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Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (20)

10. September 1961
Bericht Nr. 554/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR (Berichtszeit 8.9.–10.9.1961)

Zur diplomatischen und politischen Aktivität des Gegners in der Zeit vom 3.9. bis 10.9.1961

Die westliche Reaktion auf die zweite sowjetische Protestnote gegen den Missbrauch der Luftkorridore nach Westberlin vom 2.9. und die jüngsten Erklärungen Chruschtschows und des Genossen Walter Ulbricht zu dieser Frage zeigt,1 dass die Westmächte noch immer auf ihren unrealistischen und wirklichen Verhandlungen abgeneigten Auffassungen in der Westberlin-Frage beharren, wenn auch, wie es in offiziellen Korrespondentenberichten heißt, der Ernst der sowjetischen Absicht, den Missbrauch der Luftkorridore zu unterbinden, von ihnen erkannt worden ist und in den Sachverständigenausschüssen sog. Kompromissvorschläge erwogen werden. Prinzipiell beharren die Westmächte auf dem Standpunkt, dass – wie es in ihrer Antwortnote auf die letzte sowjetische Note heißt2 – die Vereinbarung über die zeitweilige Benutzung von Luftkorridoren nach Westberlin den »Zivilverkehr« zwischen der Bundesrepublik und Westberlin »automatisch« eingeschlossen habe und dass die Sowjetunion keine Veranlassung habe, von der Vereinbarung zurückzutreten.

Außenminister Rusk erklärte am 8.9. in Washington,3 Vorbedingung einer neuen Ost–West-Konferenz sei der sowjetische Verzicht auf die Absicht, nach Abschluss eines Friedensvertrags mit der DDR den Behörden der DDR insgesamt die Kontrolle über die Verbindungswege nach Westberlin zu übertragen. Jede »einseitige sowjetische Maßnahme gegen die Lebensinteressen der freien Welt« werde »zwangsläufig zur Katastrophe führen«.

Nach Korrespondentenberichten aus Washington rechnet man in amerikanischen Regierungskreisen nicht so sehr mit einer völligen Abschneidung der Korridore als vielmehr mit dem Versuch, den Flugverkehr durch technische Maßnahmen zu stören oder einzuschränken. Man stelle sich auf Schwierigkeiten im zivilen Flugverkehr ein und bereite sich auf die Möglichkeit vor, den Transport von »Zivilisten« mit Militärmaschinen durchzuführen.

Die sog. Viermächtearbeitsgruppe beschäftigte sich in der vergangenen Woche in Washington in mehreren Sitzungen mit der Frage der Korridore. So wird angenommen, dass diese Frage auf der Außenministerkonferenz der drei Westmächte und der Bundesrepublik am 14.9. in Washington eine vorherrschende Rolle spielen wird.4

Nach britischen Pressemeldungen sind sich die Westmächte noch nicht darüber einig geworden, was getan werden soll, wenn sich die sowjetischen Vertreter aus der interalliierten Flugsicherungsbehörde zurückziehen. Die USA hätten vorgeschlagen, zusätzliche Radarausrüstungen für den Flugverkehr nach Westberlin zu installieren. Britische Experten hielten nicht viel von einer solchen Maßnahme. Vertreter der britischen Fluggesellschaft BEA hätten bereits erklärt, sie würden es vorziehen, ihre Flüge nach Westberlin einzustellen.

Offiziell wurde aus Bonn bekannt, dass die Westmächte im Falle der Behinderung des zivilen Flugverkehrs nach Westberlin Maßnahmen gegen den Flugverkehr von Aeroflot in Erwägung ziehen.

Nach einer internen Information einer zuverlässigen Quelle zeigten sich die britischen Unterhausabgeordneten, die kürzlich ein Gespräch mit Genossen Walter Ulbricht hatten, schockiert über die harte und klare Sprache Walter Ulbrichts. Es sei ihnen klar geworden, dass es in der Frage der Luftkorridore zu ernsten Komplikationen kommen könnte. Die Aufgabe bestehe deshalb darin, durch Verhandlungen zu erreichen, dass England sich ohne größeren Prestigeverlust aus der Affäre herausziehen kann. Es werde befürchtet, dass die Garantieverpflichtungen der NATO für Westberlin der Bonner Regierung die Möglichkeit geben könnten, als Störenfried aufzutreten.

Offizielle Äußerungen führender Bonner Politiker zur Frage der Luftkorridore und neuer Ost–West-Verhandlungen, die das Konzept der Bonner Regierung erkennen lassen, die Westberlin-Frage weiter zu verschärfen, die Handlungsfreiheit der Westmächte einzuschränken und uneingeschränkten Einfluss auf Westberlin zu behalten, bestätigten die Befürchtung der britischen Abgeordneten. Gemeinsam drängen CDU und SPD jetzt demagogisch auf baldige Ost–West-Verhandlungen. Eindeutig erklärte Brentano am 4.9. in Ludwigshafen (offensichtlich auch an die Westmächte gewandt) dazu,5 eine Initiative zu Verhandlungen sei jetzt erforderlich, um die öffentliche Meinung in den NATO-Ländern von der Notwendigkeit verstärkter Rüstungsanstrengungen zu überzeugen. Der Westen habe jedoch nichts anzubieten und keine Vorschläge und Kompromisse zu machen.

