Reaktion Westdeutscher und Westberliner SPD-Kreise zu Havemann
15. April 1964
Einzelinformation Nr. 317/64 über die Reaktion überwiegend westdeutscher und Westberliner SPD-Kreise zu den Vorgängen um Havemann
Nach mehreren vorliegenden internen Informationen übten insbesondere führende westdeutsche und Westberliner SPD-Funktionäre heftige Kritik an der Veröffentlichung des Interviews mit Havemann1 in der Westpresse.2 Sie verbanden diese Kritik größtenteils mit der Spekulation, dass die westdeutsche Seite bei einem geschickteren Vorgehen im Falle Havemann hätte mehr politisches Kapital daraus schlagen können.
Wie eine zuverlässige Quelle berichtet, habe das Mitglied des Westberliner SPD-Landesvorstandes Wilhelm Urban3 auf der Sekretärkonferenz der Westberliner SPD am 9.4.[1964] es »bedauert«, dass die SPD die Vorgänge um Havemann nicht aufgegriffen hat, um einen größeren politischen »Gewinn« daraus zu erzielen. Der SPD habe sich die Chance geboten, die Auseinandersetzungen und inneren Spannungen im »kommunistischen Machtbereich« zu vertiefen. Die Angelegenheit hätte deshalb vertraulich behandelt werden müssen.
Er, Urban, habe Wehner4 empfohlen, den für die Veröffentlichung des Interviews verantwortlichen Journalisten zur Rechenschaft zu ziehen. Der Parteivorstand hätte die Äußerungen Havemanns intern zur Kenntnis nehmen müssen, da Veränderungen im Osten nicht vom Westen aus erzwungen werden könnten. Die These der sogenannten Aufweichung vom Westen her sei falsch. Eine Chance zur Herbeiführung von Veränderungen in der DDR bestehe nur von innen heraus, und zwar mit solchen Leuten wie Havemann. Diese Kräfte würden dem Westen nutzen, weil sie Kommunisten sind und trotz ihrer öffentlichen Äußerungen auch Kommunisten bleiben würden.
Eine ähnliche Haltung nahm auf der bereits angeführten Sekretärkonferenz Prof. Stein5 (Mitglied des Westberliner SPD-Landesvorstandes und Senator für Wissenschaft und Kunst) ein. Stein bezeichnete das Interview mit Havemann als ein Musterbeispiel dafür, wie »kalte Krieger Politik machen«, wobei er die Schuld für die Veröffentlichung des Interviews insbesondere dem Hamburger Springerkonzern gab. Springer6 wolle keine Veränderungen im Machtbereich der SED, sondern wünsche, die SED und insbesondere die Parteiführung weiterhin als Feind zu sehen und zu bekämpfen. Die Folge einer solchen einseitigen Politik sei eine weitere »Verhärtung« im Osten. Stein habe weiter ausgeführt, dass der Interviewer Neß7 zwar von einer von der SPD beeinflussten Zeitung komme, die aber vom Springerkonzern finanziell gestützt werde. Durch die Veröffentlichung des Interviews seien bewusst eine Möglichkeit zur Schwächung der Position der SED-Führung und ein geeigneter Ansatzpunkt für die westliche Politik zerstört worden. Der SED-Führung sei dadurch sogar die Möglichkeit gegeben worden, gegen »oppositionelle« Mitglieder und gegen »liberale Tendenzen im ZK« vorzugehen, was sie voll nutzen werde und gestärkt habe. Er, Stein, sehe eher eine Möglichkeit zur Lösung des Deutschlandproblems eventuell zunächst in Form einer Annäherung, wenn die Führung der SED verändert würde.
