Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (1)
17. August 1961
[Bericht] Nr. 440/61 über die gegenwärtige Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
1. Zu diplomatischen und politischen Aktivität des Gegners
Die am 17.8.1961 in Moskau überreichten Protestnoten der drei Westmächte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass im westlichen Lager ernstliche Differenzen hinsichtlich des weiteren Vorgehens gegen die Maßnahmen der DDR bestehen.1 In den Noten werden lediglich »Feststellungen« getroffen (angeblich Bruch internationaler Verträge, Illegalität der Staatsgrenze zwischen dem demokratischen Berlin und Westberlin, Nichtzuständigkeit der Mächte des Warschauer Paktes, Unzulässigkeit des Einsatzes der NVA in Berlin usw.), aber keine Gegenmaßnahmen angekündigt.
Bonns Vertreter in der Viermächte-Arbeitsgruppe, Grewe, betonte am 16.8. in Washington nach einer weiteren offensichtlich ergebnislosen Sitzung, dass Bonn enttäuscht sei, weil die Westmächte keine Maßnahmen gegen die »kommunistischen Absperrungen« ergreifen.2 Nach Mitteilung Grewes habe sich die Sitzung am 16.8. mit »den künftigen, nicht den unmittelbaren Aspekten« des Berlin-Problems beschäftigt.3 Die gleiche Ansicht über die Tagung der Viermächte-Arbeitsgruppe wurde auch von westlichen Korrespondentenkreisen zum Ausdruck gebracht.
Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des USA-Senats, Fulbright, der sich selbst für wirtschaftliche Sanktionen gegen die sozialistischen Länder aussprach, musste ebenfalls bestätigen, dass auf der bereits angeführten Sitzung der Viermächte-Arbeitsgruppe keine Einigung erzielt wurde.
Nach britischen Pressemeldungen sei Adenauer von Kennedy und Macmillan unzweideutig aufgefordert worden, keine drastischen Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die unter den gegenwärtigen Umständen die Situation nur verschlechtern würden. Britische Journalistenkreise erklären in diesem Zusammenhang, dass eine Wirtschaftsblockade gegen die DDR »eine äußerst zweischneidige Angelegenheit« sei, weil dies Auswirkungen auf die Verbindungswege nach Westberlin und damit auf die Interessen der Westmächte habe.
In diesem Zusammenhang verdient die von Adenauer nach seinem Gespräch mit Smirnow auf einer Wahlkundgebung abgegebene Erklärung Beachtung, wonach in Verbindung mit dem Abschluss eines Friedensvertrages die eigentliche »Krise um Berlin« erst noch kommen werde.4
Die Vorschläge des amerikanischen Senators Mansfield, Westdeutschland als »Rechtsnachfolger der alliierten Schutzmächte« in Westberlin einzusetzen, wurden von Bonn mit der »Begründung« abgelehnt, dass nur die sogenannte Viermächte-Verantwortung für Berlin »die Freiheit Westberlins und der Zugangswege« garantieren könne.
Führende Bonner Politiker, u. a. Strauß und Lemmer, sind offensichtlich bemüht, mit ihren im Rundfunk bzw. in der Westpresse abgegebenen Erklärungen die Zurückhaltung der Westmächte und die dadurch beeinflusste Bonner Haltung zu »rechtfertigen«. Während Lemmer direkt aufrief, keinerlei Misstrauen gegen die Haltung der Alliierten zu zeigen, erklärte Strauß demagogisch, wer westdeutsche Gegenmaßnahmen fordere, müsse auch sagen, ob er Krieg wolle oder nicht.
In der Sitzung des Bonner Bundestages am 18.8. gibt Adenauer eine Regierungserklärung ab.5 Nach ihm werden die Fraktionsvorsitzenden sprechen. Nach einer internen Information habe Amrehn erklärt, dass Adenauer die Westmächte auffordern wolle, im Interesse der Rückgängigmachung der Maßnahmen der DDR mit der Sowjetunion zu verhandeln.