Gemeinsam erheben SPD und CDU auch immer stärker die Forderung, dass neue Ost–West-Verhandlungen von einer Rückgängigmachung der Schutzmaßnahmen der DDR abhängig gemacht werden sollen. Unterschiedlich ist jedoch ihre Wahlkampfdemagogie in der Westberlin-Frage. Während Brandt in der vergangenen Woche erklärte, er rechne mit einer »Verschärfung der Berlinkrise« bereits in den nächsten Wochen, äußerte Adenauer, er sehe keine Anzeichen für eine »Verschärfung der Krise«. Diese unterschiedliche Demagogie gipfelte in der vergangenen Woche in der Behauptung Adenauers, die Sowjetunion und die DDR hätten der SPD mit den Schutzmaßnahmen vom 13.8. »Wahlhilfe« geleistet,6 woraufhin Brandt Adenauer vorwarf, er habe mit Botschafter Smirnow in Bonn Absprachen zuungunsten der SPD und Westberlins getroffen.7

Während einerseits die Bonner Politik auf eine Verschärfung der Westberlin-Frage hinzielt, um ihre Positionen in Westberlin weitestgehend zu halten, geht andererseits aus verschiedenen internen Äußerungen führender Bonner Politiker hervor, dass für sie nicht nur der Abschluss eines Friedensvertrags mit der DDR unabwendbar erscheint, sondern dass sie auch die Notwendigkeit für die Westmächte für unabwendbar halten, in irgendeiner Form einen Modus Vivendi mit der DDR zu finden.

So erklärte Strauß in einem Gespräch mit dem FDP-Vorsitzenden Mende, in den führenden Kreisen der Westmächte sei man sich klar darüber, dass man weder gegen den Abschluss eines Friedensvertrages mit der DDR und die Proklamierung des Freistadtstatus für Westberlin noch gegen Vereinbarungen mit der DDR über die Zufahrtswege nach Westberlin und andere Fragen ernsthaft werde etwas unternehmen können. Offiziell erklärte Strauß auf einer Wahlkundgebung in der vergangenen Woche, die Bundesregierung rechne stündlich mit »Zwischenfällen« in den Luftkorridoren. Gerade deshalb müsse verhandelt werden, mit militärischen Aktionen könne man nichts erreichen.8

Mende vertrat intern die Auffassung, es gebe für Bonn keine Möglichkeit mehr, den Friedensvertrag mit der DDR zu verhindern; es müsse jetzt jede Chance ausgenutzt werden, um Agenten in die DDR einzuschleusen, solange noch die Möglichkeit dazu bestehe.

Nach einer anderen internen Information einer zuverlässigen Quelle wird in CDU-Kreisen um den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kiesinger die Auffassung vertreten, dass man nach den Bundestagswahlen vor einer völlig neuen Lage stehen werde, in der man sich auf eine zumindest teilweise Anerkennung der DDR einstellen müsse. Kennedy werde nach den Wahlen mit Bonn in dieser Frage eine schärfere Sprache sprechen.

In den führenden Kreisen der Westberliner CDU herrsche eine gedrückte Stimmung. Man verlange eine Veränderung der gegenwärtigen Situation, wisse aber keinen Weg dazu. Von der Bundesregierung in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung erwarte man keine Hilfe mehr. In den Kreisen der jüngeren Funktionäre aus den Reihen der »Jungen Union« sei man besonders unzufrieden mit der Politik der »alten Garde« in Bonn und verlange schärfere Maßnahmen.

Während – wie durch offizielle und interne Materialien bestätigt wird – der reaktionäre Flügel der Westberliner SPD-Führung nach wie vor eine »Politik des letzten Risikos« in der Westberlin-Frage betreibt, mehren sich auch in Funktionärskreisen der Westberliner SPD und besonders führenden Kreisen des Parteivorstandes in Bonn die Stimmen des Sichabfindens mit der Entwicklung zu einem Friedensvertrag und zu Verhandlungen mit der DDR. So äußerte Carlo Schmid, jetzt müsse verhandelt werden, wenn notwendig auch mit der DDR. Zweifellos habe die Bonner Regierung den Westmächten in der Westberlin-Frage eine starre Haltung aufgezwungen. In den ersten Tagen bereits einer »akuten Berlinkrise« werde jedoch eine Wende eintreten, die zwangsläufig zu Enttäuschungen in Bonn führen müsse. Schmid forderte einen neuen Status für Westberlin, da der sog. Viermächtestatus so durchlöchert sei, dass man sich nicht mehr auf ihn berufen könne.

Offiziell betreibt die Bonner Regierung ihre Politik der Verschärfung der Westberlin-Frage jetzt besonders durch sog. Hilfsaktionen für Westberlin im Zusammenhang mit verstärkten »Hilfsmaßnahmen« für die Bevölkerung der DDR und durch eine vermehrte Organisation von Besuchen Westberlins.

