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Haltung verschiedener ev. Landeskirchen zu den Ereignissen in ČSSR

12. September 1968
Einzelinformation Nr. 1031/68 über die Haltung verschiedener Landeskirchen der evangelischen Kirche der DDR zu den Ereignissen in der ČSSR

Im Zeitraum nach dem 21.8.1968 – nach Einleitung der Hilfsmaßnahmen durch die Warschauer Vertragsstaaten in der ČSSR1 traten die Landeskirchen der evangelischen Kirchen

  • Kirchenprovinz Sachsen/Magdeburg unter Bischof Jänicke,2

  • Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen/Dresden unter Bischof Noth3 und

  • die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg unter Bischof Schönherr4

mit offiziellen Stellungnahmen, die sich inhaltlich gegen die Maßnahmen der fünf Warschauer Vertragsstaaten richteten, in die Öffentlichkeit.

Im Einzelnen wurde dazu Folgendes bekannt:

Am 26.8.1968 wurde während einer außerordentlichen Sitzung der Kirchenleitung der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen/Magdeburg unter Vorsitz von Bischof Jänicke festgelegt, unter dem Titel »An den Staat« eine Erklärung an die Superintendenten, Pfarrer und Gemeinden des zuständigen Kirchenbereichs herauszugeben, deren Inhalt sich gegen die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten richtet. (Darüber wurde in unserer Einzelinformation Nr. 921/68 vom 27.8.1968 berichtet.)

Nach einer am 27.8.1968 durch den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg mit Bischof Jänicke durchgeführten Aussprache zog dieser die bereits versandte Erklärung zurück, wobei er sich in seiner Entscheidung auf die inzwischen erfolgte Veröffentlichung des Moskauer Kommuniqués5 berief. Bischof Jänicke wies die Superintendenten, Pfarrer und Gemeinden an, die Erklärung nicht auszuwerten. Durch entsprechende Überprüfungen des MfS wurde festgestellt, dass die Erklärung in den Predigten im Bereich der Kirchenprovinz Sachsen keine Verwendung fand.

Bischof Noth/Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen (Bezirke Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt) gab an alle Superintendenten und Pfarrer der Landeskirche ein sogenanntes Bischofswort heraus, das von Form und Inhalt her geeignet war, den Pfarrern als Predigtanleitung für den Weltfriedenstag am 1.9.1968 zu dienen. Dieses sogenannte Bischofswort war ebenfalls gegen die Maßnahmen in der ČSSR gerichtet. (Eine Abschrift des »Bischofswortes« befindet sich in der Anlage.)

Während einer am 31.8.1968 durch Vertreter des Rates des Bezirkes Dresden mit Bischof Noth geführten Aussprache führte dieser als »Entschuldigung« an, das »Bischofswort« diene nicht dazu, in der Öffentlichkeit verlesen zu werden, sondern sei lediglich zur Unterstützung für Gespräche mit Amtsbrüdern gedacht; er könne sich aber nicht dafür verbürgen, dass die Pfarrer den Brief nicht in ihren Gottesdiensten verwenden würden.

In den Gottesdiensten am 1.9.1968 im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen wurde festgestellt, dass das »Bischofswort« von der Mehrzahl der Pfarrer zur Grundlage der Predigten genommen wurde.

  • (In der Kreuzkirche in Dresden hielt Bischof Noth die Predigt. Im Gebet erwähnte er, dass im Nachbarstaat wieder Ruhe und Gerechtigkeit einziehen mögen.

  • In Pirna-Copitz forderte Pfarrer Schumann in seinem Gebet für das tschechische Volk soziale Gerechtigkeit. Weiter brachte er zum Ausdruck, die Kirche habe empfohlen, der ČSSR in Fürbitten zu gedenken.

  • Pfarrer Goebel,6 Olbersdorf, Kreis Zittau, sprach in seiner Predigt über das Verhältnis zur ČSSR und führte aus, dass die Christen zu schwach gewesen seien. Wenn die Christen stärker und einig wären, dann hätte der Einmarsch in die ČSSR verhindert werden können.)