Nach bisher unbestätigten Pressemeldungen sollte am 17.8. in Bonn eine Arbeitsgruppe westlicher Diplomaten zusammentreten, um die westliche Position für den Fall vorzubereiten, dass die »Berlin-Krise« vor die UN gebracht wird. Diese Forderung erhob bekanntlich auch Brandt in seinem persönlichen Schreiben an Kennedy.6 Der Pressechef des Weißen Hauses, Salinger, teilte mit, dass der Brief Brandts nicht veröffentlicht und von der amerikanischen Regierung auch nicht beantwortet werde.7
Selbst enge Anhänger Brandts gestehen indirekt ein, dass die scharfmacherischen Forderungen Brandts unreal sind und keinerlei Erfolgsaussichten haben. So erklärte z. B. der Westberliner Senator Exner8 im internen Kreis, die Westberliner SPD-Führung betrachtet die Lage pessimistisch und vertritt den Standpunkt, dass das, was der »Ostblock« militärisch in Händen hat, nicht mehr hergeben wird. Außerdem seien aufgrund der Unterhöhlung des Viermächte-Status die Maßnahmen der DDR nicht als illegal anzusehen.
Intern wurde aus führenden Westberliner SPD-Kreisen bekannt, dass Brandt erstmalig seit längerer Zeit zum Sitz der westlichen Militärkommandanten bestellt und ihm dabei klargemacht wurde, wer in Westberlin zu bestimmen hat. Brandt sei noch einmal darauf hingewiesen worden, dass die Westmächte »nur ihre Rechte« in Westberlin verteidigen würden. Sie würden jede Verantwortung für evtl. vom Westberliner Senat verursachte Komplikationen ablehnen und hätten deshalb die Verhinderung von Zwischenfällen verlangt. Bei führenden SPD-Kreisen sei daraufhin die Meinung aufgekommen, dass Adenauer zurzeit für die Westmächte ein bequemerer Partner sei als Brandt.
Brandt selbst habe in der Sitzung der SPD-Fraktion des Westberliner Abgeordnetenhauses erklärt, dass er sich gegenüber der Westberliner Bevölkerung in einer schwierigen Situation befindet und darauf achten müsse, sein Gesicht nicht zu verlieren. Mitarbeiter des Westberliner SPD-Landesvorstandes schätzten die Ereignisse der letzten Tage als einen nicht zu ersetzenden Prestigeverlust für Brandt und die SPD ein, der bedenkliche Auswirkungen auf das Wahlergebnis der Bundestagswahlen haben könne.
Unter Berücksichtigung der bisher bekannten Einzelheiten über die Haltung der Westmächte dürften die von ihnen angekündigten Maßnahmen zur Verstärkung ihrer in Westdeutschland stationierten Truppen in erster Linie als eine demonstrative Aktion zu werten sein.
Nach westlichen Rundfunkmeldungen habe der französische Verteidigungsrat unter Vorsitz de Gaulles beschlossen, die »Verteidigungskraft« der in Westdeutschland und in Frankreich stationierten Streitkräfte zu erhöhen. Neben den Erklärungen der USA-Regierung, die amerikanischen Streitkräfte weiter zu stärken, kündigte auch die britische Regierung die Verstärkung ihrer in Westdeutschland stationierten Luftwaffeneinheiten an.
Im Rahmen der vom Westberliner Senat eingeleiteten Maßnahmen zur Übernahme der S-Bahn im Bereich Westberlins werden am 18.8. zwischen Vertretern der Westberliner Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe und Vertretern der westlichen Militärkommandanten Beratungen über eine Neuregelung stattfinden. In diesem Zusammenhang verdient der Aufruf des Westberliner DGB-Landesbezirksvorstandes zum verstärkten Boykott der S-Bahn Beachtung.
Sitzungen demonstrativen Charakters Anfang der nächsten Woche in Westberlin beschlossen die Führungsgremien des DGB und die Spitzenverbände der westdeutschen Unternehmer.