Am 8.9. übergab Lemmer der Öffentlichkeit ein sog. Gelbbuch über die »Fluchtbewegung« aus der DDR,9 das auch an alle Bonner Auslandsvertretungen gesandt werden soll. Wilhelmine Lübke richtete am 9.9. über Funk und Fernsehen einen Appell an die westdeutsche Bevölkerung, den »Flüchtlingen« zu helfen und eine neue Paketaktion für die DDR durchzuführen.10

Die Landesvorstände des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland« verabschiedeten auf einer Arbeitstagung am 6.9. in Westberlin eine Erklärung,11 in der gefordert wird, in verstärkter Aufklärungsarbeit in der ganzen Welt die »absurde Vorstellung von der Realität zweier deutscher Staaten« (offensichtlich in Auswirkung der Belgrader Konferenz)12 zu bekämpfen, für eine »Intensivierung der menschlichen Beziehungen« mit der Bevölkerung der DDR einzutreten und die Pläne des Westberliner Senats zu unterstützen, Westberlin in ein »wissenschaftliches und kulturelles Zentrum« zu verwandeln. Brandt forderte auf der Arbeitstagung, dass jährlich etwa 20 000 bis 25 000 junge Bewohner der Bundesrepublik für einen Zuzug nach Westberlin gewonnen werden sollen. Der Chefredakteur des »Telegraf« Scholz teilte mit, dass die Westberliner Zeitungsverleger »neue Maßnahmen« der Nachrichtenübermittlung an die Bevölkerung der DDR durchführen werden.

Ein im Bundesverband der Deutschen Industrie neu gegründeter »Arbeitskreis Berlin« schlug vor, die bei der Bundesbank vorhandenen 3 Mrd. DM der Bundesländer Westberlin zur Verfügung zu stellen, die Westberliner Industrie beschleunigt zu rationalisieren, durch Lohnerhöhungen einen Anreiz dafür zu bieten, in Westberlin zu arbeiten, auf die Umsatzsteuer kleinerer und mittlerer Westberliner Unternehmen zu verzichten und dafür zu sorgen, dass möglichst viel Aufträge nach Westberlin vergeben werden. Die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wird, wie offiziell bekannt wurde, 55 Mio. DM für den Bau von Wohnungen für ehem. Grenzgänger zur Verfügung stellen, die in Westberlin geblieben sind.

Noch vor der am 11. und 12.9. stattfindenden Tagung der IG Metall in Westberlin wurde bekannt, dass Brenner sein Referat auf der Tagung ebenfalls vor allem auf sog. Hilfsmaßnahmen für Westberlin zu orientieren beabsichtige. Am Vormittag des 12.9. ist eine Omnibusfahrt der Tagungsteilnehmer entlang der Staatsgrenze der DDR in Berlin vorgesehen.

Die Führungsgremien des DGB beschlossen am 5.9., dreitägige Informationsfahrten von Funktionärsgruppen nach Westberlin zu veranstalten, bei denen besonders oppositionelle Funktionäre berücksichtigt werden sollen, sowie Funktionäre und Mitglieder aus Westberliner Betrieben nach Westdeutschland einzuladen, zusätzliche Urlaubsplätze in Westdeutschland zur Verfügung zu stellen und den materiellen Anreiz für den Besuch sog. Ost–West-Seminare in Westberlin zu erhöhen. Offiziell wurde bekannt, dass zur Teilnahme an diesen Seminaren in der nächsten Zeit starke Gruppen von Gewerkschaftsfunktionären aus dem Bundesgebiet erwartet werden. Vom DGB-Bundesvorstand wurde Albert Schweitzer zu einem Besuch Westberlins eingeladen.

In der zweiten Septemberhälfte wird der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Meyers in seiner Eigenschaft als Präsident des Bundesrates Westberlin besuchen. Auf einer Wahlkundgebung forderte Meyers am 4.9. die Westmächte auf, »unbewaffnet, aber im Schutze ihrer Panzer, den Stacheldraht in Berlin wieder aufzurollen«.

Der von Kennedy zum Sonderbeauftragten in Westberlin ernannte General Clay wird am 15.9. in Westberlin erwartet. Vorher werde er sich einige Tage in Bonn aufhalten.

Am 15.9. wird der ehemalige amerikanische Außenminister Byrnes in Westberlin zu einem sechstägigen Besuch eintreffen.

Die Politische Kommission des Europarates beschloss, im Oktober eine Tagung in Westberlin durchzuführen.

72 Delegierte aus 16 Staaten und zahlreiche Gäste des Jahreskongresses des Weltbundes der liberalen Jugend in Marburg beschlossen, nach Beendigung des Kongresses in dieser Woche Westberlin für drei Tage zu besuchen.

Etwa 30 Journalisten aus verschiedenen Ländern werden in der nächsten Zeit auf wie es heißt »Einladung der Bundesregierung« Westberlin einen Besuch abstatten. Der Rat der Stadt Iserlohn wird Ende September geschlossen nach Westberlin fahren.

Der 1. Landesvorsitzende der GDP in Westberlin Reynitz teilte auf einer Funktionärskonferenz mit, dass jeder Westberliner Bürger, der einen zweiten Wohnsitz in Westdeutschland hat, an den Bundestagswahlen teilnehmen kann. Der Wahlschein muss auf dem zuständigen Polizeirevier bzw. Bezirksamt beantragt werden. Reisekosten würden vom Bonner Innenministerium vergütet.

Militärische Fragen

Offiziell wurde bekannt, dass die USA ihre Streitkräfte in der Bundesrepublik in Kürze um 40 000 Mann verstärken wollen. Die ersten Einheiten sollen Anfang Oktober in Marsch gesetzt werden.

Nach einer noch nicht überprüften Mitteilung soll die Dienstzeit der amerikanischen Besatzungstruppen in Westdeutschland um ein halbes Jahr verlängert worden sein. Die Maßnahme trete am 1.10. in Kraft und betreffe auch die Truppen in Westberlin.