Einer der Hauptinitiatoren für den »Gottesdienst einmal anders«,7 Pfarrer Dr. Theo Lehmann,8 Karl-Marx-Stadt, führte nach entsprechender Vorankündigung am 1.9.1968 in der Schlosskirche Karl-Marx-Stadt in Anwesenheit von ca. 140 Personen einen »besonderen Gottesdienst« zu den Ereignissen in der ČSSR durch.

Dr. Lehmann wies von der Kanzel auf den Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges hin und leitete davon ausgehend auf die Ereignisse in der ČSSR über. Er erklärte dann unvermittelt, er sehe sich angesichts der Entwicklung der Ereignisse in der ČSSR außerstande, einen Gottesdienst zu halten und verließ demonstrativ die Kanzel. In einem Fürbittengebet betete er u. a.

  • für die DDR,

  • für den Genossen Walter Ulbricht,9

  • für die Nationale Volksarmee,

  • für unser Volk,

  • dass der Frieden erhalten bleiben möge,

  • dass das tschechoslowakische Volk kein Opfer politischer Leidenschaften werden möge,

  • für den Frieden in Vietnam.

In einer außerordentlichen Sitzung der evangelischen Kirchenleitung Berlin-Brandenburg am 5.9.1968 wurde ein Brief an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen in der ČSSR abgefasst. Dieser Brief wurde zusammen mit einem »Anschreiben« (Predigtanleitung) an alle Superintendenten und Pfarrer des Kirchenbereichs versandt. Beide Materialien richten sich gegen die Hilfsmaßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten und sollten in den Gottesdiensten am 8.9.1968 »ausgewertet« oder verlesen werden. (Darüber wurde in unserer Einzelinformation Nr. 1002/68 vom 6.9.1968 berichtet.)

In einer am 7.9.1968 durch den Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Seigewasser,10 mit Bischof Schönherr geführten Aussprache (die Schönherr später als »außerordentlich hart« bezeichnete) erklärte dieser, er sei nicht imstande, die Kirchenleitung nochmals zusammenzurufen und eine Weisung zur Zurücknahme dieser Schreiben zu erteilen.

Dem MfS wurde bekannt, dass im Anschluss an die Aussprache beim Staatssekretär für Kirchenfragen eine interne Konsultation zwischen Bischof Schönherr und dem Mitglied der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg Propst Ringhandt11 stattgefunden hat, während der Ringhandt über die Aussprache mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen informiert wurde. Schönherr äußerte die Absicht, noch am gleichen Tage eine außerordentliche Kirchenleitungssitzung einzuberufen, da er nicht die alleinige Verantwortung für den Versand des Briefes tragen wolle. Der Staatssekretär habe ihm unmissverständlich erklärt, dass der Brief an die ČSSR-Kirchen eine Einmischung in die Außenpolitik der DDR sei.

Ringhandt vertrat jedoch den Standpunkt, dass der Brief von der Kirchenleitung beschlossen, unmittelbar nach der Sitzung am 5.9.1968 abgeschickt und auch nicht mehr rückgängig zu machen sei. Es sei ja gerade die Absicht gewesen, den Staat vor vollendete Tatsachen zu stellen. Er sei absolut nicht bereit, irgendwelche Konzessionen zu machen; denn sonst würde es zur Gewohnheit werden, dass der Staat ständig um Erlaubnis gefragt werden müsse. Die Kirche sei ein eigenständiges und selbstständiges Gebilde und regele ihre inneren Angelegenheiten ohne Einmischung von außen. Unabhängig von der Meinung der Kirchenleitung sei die staatliche Weisung bezüglich der Rückgängigmachung des Verlesens in den Kirchen zu spät gekommen, da dies schon rein technisch überhaupt nicht möglich wäre. Es sei lediglich zu erwarten, dass die Räte der Bezirke die Superintendenten unter Druck setzen werden. Die Kirchenleitung werde jedoch in ihrer Entscheidung und in ihren Weisungen »hart« bleiben.