Weitere sogenannte Gegenmaßnahmen stellen die Beschlüsse des westdeutschen Olympischen Komitees und des Geschäftsführenden Vorstandes des westdeutschen Sportbundes dar, den gesamten Sportverkehr zwischen Westdeutschland und der DDR einzustellen und die Beteiligung westdeutscher Sportler an den in der DDR stattfindenden internationalen Sportveranstaltungen und Meisterschaften zu verbieten. Nach Erklärungen Daumes würde es sich hier nur um eine erste Maßnahme handeln.
Nachdem bereits Adenauer seine Forderung, über das ganze sozialistische Lager ein Wirtschaftsembargo der NATO-Länder zu verhängen, abgeschwächt hatte, erklärte neuerdings Lemmer auf einer Pressekonferenz in Bonn, dass die Kündigung des Abkommens über den innerdeutschen Handel außer Diskussion stehe. Es gibt Beispiele, dass sich westdeutsche Konzerne (u. a. die AEG) nach wie vor um Geschäftsabschlüsse mit der DDR bemühen.
In der Sitzung des Landesvorstandes und Landesausschusses der Westberliner SPD am 15.8. sei, nach einer internen Information, eine Kündigung des Abkommens über den innerdeutschen Handel ebenfalls allgemein abgelehnt worden, weil dies aufgrund des Zusatzabkommens die Unterbindung des über das Territorium der DDR führenden Güterverkehrs zwischen Westberlin und Westdeutschland zur Folge habe.
Der »Bundesverband der Deutschen Industrie« (BDI) rief zum Boykott der Leipziger Herbstmesse auf. Nach Presseberichten habe es aber die Industrie- und Handelskammer Braunschweig abgelehnt, die Leipziger Messe wegen der Maßnahmen der Regierung der DDR zu boykottieren. Interessanterweise ist Seebohm9 der Präsident dieser Industrie- und Handelskammer.
2. Gegnerische Provokationen und Vorkommnisse
In Westberlin richten sich zurzeit die Provokationen besonders gegen die S-Bahn. Dabei treten vor allem jugendliche Rowdytruppen auf, die u. a. zeitweilig die Fahrkartenschalter der S-Bahnhöfe Schöneberg und Papestraße blockierten. Auch am Bahnhof Zoo forderten mehrere Jugendliche zum Boykott der S-Bahn auf.
Ferner wurden in der Nacht zum 17.8.1961 wiederum die Einrichtungen mehrerer S-Bahn-Wagen von Rowdys zerstört.
Als weitere gegnerische Maßnahme zeichnet sich immer deutlicher die Methode des Beschaffens Westberliner Personalausweise für Bürger des demokratischen Berlin ab.10 Erstmalig am 13.8.1961 und in zunehmendem Maße in den letzten Tagen wurden im demokratischen Berlin eine Reihe von Westberliner Bürgern bei Kontrollen festgenommen, weil sie außer ihren Ausweisdokumenten im Besitze weiterer Westberliner Personalausweise waren. Gegen acht inhaftierte Personen aus Westberlin werden seit 17.8. deshalb durch das MfS Untersuchungen geführt, weil sie in dringendem Tatverdacht stehen, Bürger des demokratischen Berlin abgeworben bzw. ihnen mithilfe von eingeschleusten Westberliner Personalausweisen aktive Unterstützung beim illegalen Verlassen der DDR geleistet zu haben. Beispielsweise wurde am 16.8., gegen 16.00 Uhr der 29-jährige [Name 1], tätig als Kamera- und Tonassistent des SFB und des [Firma] in Berlin, wohnhaft Berlin-Charlottenburg, am Kontrollpunkt Sonnenallee festgenommen. [Name 1] hatte einen zweiten Westberliner Personalausweis bei sich, den er sich nach seinen bisherigen Angaben geborgt hatte, um seiner im demokratischen Berlin wohnhaften Freundin die Republikflucht zu ermöglichen, nachdem er sie bereits vorher zum illegalen Verlassen der DDR aufgefordert hatte.