Eine größere Anzahl von Einheiten der amerikanischen Nationalgarde und anderer Formationen wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass sie sich auf eine Einberufung zum aktiven Heeresdienst vorbereiten sollen. Es handelt sich dabei um rund 148 000 Offiziere und Mannschaften.

Ab 1.10. erhalten Angehörige des amerikanischen Militärpersonals in Europa keine Genehmigung zu einem Besuch Europas mehr. Ausgenommen davon wurde Westberlin.

Der britische Verteidigungsminister Watkinson gab am 9.9. bekannt,13 dass Großbritannien eine gefechtsstarke Division neu aufstellen will, bestimmt zur »raschen Verlegung nach der Bundesrepublik, falls sich die Lage verschlechtert«.

Zur Verstärkung der britischen Rhein-Armee wird im Oktober ein Luftabwehrregiment nach Westdeutschland verlegt. Offiziell wurde bestritten, dass diese Verlegung mit der sog. Berlinkrise in Verbindung steht.

Nach einer inoffiziellen und noch nicht überprüften Meldung wurde damit begonnen, Reserveoffiziere für die in Westdeutschland stationierten französischen Truppen einzuziehen. Maßnahmen für die Rückführung von Familienangehörigen der Truppen nach Frankreich seien eingeleitet worden.

Nach offiziellen Meldungen erwägt die niederländische Regierung, Teile ihrer beiden der NATO unterstellten Kampfdivisionen nach Westdeutschland zu verlegen. Es wurde eine Entscheidung des NATO-Rats darüber angerufen.

In der vergangenen Woche traf Norstad14 zur Berichterstattung über die militärische Situation der NATO mit Adenauer in Bonn zusammen.15 Offiziell wurde bekannt, dass über eine Verlängerung der Dienstzeit der 40 000 Bundeswehrangehörigen gesprochen wurde, die am 1.10. ihren Wehrdienst beenden. Zumindest sollen sie zu sofortigen Wehrersatzübungen eingezogen werden. Die Vorbereitungen für ihre Unterbringung seien bereits getroffen.

Offiziell und intern wurden bisher keine weiteren Einzelheiten über den Norstad-Besuch bekannt. Aus Pressemeldungen ging allgemein hervor, dass auch über eine Verstärkung der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr gesprochen wurde.

Nach einer jetzt getroffenen Vereinbarung zwischen Frankreich und den USA werden französische Soldaten an amerikanischen Atomwaffen ausgebildet. Die Ausbildung geschieht in der Bundesrepublik.

Auf dem Territorium aller europäischen NATO-Staaten sowie einigen Gebieten Nordafrikas und den angrenzenden Gewässern finden im September die diesjährigen großen strategischen Herbstmanöver der NATO statt. Sie bestehen aus einer Reihe von Übungen.

Die wichtigsten sind: Truppenübung »Schachmatt« vom 12. bis 14.9. mit dem Ziel, die Arbeit aller Leitungs- und Planungsorgane bei der Führung von Kernwaffenangriffen und Operationen in den ersten Tagen eines Krieges zu überprüfen – Teilnehmer: alle europäischen NATO-Kommandos und Stäbe bis zur Divisionsebene; Truppenübung »Schachmatt II« vom 15. bis 17.9. in Südeuropa und an den Schwarzmeerzugängen mit der gleichen Aufgabenstellung; Luftverteidigungsübung »Große Höhe« als Bestandteil der Übung »Schachmatt« zur Überprüfung der Luftverteidigungspläne vom 12. bis 14.9.; Stabsrahmenübung »Orange Löwe« vom 16. bis 19.9. als Fortsetzung der vorhergehenden Übungen für Zentraleuropa mit dem Ziel der Überprüfung der Organisation von Angriffsoperationen unter Teilnahme des Bundesverteidigungsministeriums einschließlich der Stäbe der sog. Territorialverteidigung; Flottenübungen »Frisches Wasser 61-I und II« vom 4. bis 10.9. und 11. bis 17.9. im Raum der westdeutschen und dänischen Ostseegewässer unter Teilnahme dänischer und westdeutscher Marineeinheiten im Zusammenhang mit den vorher genannten Stabsübungen.16

Nach den vorliegenden Angaben ist vorgesehen, zu diesen Manövern einige Truppenteile der Luftstreitkräfte der USA sowie Luftlandetruppen aus den USA nach Europa zu verlegen. Im Zusammenhang mit der Durchführung aller Übungen ist die Versetzung der Streitkräfte in eine höhere Gefechtsbereitschaft sowie eine teilweise Umgruppierungen in der Hauptsache der Truppenteile mit Kernwaffen zu erwarten.

Es gibt verschiedene offizielle und interne Hinweise auf eine Verstärkung der Beobachtungstätigkeit auf westdeutscher Seite an der Staatsgrenze West der DDR. Offiziell wurde bekannt, dass seit Ende August im Gebiet von Lübeck neben den Angehörigen des BGS reguläre britischen Armeeangehörige Wachdienst leisten. Nach einer weiteren offiziellen Meldung sollen drei gepanzerte amerikanische Regimenter im Gebiet von Straubing, Fulda und Bad Hersfeld einen ständigen Patrouillendienst mit engem Kontakt zum BGS eingerichtet haben. Nach einer internen noch nicht überprüften Meldung sollen im Raum Kassel/Gießen sämtliche Bundeswehreinheiten aus dem Grenzbereich zurückgezogen und durch amerikanische Einheiten ersetzt worden sein.

