Kirchentag der ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Halle
21. September 1976
Information Nr. 657b/76 über den Kirchentag der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) vom 17. bis 19. September 1976 in Halle/Saale [Kurzfassung]
In der Zeit vom 17. bis 19. September 1976 fand in der Stadt Halle der für 1976 geplante regionale Kirchentag der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen unter der Losung »Gottes Wege führen weiter« statt.
Teilnehmer waren konfessionell gebundene Personen aus den Einzugsbereichen der
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evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Sitz Magdeburg,
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evangelischen Landeskirche Anhalt, Sitz Dessau,
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evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsen, Sitz Dresden.
Darüber hinaus nahmen einzelne Kirchenmitglieder aus dem Bereich der katholischen Kirche und der Freikirchen teil.
Beachtung verdient auch die Anwesenheit ökumenischer Gäste, u. a.
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Kirchenpräsident Hild, Helmut (BRD), Stellvertretender Vorsitzender des »Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD),
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Kirchenpräsident Dr. Sigrist, Walter (Schweiz),
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Prof. Dr. Dantine, Wilhelm (Österreich),
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Kirchenvertreter aus der UdSSR, Ungarischen VR sowie ČSSR
sowie die Anwesenheit der BRD-Korrespondenten
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Henkys, Reinhard, Redakteur des Evangelischen Pressedienstes (epd),
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Nöldechen, Peter, akkred. Korrespondent der »Westfälischen Rundschau«,
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Tautz-Wiessner, Hans-Jürgen, akkred. Korrespondent des »Zweiten Deutschen Fernsehens« (ZDF).
Mit Ausnahme der Abschlussveranstaltung, die auf dem Lok-Sportplatz in Halle durchgeführt wurde, fanden alle weiteren kirchlichen Veranstaltungen (Vorträge, ökumenische Foren, zahlreiche Jugendtreffen und Gottesdienste, Kulturveranstaltungen wie Kabarett und Schriftstellerlesungen, »Abende der Begegnung«, Pressekonferenz) in klerikalen Einrichtungen statt.
Sorgfältig vorbereitet war die Arbeit in acht Arbeitsgruppen des Kirchentages, die u. a. zu solchen Problemen diskutierten:
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Der Mensch auf der Suche nach sich selbst,
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Christlicher Glaube und Verantwortung in der Gesellschaft,
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Christsein in Konflikten und mit Kompromissen,
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Wenn man uns nach unserem Glauben fragt,
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Wissenschaftlich-technische Umwälzung – Herausforderung zu neuen Verhaltensweisen,
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Wege zueinander,
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Familie und Erziehung im Wandel,
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Gottes Segen in neuen Gemeindeformen.
Am Kirchentag beteiligen sich ca. 1 000 bis 1 300 Dauerteilnehmer, die vorwiegend in den acht Arbeitsgruppen tätig waren. Am Eröffnungsvortrag durch Bischof Krusche waren ca. 1 500 Teilnehmer zu verzeichnen; die acht Gottesdienste und Morgenveranstaltungen am 19. September 1976 besuchten insgesamt ca. 5 600 und die Abschlussveranstaltung ca. 9 000 Personen. Die übrigen Veranstaltungen weisen unterschiedliche Teilnehmerzahlen (zwischen 500 und 1 100 Personen) aus. Der überwiegende Teil der Teilnehmer hatte offensichtlich feste kirchliche Bindungen. Bezeichnend ist jedoch ein relativ hoher Prozentsatz jugendlicher Besucher (durchschnittlich etwa 20 %), wobei bestimmte Veranstaltungen vorwiegend von Jugendlichen besucht waren.
Es ist einzuschätzen, dass es während des Kirchentages im Stadtgebiet von Halle in der Öffentlichkeit zu keinen, die staatliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigenden Handlungen kam und die Aktivitäten kirchlicher Funktionäre auf konfessionell gebundene Teilnehmer von Veranstaltungen begrenzt blieben.
Bei der Bevölkerung der Stadt Halle, von religiös gebundenen Personenkreisen abgesehen, fand der Kirchentag keine wesentliche Beachtung. Auch außerkirchliche negative Gruppen (»Tramper« und »Gammler«) traten nicht in Erscheinung.
Der Kirchentag in Halle machte sichtbar, dass die leitenden kirchlichen Funktionäre bestrebt waren, während des Kirchentages in der Öffentlichkeit nicht provokatorisch in Erscheinung zu treten, da sich dies nachhaltig auf die kirchlichen Interessen auswirken könnte.1 Die prinzipielle Zurückweisung der auf Konfrontation und Diffamierung der DDR zielenden Kampagne im Fall Brüsewitz durch die staatlichen Organe bei einflussreichen kirchenleitenden Persönlichkeiten hat sich bewährt. Damit wurde erreicht, dass seitens reaktionärer Kräfte in kirchenleitenden Positionen keine weitere Zuspitzung der kirchenpolitischen Situation erfolgte.