Von den Räten der Bezirke wurden am 7.9.1968 Aussprachen mit den Superintendenten geführt, um die Abkündigung zu verhindern. Die meisten Superintendenten erklärten jedoch, sie würden sich an die Weisung ihrer Landeskirche halten, da diese für sie bindend sei. Die »Anweisung« staatlicher Stellen hielten sie für eine »Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Kirche«. Dabei gab es neben der Weigerung, der staatlichen Aufforderung nachzukommen, ausfällige Äußerungen.

  • So erklärte Superintendent Telschow12/Brandenburg, er habe nach dem 21.8.1968 die »eiskalte Wahrheit« erfahren.

  • Superintendent Corbach13/Königs Wusterhausen sagte, dass dies jetzt der endgültige Scheidepunkt sei, an dem Staat und Kirche auseinandergehen müssten.

  • Superintendent Freybe14/Lübben sieht die »Tragödie« darin, dass »ein kleines Volk vor der nackten Gewalt und vor Panzern zittert«. Er müsse sich als Deutscher dieser Tatsache »schämen.«

  • Superintendent Detert15/Oranienburg, Superintendent Schröder16/Zossen und Pastor Brühe17/Potsdam sagten zu, in ihrem Amtsbereich die Materialien nicht zur Verlesung zu bringen.

Durch die Überprüfungen des MfS wurde bekannt, dass während der Gottesdienste im Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg am 8.9.1968 zum überwiegenden Teil die Materialien der Kirchenleitung (Brief an die im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen in der ČSSR und Brief an alle Superintendenten, Pfarrer und Prediger der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg) im vollen Wortlaut verlesen wurde.

In einigen Kirchen erfolgte die Verlesung kommentarlos, in den meisten wurde jedoch in der Predigt und in der Fürbitte außerdem zum Inhalt Stellung genommen.

  • Superintendent Figur18/Berlin spielte in seiner Predigt das ČSSR-Problem geschickt hoch und erklärte nach dem Verlesen des Briefes, es würde wieder mit militärischer Gewalt Politik gemacht, aber die Christen würden Gewalt grundsätzlich ablehnen. In der Fürbitte wurde für Bischof Schönherr gebetet, der jetzt gegenüber den Staatsorganen in Schwierigkeiten geraten sei. Außerdem wurde gebetet für die »Christen, die wegen des Briefes verärgert sind«, für die Regierenden in Prag und in Moskau und für vier Personen, die in der DDR inhaftiert wurden.

  • Generalsuperintendent Schmitt19 verlas in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg den Brief der Kirchenleitung. Er erklärte dazu, dass die Völker der ČSSR unter der »Unterdrückung« zu leiden hätten und dass auf Bitten der Gemeinden der Entschluss gefasst wurde, den von Bischof Schönherr unterzeichneten Brief der Kirchenleitung zu verlesen.

  • Pfarrer Heckel20/Berlin-Bohnsdorf erklärte in seiner Predigt, dass die Christen Gott dienen und nicht den Menschen. Menschen hätten nicht das Recht, andere Menschen zu unterwerfen, wie dies in der ČSSR geschehen sei.

  • Pfarrer Steinborn21/Niederschönhausen verlas den Brief nicht im Wortlaut, erwähnte ihn aber und sagte in der Fürbitte: »Herr, wir leiden, dass immer noch militärische Mittel eingesetzt werden, um politische Probleme zu lösen.«

In den meisten Gottesdiensten wurden Vietnam und die ČSSR in der Fürbitte gleichzeitig genannt und in Zusammenhang gebracht.