Im Grenzbereich Helmstedt wurden in den letzten Wochen wiederholt Personengruppen in Zivil festgestellt, bei denen es sich, nach einer internen Information, um Angehörige von Aufklärungseinheiten der Bundeswehr gehandelt hat.

Gegnerische Pläne und Aktionen in Westberlin

Im Berichtszeitraum hielt die Provokationstätigkeit an der Staatsgrenze West der DDR in Berlin an. Mehrere Gruppen, vor allem jugendliche Rowdys, wurden an verschiedenen Kontrollpunkten durch Einsatz von Wasserwerfern und Nebelkerzen zerstreut.

Die Grenzkontrolle in Westberlin wurde verstärkt. Es liegt ein Hinweis vor, dass Wagen mit diplomatischen Kennzeichen jetzt größere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, da sie sich stark vermehrt hätten. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße wurde beobachtet, dass Personen von Westberlin kommend in Züge umsteigen, die in Richtung Westberlin fahren, offensichtlich, um Fahrgäste in Richtung Westberlin zu beobachten.

In einem Rundfunkinterview gab der Westberliner Innensenator Lipschitz bekannt, dass weitere sog. Blenden an der Staatsgrenze der DDR aufgestellt werden sollen, um den Sicherungskräften der DDR die Sicht zu nehmen. Eine derartige Blende wurde in der Bernauer Straße aufgestellt.17

Im Berichtszeitraum wurden 35 S-Bahnbeschädigungen festgestellt, davon 29 in Westberlin. Am 9.9. wurde zwischen den Bahnhöfen Tegel und Schulzendorf ein Betonstück auf die Schienen gelegt, das jedoch durch den S-Bahntriebwagen beiseite geschleudert wurde.

[…]18

Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass die »Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands« in verstärktem Maße Zersetzungsarbeit, in Zusammenarbeit mit dem DGB, unter den Westberliner Reichsbahnangestellten betreibt. Verschiedentlich wurden Reichsbahnangestellte aufgefordert, sich in Westberlin registrieren zu lassen und um eine Verwendung bei der Bundesbahn nachzusuchen. Sie würden dann nach Westdeutschland weitervermittelt und bekämen, falls eine Weitervermittlung nicht sofort möglich sei, Arbeitslosenunterstützung. Es wurde berichtet, dass eine verstärkte Abwanderung von Reichsbahnangehörigen zu verzeichnen ist. Als Grund wird angegeben, dass die Frage des Lohnumtauschs noch nicht befriedigend geregelt worden sei. Schwerpunkt der Kündigungen ist das RAW Grunewald.

Auf einer Kreisvorstandssitzung der SPD in Charlottenburg teilte Senator Schwedler mit, dass in Erwägung gezogen werde, einen Streik der Reichsbahnangestellten in Westberlin zu organisieren. Mithilfe der Westmächte und unter Einsatz der Westberliner Polizei würde dann die S-Bahn in Westberliner Verwaltung übernommen werden. Zum Zeitpunkt des Streiks müsse dafür gesorgt werden, dass genügend S-Bahnzüge in Westberlin verbleiben. Schwierigkeiten bereite, dass die Signaleinrichtungen der S-Bahn mit dem Fernverkehr gekoppelt sind.

Auf einer Studentenversammlung an der »Freien Universität« am 2.9., auf der ein Mitarbeiter des »Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen« sprach, wurde die Forderung erhoben, eine sog. studentische Heimwehr in Westberlin aufzustellen. Nähere Einzelheiten dazu wurden nicht bekannt.

Der Landesvorsitzende der »Jungen Union« in Westberlin Hammerstedt teilte in einem internen Gespräch mit, dass er und andere Funktionäre der »Jungen Union« mit Handfeuerwaffen ausgerüstet seien, die sie illegal erwoben hätten. Er wisse, dass das sehr häufig getan werde.

Grenzdurchbrüche und Desertionen

In der Zeit vom 8. bis 10.9.1961 wurden insgesamt 30 Grenzdurchbrüche mit 47 Beteiligten bekannt.

Davon kam es an der Staatsgrenze nach:

  • Westdeutschland zu 15 Durchbrüchen mit 27 Personen,

  • Westberlin zu 15 Durchbrüchen mit 20 Personen.

Im gleichen Zeitraum konnten an der Staatsgrenze nach Westberlin 17 Durchbrüche mit 23 Beteiligten verhindert und die Personen festgenommen werden.

Erwähnenswert sind vor allem zwei Grenzdurchbrüche, wobei es den Grenzverletzern durch Täuschung der Posten gelang, mittels Fahrzeug die Grenzsicherungsanlagen zu durchbrechen.

Am 8.9., 2.50 Uhr durchbrach am Brandenburger Tor ein Lieferwagen (Typ Barkas) die Staatsgrenze. Das Fahrzeug durchfuhr mit ca. 70 km [/h] Geschwindigkeit die rechte Seite des Brandenburger Tores, die mit Metallstangen abgesichert war. Das Fahrzeug hielt auf Westberliner Gebiet an und setzte nach einem kurzen Gespräch mit Stupos die Fahrt fort. (Eine Verstärkung der pioniermäßigen Anlagen wurde eingeleitet.)

Am 10.9., gegen 2.30 Uhr durchbrach ein Lkw (Typ H 6), Kennzeichen […] mit zwei männlichen Personen besetzt, die Grenzmauer am KP 49.