Am 15.8. wurde auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße die [Name 2], 17 Jahre alt, wohnhaft Berlin-Friedrichsfelde, [Straße, Nr.], einer Personalausweiskontrolle unterzogen, als sie in den Westsektor fahren wollte. Dabei stellte sich heraus, dass zwischen ihr und dem sich auf dem Westberliner Personalausweis befindlichen Lichtbild keine Identität bestand. Den Westberliner Ausweis hat sie angeblich von der Tochter eines Westberliner Arbeitskollegen ihres Vaters zum Zwecke der Republikflucht erhalten.
Es gibt Hinweise dafür, dass durch Agentenorganisationen Westberliner und englische Ausweise ausgegeben wurden, die nach dem demokratischen Berlin gebracht und verteilt wurden, um Bürgern der DDR ein ungehindertes Verlassen der DDR zu ermöglichen.
Inwieweit es sich bei diesen sowie den weiteren Fällen um Ausweisdokumente handelt, die von Westberliner Agentenorganisationen verteilt wurden, bedarf noch einer eingehenden Untersuchung.
Weiterhin wurden am 17.8., gegen 12 Uhr auf dem S-Bahnhof Mahlsdorf zwei Studenten, die im demokratischen Berlin wohnen, festgenommen. Beide waren im Besitz von westdeutschen Reisepässen und beabsichtigten, damit republikflüchtig zu werden. Ihre DPA haben sie angeblich in Westberlin hinterlegt.
Die Zahl der Grenzdurchbrüche nach Westberlin weist noch immer auf ernsthafte Lücken im Sicherungssystem hin. So durchschwamm am 17.8.1961 eine Person hinter der Charite die Spree in Richtung Westberlin. Bereits in den letzten Tagen gab es einige Versuche, vom Gebiet der Charité nach Westberlin zu gelangen, da die Absicherung durch die Unübersichtlichkeit des Geländes sehr erschwert wird.
In den Morgenstunden des 17.8. sprang in der Nähe der Schillingbrücke eine männliche Person von einem Fahrgastschiff und schwamm an das Westberliner Ufer. Einen weiteren Schwerpunkt bildet der Teltowkanal, wo es wiederum einigen Personen gelang, den Kanal nach Westberlin zu durchschwimmen.
In diesem Zusammenhang ist die Feststellung der BDVP Potsdam aufschlussreich, dass z. B. in Werder ein verstärkter Ankauf von Sporttaucherausrüstungen erfolgt. Offensichtlich sollen diese Ausrüstungen zum Zweck des illegalen Verlassens der DDR besonders durch Jugendliche benutzt werden.
Am 16.8.1961 sprangen zwei DDR-Bürger im dänischen Hafen Gedser vom Fährschiff »Warnemünde«. Bei vier weiteren Passagieren konnte die Republikflucht verhindert werden.
Obwohl die Kampfmoral und Disziplin der am Einsatz beteiligten Sicherungskräfte insgesamt als gut eingeschätzt werden muss, weisen doch die weiter ansteigenden Desertionen auf einige Mängel hin. Einen Schwerpunkt der Desertionen bildet die Lehrbereitschaft Potsdam der Bereitschaftspolizei, wo allein am 16.8.1961 vier Unteroffiziersschüler fahnenflüchtig wurden. (Die Ermittlungen über die Ursachen sind noch nicht abgeschlossen.)
Am 16.8.1961 wurde am Bahnhof Schönholz das Kampfgruppenmitglied [Name 3], Dipl.-Hydrologe, mit Waffen und Munition flüchtig.
Am 17.8. versuchte der Anwärter [Name 4] von der 1. Brigade, 1. Abteilung, 3. Kompanie fahnenflüchtig zu werden. Er äußerte gegenüber seinem Gruppenführer, dass er das Postenstehen satt habe und deshalb flüchtig werden wolle. [Name 4] wurde arretiert.
Am 18.8. wurden die beiden Uwm. [Name 5] und [Name 6] gestellt, als sie desertieren wollten. Beide sind Angehörige der 8. Bereitschaft Dresden.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass am Nachmittag des 17.8. der Westberliner Pkw [Kennzeichen] mehrere Male die Ruppiner Straße entlang fuhr, wobei die Insassen die Posten aufforderten, fahnenflüchtig zu werden. (Ein ausführlicher Bericht über Desertionen und Grenzdurchbrüche wird erarbeitet.)