Nach der Information einer anderen Quelle, deren Angaben bis jetzt jedoch noch nicht überprüft werden konnten, habe der stellvertretende Vorsitzende des SPD-Landesverbandes Schleswig-Holstein Paul Bromme8 erklärt, Havemann sei von zwei »irregeleiteten jungen Funktionären der SPD bzw. der Jungsozialisten reingelegt« worden. Führungskreise der SPD hätten das Havemann-Interview als eine Fälschung bezeichnet, deren Hintermänner bekannt seien. Das Interview habe in der SPD-Führung (einschließlich bei Brandt9) Empörung ausgelöst. Havemann seien sinnentstellende Worte unterschoben worden. Außer dem Journalisten Neß habe ein gewisser Hilper (oder Hilpert/Funktionär der Jungsozialisten)10 am Interview mitgewirkt.
Der Information der gleichen Quelle zufolge habe Bromme auch auf einer Tagung des »Europäischen Clubs«11 am 15.3.[1964] in Lübeck die Veröffentlichung des Interviews verurteilt.
Der Pressereferent Westberlins beim Bund [Vorname Name 1] habe auf dieser Tagung mitgeteilt, dass Brandt angefragt habe, von wem das Interview veranlasst wurde.
Bromme habe sich dafür ausgesprochen, Neß aus der SPD auszuschließen. Auch wenn Havemann ein halber oder ganzer Kommunist sei, gebe es keinen Grund, ihn durch unkluge Äußerungen zu gefährden.
Wie diese Quelle weiter berichtet, habe der bereits angeführte Hilper (oder Hilpert) auf einer Veranstaltung der Jungsozialisten erklärt, dass er während des Interviews von Havemann ein – nicht näher bezeichnetes – Manuskript gestohlen und nach Westberlin geschmuggelt habe. Die Frage, ob Havemann an einer westdeutschen Universität so auftreten könne wie an der Humboldt-Universität, sei von den Teilnehmern dieser Veranstaltung und später auch von Bromme und Lund12 (Landesvorsitzender der Jungsozialisten in Schleswig-Holstein) verneint worden. Havemann würde sich in Westdeutschland nicht halten können und sehr schnell die Intoleranz an den westdeutschen Universitäten und ihre Wirkung erkennen.
Über weitere Spekulationen Westberliner SPD-Funktionäre im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen Havemann berichtete eine zuverlässige Quelle. Danach würden es SPD-Funktionäre wie z. B. das Zehlendorfer Kreisvorstandsmitglied Heyen13 und der Fachberater für Presse im Landesarbeitsausschuss der Jungsozialisten [Name 2] im Falle des Vorgehens gegen Havemann eine Schwäche der Führung der SED sehen. (Sie bedienten sich zur Begründung ihrer Auffassung im Wesentlichen der aus der Westpresse bekannten »Argumente«.) Sie verbanden ihre Auffassung mit der Spekulation, dass für die SPD eine Neuorientierung ihrer Deutschlandpolitik möglich sei, wenn die »jüngeren Führungskräfte in der DDR regieren würden«.
Nach Einschätzung der Quelle würden solche Führungskräfte wie die Genossen Jarowinsky,14 Dr. Apel15 und Dr. Mittag16 von den Mitgliedern des Westberliner SPD-Landesvorstandes anders beurteilt, als die »alte Gruppierung« im ZK der SED bzw. im Politbüro. Im Apparat des Landesvorstandes habe der »Spiegel«-Artikel über Havemann Zustimmung gefunden. Es sei mit Interesse vermerkt worden, dass Genosse Sindermann17 härtere Formulierungen gegen Havemann gebraucht habe als Genosse Ulbricht.
Aus anderen Informationen wurde bekannt, dass in Kreisen der »Neuen Gesellschaft« in Hamburg (Schulungseinrichtung der SPD Hamburg) das Auftreten Havemanns als »zu früh und zu massiert« bezeichnet wurde. Die Gräfin Dönhoff18 (»Die Zeit«, Hamburg) habe erklärt, das Methode und Zeitpunkt des Auftretens Havemanns »verfrüht« gewesen und deshalb als Rückschlag zu werten seien. Ihrer Meinung nach würden sich die jungen Genossen der Studentenzeitschrift »Forum«19 mit der Meinung Havemanns identifizieren und sie würden »verhältnismäßig erfolgreich Opposition« betreiben.20
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