(Adalbert Straße/Ecke Bethaniendamm). Das Fahrzeug gab Zeichen zum Einbiegen in die Fritz-Heckert-Straße, erhöhte aber plötzlich die Geschwindigkeit und umfuhr das in der Straßenmitte stehende Sperrschild. Der Postenführer gab mittels Taschenlampe das Haltezeichen, musste aber beiseite springen, um nicht überfahren zu werden. Der Lkw durchbrach die Grenzmauer und blieb ca. 50 m weiter auf Westberliner Gebiet stehen. Zum Zeitpunkt des Durchbruches hielten sich auf Westberliner Gebiet mehrere Stupos und amerikanische Soldaten mit vier Jeeps auf, sodass angenommen werden muss, dass der Durchbruch vorbereitet war und von den Amerikanern abgesichert werden sollte.

Schwerpunkt der Grenzdurchbrüche sind auch weiterhin die Häuser unmittelbar an der Grenze nach Westberlin.

In der Berichtszeit wurden wiederum drei Fälle bekannt, wo mehrere Personen durch die Fenster der Grenzhäuser auf Westberliner Gebiet entkamen. (Bernauer Straße 25, 31 und 44)

In zwei Fällen wurden jeweils zwei Personen festgenommen, die versuchten, über den Friedhof in der Ackerstraße auf Westberliner Gebiet zu gelangen.

In weiteren zwei Fällen wurden Personen festgenommen, die im Kofferraum von Fahrzeugen versuchten, nach Westberlin zu gelangen.

Am 8.9., gegen 22.40 Uhr versuchten die amerikanischen Staatsbürger [Name 1] und [Name 2] im Kofferraum ihres Pkw die [Name 3], Studentin der naturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität, am KP Friedrichstraße nach Westberlin zu schleusen. (Die drei Personen wurden der VPI Mitte zugeführt.)

Am 11.9., gegen 0.30 Uhr versuchten drei sudanesische Staatsbürger am KP Friedrichstraße drei Personen aus dem demokratischen Berlin im Kofferraum ihres Pkw Opel-Kapitän nach Westberlin zu bringen. (Die Beteiligten wurden der VPI Mitte zugeführt.)

Als wesentliche Methode der Feindtätigkeit im Grenzgebiet wurde auch weiterhin der Einsatz des »Studios am Stacheldraht« festgestellt.

Gegenwärtig muss eingeschätzt werden, dass der Gegner sowohl durch dieses Studio, als auch durch die sich häufenden Kontaktversuche durch Besatzer, Stupo, Zoll und Zivilisten verstärkte Beeinflussung unserer Sicherungskräfte anstrebt. Diese verstärkten gegnerischen Tätigkeiten werden aber nur mit äußerst ungenügenden offensiven Gegenmaßnahmen beantwortet. Da es sich bei den Angehörigen der BP z. T. um junge, politisch noch ungefestigte Kräfte handelt, müsste durch die Politorgane der Bereitschaftspolizei und der 5. Grenzbrigade eine offensivere Aufklärungsarbeit geleistet werden.

In der 1. mot. Brigade der BP gibt es in verstärktem Maße negative Diskussionen über Urlaubs- und Ausgangsfragen sowie über Mängel der Organisierung des Dienstes durch die übergeordneten Stäbe. Dazu kommt, dass durch die Zuführung von Kräften aus der DDR die Unterkunftsfragen in den verschiedenen Garnisonen im Raum Berlin noch nicht voll geklärt werden konnten.

In der Berichtszeit wurden zehn Desertionen gemeldet, davon zwei (DGP) an der Staatsgrenze nach Westdeutschland. Bei den Deserteuren handelt es sich um:

  • Uffz. [Name A] (GB Eisenach) 8.9.,

  • Sold. [Name B] (GB Halberstadt) 9.9.,

  • Owm. [Name C] (4. Abt. 4. Komp. 3. Zug) 9.9.,

  • Uwm. Sommerlatte19 (Brig. Bln. 7. Abt. 3 Komp.) 10.9.,

  • Owm. [Name E] (Lehrber. Potsdam) 10.9.,

  • Wm. [Name F] (Lehrber. Potsdam) 10.9.,

  • Uwm. [Name G] (Lehrber. Potsdam) 10.9.,

  • Uwm. [Name H] (Lehrber. Potsdam) 10.9.,

  • Wm. [Name I] (4. Abt. 1. Brig.) 10.9.,

  • Uwm. [Name J] (4. Abt. 1. Brig.)10.9.

Bei den Angehörigen der Lehrbereitschaft Potsdam handelt es sich um eine Gruppenflucht.

Am 10.9.1961, gegen 9.30 Uhr während der Frühstückspause entfernten sich die Angehörigen des Pionierzuges der Lehrbereitschaft Potsdam [Name E], [Name F], [Name G], [Name H] und [Name K], die zzt. im Abschnitt Stolpe/Süd-Hennigsdorf der 14. Grenzbereitschaft zu Pionierarbeiten eingesetzt sind. Auf die Frage des Wm. [Name K]: »Wo wollt Ihr denn hin?«, antwortete Wm. [Name F]: »Jetzt kann man es ja sagen, entweder du bleibst hier, oder du gehst wieder zurück.« Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Gruppe bereits auf Westberliner Gebiet. [Name K] ging zurück und erstattete Meldung. (Die Untersuchung führte eine Kommission des Kdo. der Bereitschaftspolizei, der Leiter der HA I/BP und der zuständige operative Mitarbeiter.)