Die Hauptmethode der gegnerischen Tätigkeit in der DDR liegt nach wie vor im Anschmieren von Hetzlosungen und faschistischen Zeichen sowie in staatsgefährdender Hetze und Propaganda, insbesondere gegen führende Funktionäre unseres Staates. In den Losungen und in der Hetze spiegeln sich immer mehr der Einfluss der Westsender und das Westfernsehen wider. In Einzelfällen kam es dabei zu Morddrohungen und Tätlichkeiten. (Vorkommnisse dieser Art werden besonders aus den Bezirken Halle, Rostock, Frankfurt/O., Gera, Karl-Marx-Stadt, Dresden und Berlin berichtet.)
So wurden am 17.8. im VEB Güterkraftverkehr Berlin mehrere Hakenkreuze, eine SS-Rune und zwei Hetzlosungen festgestellt.
In der Gemeinde Poppendorf/Eisenberg/Gera diskutierten Provokateure, »dass durch die Maßnahmen die Spaltung vertieft würde und es nicht mehr weit bis zu einem 17. Juni sei. Man brauchte sich nicht zu wundern, wenn es im Ort einmal brennen würde.« In den Diskussionen wurde ein aktiver Genosse verächtlich gemacht und Morddrohungen gegen ihn ausgesprochen.
Im VEB Kühlbetrieb Berlin wurden durch mehrere Personen mittels Kofferradio die Rede von Brandt am 16.8. auf dem Rudolph-Wilde-Platz abgehört. Gleichzeitig führten diese Personen Hetzreden gegen die DDR.
Ein Fall der Aufforderung zur Arbeitsniederlegung wurde aus dem VEB Cirinewerk Oberlichtenau/Karl-Marx-Stadt bekannt. Hier forderte ein Arbeiter den Heizer auf, den Dampf für die Produktionsanlage für zwei bis fünf Minuten abzustellen, um somit eine Sympathiekundgebung für Westberlin zu organisieren. In gleicher Richtung sprach er auch mit anderen Arbeitern dieses Betriebes.
Weiterhin wird durch gegnerische Kräfte mittels anonymer Drohbriefe und Anrufe versucht, Unruhe unter die Bevölkerung zu tragen und Funktionäre politischer Organisationen und des Staatsapparates durch Drohungen in der konsequenten Ausübung ihrer Funktionen zu behindern. Beispielsweise erhielt ein Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Halle einen anonymen Anruf: »Du kannst dir deine Leiche abholen.« Am nächsten Tag wurde die Frau dieses Mitarbeiters von einem Jugendlichen mit den Worten »alles SED-Schweine« provoziert.
In Berlin erhielten zwei Frauen von VP-Angehörigen einen anonymen Anruf folgenden Inhalts: »Deinen Mann wirst du nicht mehr sehen, den hängen wir auf.«
Vereinzelt wurden auch Versammlungen und Foren zu Provokationen ausgenutzt, indem durch provokatorische Fragen oder Zwischenrufe und Randalieren die Veranstaltungen gestört wurden.
Im Kreiskrankenhaus Langensalza/Erfurt musste eine Versammlung abgebrochen werden, weil die negativen Kräfte die Diskussion bestimmten. In Camburg/Gera bezeichnete ein Jugendlicher auf einem Forum die Funktionäre als Strolche. Wenn einer der Funktionäre Fragen beantwortete, drohte der Jugendliche mit Tätlichkeiten. Er äußerte ferner, »dass in der DDR die Menschen nur deshalb eingesperrt würden, weil sie ihre freie Meinung sagen«. Der größte Teil der Jugendlichen des Forums lärmte, wenn eine positive Diskussion geführt wurde.
3. Reaktion der Bevölkerung
Der überwiegende Teil aller Bevölkerungsschichten nimmt auch weiterhin positiv zu den Maßnahmen unserer Regierung Stellung.
