einige Urlauber aus dem Bernhardt-Döringheim15 in Ahlbeck, [Bezirk] Rostock: »Es ist doch bald unmöglich, dass gerade unter den Urlaubern in unserem Heim 40 für die EVG stimmten und 50 Stimmen ungültig waren.«

Eine Pastorin aus Siedenbollentin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte anlässlich eines Kirchfestes am 27.6.1954 in einem Vortrag: »Die Entwicklung der DDR, besonders im staatlichen und genossenschaftlichem Sektor, hemmt das Familienleben.« Dabei wies sie besonders auf die getrennten Arbeitsplätze und auf den »Zwang« der Eheleute, Staatsgeheimnisse gegeneinander zu wahren, hin. Diese Zustände würden zu einem Auseinanderleben und zur späteren Scheidung führen.

Bei der Kommunion in Badra, [Bezirk] Erfurt, am 27.6.1954, die durch den katholischen Pfarrer aus Sondershausen abgehalten wurde, hatten die Jungen und Mädel eine einheitliche Bekleidung an. Diese Bekleidung (Anzüge, Kleider und Schuhe) soll von dem Pfarrer besorgt worden sein und aus dem Westen stammen.

In der Gemeinde Panschwitz, [Bezirk] Dresden, werden auf einem bestellten Kartoffelfeld des Klostergutes drei Siedlungshäuser gebaut. Der größte Teil der Bevölkerung ist dagegen, dass auf diesem Feld gebaut wird. Im Zusammenhang damit treten feindliche Diskussionen gegen die Regierung und die Verwaltungsstellen auf.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:16 Halle 25, Dresden 210, Potsdam 2 910, Karl-Marx-Stadt 400, Neubrandenburg 200.

NTS:17 Potsdam 500, Dresden 3.

In tschechischer Sprache: Dresden 88, Karl-Marx-Stadt 11.

»Deutsche der Bundesrepublik«: Karl-Marx-Stadt 397.

Die Flugblätter wurden in den meisten Fällen sichergestellt.

Das FDP-Ostbüro versendet an die verschiedensten Institutionen der DDR, vorwiegend BPO, eine Hetzschrift »Die proklamatische Plattform der SED-Opposition«.

Antidemokratische Tätigkeit: In Strasburg, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde eine schwarz-rot-goldene Fahne von unbekannten Tätern heruntergerissen. In dem VEB Elektro-Wärmetechnik in Sörnewitz und Mewa, Kreis Meißen,18 [Bezirk] Dresden, wurden Hetzlosungen festgestellt.

Diversion: Eine Kontrolle in der Volkswerft Stralsund, [Bezirk] Rostock, ergab, dass sieben Schaumlöscher der Betriebsfeuerwehr mit einer gelblichen leicht brennbaren Flüssigkeit gefüllt waren.

Der Melker des örtlichen Gemeindebetriebes Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, führte die Kühe auf die Weide, obgleich er wusste, dass diese mit Kunstdünger bestreut war. Dadurch verendeten bisher fünf Kühe.19

Am 29.6.1954 wurde in Schöneck, Kreis Klingenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, eine Sende- und Empfangsanlage mit der Aufschrift »Made in USA« abgeworfen und sichergestellt.

Vermutliche Feindtätigkeit

Am 3.7.1954, gegen 5.00 Uhr brach im HO-Kaffee Sellin, [Bezirk] Rostock, ein Großbrand aus. Schaden: ca. 1 000 000 DM.

  1. Zum nächsten Dokument Zur Beurteilung der Situation

    6. Juli 1954
    Informationsdienst Nr. 2253 zur Beurteilung der Situation

  2. Zum vorherigen Dokument Zur Beurteilung der Situation

    3. Juli 1954
    Informationsdienst Nr. 2251 zur Beurteilung der Situation