Durch die BV Leipzig wurde berichtet, dass, entgegen der Anweisung des MdI, Rückkehrer aus Westdeutschland in die Bereitschaftspolizei bzw. NVA aufgenommen wurden. Z. B. wurde der [Name L] am 25.8.1961 in das MdI eingestellt. [Name L] war vom 30.11.1959 bis 21.12.1959 im Notaufnahmelager Bln.-Marienfelde20 und wurde außerdem, nach seiner Rückkehr in die DDR, vom Kreisgericht Leipzig-Mitte wegen gewaltsamer Unzucht, versuchten und vollendeten Diebstahls zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. (Durch die Abt. VII der BV Leipzig wird mit dem Bezirkskommando der NVA und mit der BdVP Leipzig Rücksprache geführt.)

Provokationen und Vorkommnisse im demokratischen Berlin

Die Aktivität der gegnerischen Handlungen im demokratischen Berlin hat nach vorliegenden Hinweisen auch in dieser Berichtszeit keine zunehmende Tendenz.

Der Charakter der feindlichen Handlungen erstreckte sich wiederum auf:

  • das Anschmieren von Hetzlosungen durch unbekannte Täter, die sich im Inhalt ausschließlich gegen W. Ulbricht richteten (In allen bekanntgewordenen drei Fällen waren diese Losungen in S-Bahnwagen angebracht.),

  • die Verbreitung staatsgefährdender Propaganda und Hetze (vier Täter wurden inhaftiert.),

  • Beschädigungen und Abreißen von Wahlplakaten und Fahnen in vier Fällen und

  • Staatsverleumdung gegen Angehörige der bewaffneten Kräfte (drei Täter inhaftiert).

Außerdem kam es in der Berichtszeit in drei Fällen in Bln.-Köpenick, Bln.-Biesdorf und Bln.-Friedrichshagen zu Schändungen der Gedenkstätten für die Opfer des Faschismus durch Entfernen der Kränze bzw. Umstoßen der Opferschalen. In letzterem Falle wurden in Bln.-Friedrichshagen als vermutliche Täter zwei Jugendliche festgenommen.

An besonderen Vorkommnissen wurde am 9.9.1961 die Auffahrt eines S-Bahn-Zuges auf einen vor dem Bahnhof Leninallee stehenden Zug gemeldet. Dabei wurden elf Reisende verletzt, von denen vier im Krankenhaus verbleiben mussten.

Ursache dieser Auffahrt war Sichtbehinderung durch eine Kurve. Nach Erkennen der Situation war der Zugführer infolge der Geschwindigkeit des fahrenden Zuges nicht mehr in der Lage, den Zug noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen.

Feindtätigkeit und besondere Vorkommnisse in der DDR

Nach den vorliegenden Berichten haben die feindlichen Handlungen in den Bezirken weiterhin an Umfang und Intensität abgenommen. Eine Ausnahme bilden nur die Bezirke Halle, Potsdam und Dresden, die noch von verstärkten gegnerischen Handlungen berichten. Charakter und Methoden der festgestellten Handlungen decken sich und erstrecken sich im Wesentlichen auf folgende:

  • Anschmieren von Hetzlosungen (Potsdam, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Rostock, Halle und Magdeburg),

  • Verbreiten selbstgefertigter Hetzschriften (Leipzig, Halle, Rostock und Frankfurt/O.),

  • Anbringen faschistischer Schmierereien (Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Rostock),

  • staatsgefährdende Propaganda und Hetze (Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Neubrandenburg, Rostock, Halle, Potsdam),

  • Staatsverleumdung (Halle),

  • Verbreiten von Drohungen durch anonyme Briefe und Anrufe (Karl-Marx-Stadt).

Der Inhalt der Hetze richtet sich nach wie vor gegen die Maßnahmen vom 13.8.1961, gegen die Politik von Partei und Regierung und gegen Walter Ulbricht.

Beachtenswert sind im Zusammenhang damit folgende, in den Berichten angeführte Beispiele:

In Naumburg/Halle verbreiteten unbekannte Täter 168 mit Kinderdruckkasten angefertigte Hetzzettel.

Ein Rangierer der Hafenbahn Rostock erhielt am 8.8. mit einem in Leipzig aufgegebenen Brief sechs gleichlautende selbstgefertigte Hetzschriften, worin zum Sturz der Regierung und zur Sabotage aufgerufen sowie »freie Wahlen« gefordert wurden.

In Fürstenwalde/Frankfurt/O. erhielten die Hausvertrauensleute und Mieter der Häuser Damaschkestr. 36 und 37 Briefe folgenden Inhalts zugeschickt: »Hört auf mit Eurem blöden Gequatsche. Wir wollen Sender hören, die uns die Wahrheit sagen … Ihr glaubt doch selbst nicht an das, was Ihr aussprecht. Hört auf, sonst könnt Ihr eines Tages sehen, wie Euer Haus in Flammen aufgeht.«

In Leipzig wurden Hetzbriefe an westdeutsche Aussteller gesandt, worin diese Kaufleute geschmäht werden, weil sie mit der DDR Handel treiben wollen. Unterschrieben waren diese Briefe mit »Deutsche Kaufleute aus Leipzig«.