Die meisten negativen Stimmen gibt es nach wie vor unter den Jugendlichen, den Angehörigen der Intelligenz und den Mittelschichten, wobei aber im Wesentlichen keine neuen negativen Argumente bekannt wurden.
Obwohl die Maßnahmen der Regierung der DDR von den meisten Bürgern als notwendig erkannt werden, gibt es noch viele Menschen, die ihr Unverständnis darüber aussprechen, dass die Sicherung der Grenzen zwischen dem demokratischen Berlin und Westberlin auch durch Panzer und Stacheldraht erfolgt.
Unter allen Bevölkerungsschichten haben sich die unzufriedenen Stimmen über die Reiseeinschränkung nach Westdeutschland verstärkt. Auch die Äußerungen am 17.9.1961, nicht zur Wahl zu gehen, um das Nichteinverständnis mit den Maßnahmen zu dokumentieren, nehmen zu.11
In mehreren Industriebetrieben der Republik gibt es ferner Anzeichen, dass Vertrauensleute und selbst BGL-Mitglieder aufgrund der Maßnahmen unserer Regierung versuchen, von ihren Funktionen entbunden zu werden. Sie begründen dies damit, dass sie niemanden überzeugen könnten, wenn sie nicht selbst überzeugt seien.
Innerhalb der privaten Schifffahrtsunternehmen gibt es zahlreiche Diskussionen, die sich gegen die Anweisung des VEB Deutsche Binnen-Reederei richten, wonach nur Kähne der volkseigenen Flotte die Wasserstraßen in Westberlin befahren dürfen.
Obwohl sich die positiven Stimmen unter den Angehörigen der Intelligenz mehren, sind die abwartenden und zurückhaltenden Diskussionen immer noch vorherrschend. Typisch für die Stellungnahmen der Intelligenz ist weiterhin das Argument der »persönlichen Freiheit«.
Teilweise wird von diesen Kreisen zum Ausdruck gebracht, dass die Regierung jetzt u. a. für eine allseitige und ausreichende Versorgung sorgen müsste, um die abwartenden Menschen schneller zu gewinnen.
Vereinzelt erklärten Angehörige der Intelligenz, weil sie mit den Maßnahmen nicht einverstanden sind, ihren Austritt aus der SED durch Abgabe des Parteidokumentes. Z. B. der Oberarzt des Kreiskrankenhauses Sebnitz und der Arzthelfer im Krankenhaus Johanngeorgenstadt.
Der in Westberlin wohnende Chefarzt des Krankenhauses Friedrichshain äußerte, dass er sowie die ebenfalls aus Westberlin stammenden Chefärzte der Frauenkliniken, der Krankenhäuser Berlin-Buch und des Oskar-Ziethen-Krankenhauses sich darüber einig sind, im demokratischen Berlin ihre Arbeit aufzugeben, wenn der Westberliner Magistrat gegen sie Repressalien einleitet. Er beschwerte sich darüber, dass sich von den verantwortlichen Dienststellen des Gesundheitswesens niemand um sie kümmere. (Ähnliche Diskussionen gibt es unter den Westberliner Angestellten der Reichsbahn.)
Die Versorgungslage ist im Allgemeinen gesichert, und Reserven zum Auffangen evtl. Kaufstöße sind vorhanden. Die Angsteinkäufe sind weiter zurückgegangen. In Berlin liegt die Abnahme des Einzelhandels vom Großhandel weiterhin über dem Normalstand. So wurden am 16.8.1961 361 t Mehl gegenüber einem normalen Durchschnitt von 250 t ausgeliefert. Außerordentlich stark ist die Nachfrage nach Bohnenkaffee. Reserven sind jedoch genügend vorhanden. Bei Mehl ist der Planbestand vorhanden, während er bei Zucker von 1 800 t auf 1 350 t sank. Nachlieferungen sind aber gesichert.
Bei Industriewaren wird noch immer verstärkt Schmuck, Silberbestecke, Dederonstrümpfe, optische Geräte, Radios, Haushalts- und Bettwäsche gekauft. Der Warennachschub ist gesichert.