Anlage

Anlage zur Information Nr. 1031/68

Wortlaut des »Bischofswortes« von Bischof Noth/Dresden

»Liebe Brüder! | Die letzten Wochen, und vor allem die letzten Tage, haben über alle Welt eine bestürzende Unruhe gebracht, die bis zur Stunde nicht überwunden ist. Wir Pfarrer werden von vielen Seiten gefragt, und finden uns selbst als Fragende. Natürlich haben wir die Pflicht, uns gewissenhaft zu orientieren über alles das, was mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei und ihrer Vorgeschichte zusammenhängt. Wir müssen aber auch wissen, dass uns als Pfarrer von unserem Amt her Zurückhaltung in unseren Äußerungen geboten ist, gleichviel, ob man eine Stellungnahme von uns erwartet oder ob wir meinen, persönlich Partei ergreifen zu müssen. Es mag ein gutes Stück Selbstbeherrschung kosten, sich nicht von noch so begreiflichen Emotionen bestimmen zu lassen, aber was ist unsere Aufgabe, gerade angesichts der Ereignisse im Nachbarland und ihrer Auswirkungen? Lasst uns all unserer Verkündigung unmissverständlich bezeugen, dass Gewalt keine Verheißung hat, dass Versöhnung mit Gott, die uns widerfahren ist und immer neu widerfährt, auch zum Frieden ruft und führt, Menschen gegeneinander stehen, dass wir, auch wo Unrecht geschieht, Hass keiner Macht einräumen, wie immer er begründet werden mag, und wie jede notwendig werdende Auseinandersetzung die Freiheit und Würde der anderen zu respektieren hat. Lasst uns nicht müder werden in unserem persönlichen und im gottesdienstlichen Gebet, Fürbitte zu tun für alle in unserer unmittelbaren Nähe, und an anderen Orten Zersorgten, Bedrängten, Angefochtenen, für alle, die Macht und Verantwortung im politischen Geschehen haben, und für Kirchen in den von den Auseinandersetzungen betroffenen Gebieten, die der heilige Geist ihnen Weisheit zum Reden und Liebe zum Handeln gab. Lasst uns die Gemeindeglieder immer wieder zu solchem Dienst der Fürbitte aufrufen, der freilich nur im beschämenden Bewusstsein unserer eigenen Schuldhaftigkeit getan werden kann und nur Verheißung hat, wenn wir uns selbst zu Werkzeugen seines Friedens machen lassen.

Wir können mit unseren Gemeinden in diesen Tagen nicht zusammenkommen, ohne für die bedrohte Welt, in der wir stehen, unablässig zu beten. Wir wollen uns dabei an den Herrn wenden, der die Geschicke der Welt in seiner Hand hält und auf das Gebet seiner Gemeinde wartet. Darum macht eure Gottesdienste, Bibelstunden, Frauendienste, Männerkreise, Helferschaften, Jugendstunden und alle anderen Zusammenkünfte jetzt mehr denn je zu Stätten des gemeinsamen verantwortlichen Betens. Ermahnt die Glieder der Gemeinde, Tag für Tag auch in ihren persönlichen Gebeten das Schicksal der Welt und der Völker vor Gott zu bringen und um eigene Klarheit zu ringen. Im Besonderen wollen wir beten für das tschechoslowakische Volk,

  • dass es bewahrt werde, ein Opfer der politischen Leidenschaft zu werden,

  • dass es in Würde und Entschlossenheit tue, was für sein eigenes Schicksal und für das Zusammenleben der Völker in gegenseitiger Achtung am besten ist,

  • dass die Verkündung des Evangeliums in den christlichen Kirchen der Tschechoslowakei kräftig sei zu Trost und Weisung, zur Vergebung und Hoffnung,

und für unser eigenes Volk wollen wir beten, dass seine Glieder mit wachem Gewissen der Versöhnung, der Wahrheit und der Gerechtigkeit erkennen mögen, und dass menschliche Verbindung zwischen uns und anderen Völkern nicht durch Hass und unrechtes Handeln zerstört werde.

Lasst uns beten für die leidenden Völker in aller Welt und dabei besonders denken an Vietnam, Israel und seine arabischen Nachbarvölker, Nigeria und Biafra,22 Rhodesien und Südafrika. Ebenso wollen wir auch beten für die Mächtigen in der Welt, dass sie jeder Versuchung zum Missbrauch ihrer Macht widerstehen und dass sie dem Geist der Verständigung und des Friedens Raum geben. Lasst uns aber auch persönlich in unserem Zusammenleben dem Geist des Unfriedens endgültig absagen, damit wir nicht selbst verwerflich werden, Lieblosigkeit, Unversöhnlichkeit, Aufgeregtheit und vorschnelles Urteil über den Bruder machen nicht nur unsere Verkündigung und unser Beten unglaubwürdig, sondern verdecken das Evangelium vor den Augen der Welt. Der Herr erbarme sich unser!«

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