Im VEB ECW Eilenburg/Leipzig wurde ein handgeschriebener Aufruf folgenden Inhalts gefunden: »Arbeiter, arbeitet keine 48 Stunden, fordert ’freie Wahlen’, weg mit Walter Ulbricht, am 17.9. Generalstreik, beteiligt euch alle.«

Im VEB ROW Rathenow/Potsdam wurde am 8.9. auf dem Flur zum Kulturraum von unbekannten Tätern die Hetzlosung »Die machen mit Euch was sie wollen, lasst Euch das nicht gefallen« angeschmiert.

(An der Ermittlung der Täter wird zzt. noch in allen Fällen gearbeitet.)

In Leipzig konnte am 8.9. der beim KWU beschäftigte Heizer [Name] festgenommen werden. [Der Heizer] hatte eine Gewerkschaftsversammlung durch hetzerische Äußerungen gestört und – wie die Untersuchungen ergaben – 1960 bereits selbstgefertigte Hetzschriften, die sich gegen das Arbeitsgesetzbuch richteten, verteilt.

Außerdem konnten in Leipzig vier Initiatoren des zur Aufführung vorgesehenen Programms des Studenten-Kabaretts »Rat der Spötter« inhaftiert werden,21 das Hetzereien gegen Walter Ulbricht und gegen die demokratischen Massenorganisationen enthielt und deshalb bereits am 6.9. verboten werden musste.

In Greifswald wurden zwei Studenten festgenommen, die in FDJ-Versammlungen am 7. und 8.9.1961 in provokatorischer Form gegen die Schutzmaßnahmen der DDR auftraten, die DDR verleumdeten und die Annahme einer Protestresolution forderten.

Besondere Vorkommnisse von Bedeutung wurden in der Berichtszeit folgende gemeldet:

Auf den Bahnhöfen Zwickau, Wittenberge und Röblingen wurden auf Rangier- bzw. Einfahrtsgleisen und Weichen Hemmschuhe ausgelöst. Dadurch kam es in Wittenberge und Röblingen zu Entgleisungen von Güterwagen. In allen drei Fällen erhärtete sich bisher der Verdacht, dass diese Hemmschuhe durch Rangierer selbst gelegt wurden. (An der Aufklärung wird gegenwärtig noch gearbeitet.)

In der mit staatl. Beteiligung arbeitenden Fa. Fath in Ballenstedt/Quedlinburg/Halle wurden vor Arbeitsbeginn durch die Partei Sonderdrucke der Rede Walter Ulbrichts auf die Arbeitsplätze verteilt. Bis auf einzelne Ausnahmen wurden sämtliche Sonderdrucke von unbekannten Personen wieder eingesammelt und dem BGL-Vorsitzenden auf den Schreibtisch gelegt. Die Arbeiter erklärten dazu, ohne Ausnahme, dass sie in ihren Arbeitspausen keine politischen Gespräche wünschen.

In der Zentralwerkstatt Welzow/Cottbus trat verstärkt in Erscheinung, dass sich Jugendliche brieflich über die Konfliktkommission an das Arbeitsgericht wendeten. In diesen Briefen wandten sich die Jugendlichen gegen die Delegierung zur NVA durch den Betrieb sowie gegen die Ankündigung, dass sie im Falle der Weigerung entlassen würden.

Aus dem Kreis Werdau/Karl-Marx-Stadt wird berichtet, dass den Arbeitern in den Betrieben des Kreises vorgedruckte Briefe an den Staatsrat mit einer Anzahl von Verpflichtungen vorgelegt werden, ohne dass dazu Erläuterungen und Erklärungen abgegeben werden.

Am 9.9.1961, von 6.30 bis 9.30 [Uhr] legten im VEB Vogtländische Bekleidungswerke, Werk V in Reichenbach/Karl-Marx-Stadt 52 Arbeiterinnen die Arbeit nieder. Sie waren mit dem Betriebsbeschluss der Delegierung von Jugendlichen zur NVA nicht einverstanden, obwohl in dieser Abteilung keine Jugendlichen beschäftigt sind, die dafür infrage kommen. Die Mehrzahl der dort tätigen Arbeiterinnen hat jedoch Freunde und Ehemänner und vertrat die Meinung, dass diese nach dem erwähnten Betriebsbeschluss zur NVA müssten. Nach Aussprachen mit der Betriebs- und Gewerkschaftsleitung nahmen sie die Arbeit wieder auf. (Ermittlungen über die Initiatoren werden noch geführt.)

In den Bezirken Frankfurt/O. und Erfurt wurde festgestellt, dass in verschiedenen LPG versucht wird, einen Teil des abzuliefernden Getreides mit der Begründung zurückzuhalten, dass sonst die Versorgung des Viehes nicht gewährleistet sei.

In den Bezirken Halle, Dresden, Cottbus und Frankfurt/O. trat im Berichtszeitraum verstärkt in Erscheinung, dass Pfarrer die Einsichtnahme in die Wählerlisten ablehnten und offen erklärten, nicht an der Wahl teilzunehmen. In den Begründungen verweisen diese Kreise auf die gegen Präses Scharf ergriffenen Maßnahmen.22

  1. Zum nächsten Dokument Produktionsprobleme im Sprengstoffwerk Schönebeck

    11. September 1961
    Bericht Nr. 552/61 über einige Mängel im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck/Elbe

  2. Zum vorherigen Dokument Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (19)

    7. September 1961
    Bericht Nr. 546/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR (Berichtszeit 4. bis 7.9.1961)