Im Auftreten Bischof Krusches – wie auch anderer leitender Funktionäre – war ein vorsichtiges Taktieren zu erkennen. In mehreren Zusammenkünften umging er provokatorische Fragestellungen, indem er ausweichend oder hinhaltend antwortete.
In Kreisen der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen wurde vertraulich geäußert, es sei offensichtlich, dass die Zurückhaltung Bischof Krusches als Geste gegenüber dem Staat zu verstehen sei. Die Kirchenleitung habe sich bemüht, die Situation nicht weiter anzuheizen und sich an die mit den staatlichen Organen getroffenen Vereinbarungen gehalten, um eine weitere Konfrontation zu vermeiden.
Bischof Krusche sprach sich in seinem Eröffnungsvortrag u. a. für eine Zusammenarbeit von Christen und Marxisten aus, betonte jedoch die Notwendigkeit der Verwirklichung der individuellen Menschenrechte.
Auf dieser Linie bewegten sich auch in den Hauptgottesdiensten Bischof Hempel, Dresden, Kirchenpräsident Natho, Dessau, Propst Falcke, Erfurt, Propst Münker, Halle und andere. Propst Münker hatte u. a. auch den Vertreter des ZDF, Tautz-Wiessner, gebeten, keine Filmaufnahmen von möglichen Sichtagitationen einzelner Teilnehmer zu produzieren, die nicht im Interesse des Kirchentages stehen.
Jedoch wurde am 17. September 1976 nach Mehrheitsbeschluss in einer vertraulichen Zusammenkunft kirchlicher Amtsträger entschieden, dass der provokatorische »Brief der Konferenz der evangelischen Kirchenleitung der DDR« vom 11. September 1976 in den Kirchen der DDR zu verlesen ist.2
Der Kirchentag wurde zu Zusammenkünften zwischen kirchlichen Amtsträgern genutzt, so auch zu Treffen mit Kirchenpräsident Hild.
In den acht Arbeitsgruppen des Kirchentages kam es zu keinen wirksamen Provokationen. Vorrangig wurden Probleme und Aufgaben der Christen in der DDR aus theologischer Sicht behandelt und vom Standpunkt der bürgerlichen Ideologie aus interpretiert, wobei als Aufgabe die Verstärkung des kirchlichen Einflusses, vor allem auf die Jugend, gestellt wurde. Bestrebungen wurden sichtbar, die Möglichkeiten kirchlicher Betätigung in der DDR zu erweitern.
Einzelne Teilnehmer der Arbeitsgruppen versuchten, durch Fragestellungen bzw. Diskussionsbeiträge die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu diskriminieren, Menschenrechtsprobleme zu behandeln und den Nachweis zu führen, dass Christen in der DDR »Menschen zweiter Klasse« sind.
Zu einem »Jugendtreffen« am 18. September 1976 (300 Teilnehmer), zum »Abend der Begegnung« am gleichen Tage (400 Teilnehmer) sowie dem Auftritt eines Kabaretts »Die Dekanatslosen« (katholische Studentengemeinde Magdeburg) gab es zweideutige Sichtagitationen bzw. mit den Mitteln der Satire vorgetragene Angriffe auf Erscheinungen im sozialistischen Leben. So waren beim »Jugendtreffen« im kirchlichen Gemeindehaus Plakate angebracht mit zweideutiger politischer Aussage. Im Verlauf des Programms trat ein Student der Martin-Luther-Universität Halle (Mitglied der katholischen Studentengemeinde) auf, der Lieder mit Texten negativen Inhalts vortrug. Im Programm des Kabaretts wurden aktuell-politische Fragen, wie Wahlen, Tätigkeit der örtlichen Volksvertretungen, Verhältnis zwischen Funktionären und Arbeitern in der DDR, abwertend interpretiert.
Die bereits genannten BRD-Korrespondenten Henkys, Nöldechen und Tautz-Wiessner nahmen an mehreren kirchlichen Veranstaltungen teil. Während des Kirchentages übermittelte Henkys (epd) seiner Redaktion Eigenberichte zum Kirchentag in der DDR. Neben Angaben zum organisatorischen Ablauf und zur Anzahl der Teilnehmer hob er besonders hervor, dass »die Veranstaltungen des Kirchentages Möglichkeiten der Kommunikation der isoliert lebenden Christen eröffnen«.
Nöldechen nahm an verschiedenen Veranstaltungen teil, ohne selbst aktiv in Erscheinung zu treten. Er dokumentierte akustisch die Pressekonferenz am 18. September 1976 und die Kabarettveranstaltung. Tautz-Wiessner mit Kameragruppe filmte u. a. während der Abschlussveranstaltung.
Der Kirchentag erhielt eine Verbindung zum Fall Brüsewitz durch die Abkündigung des bereits genannten »Briefes der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen der DDR« vom 11. September 1976.3
Während der Pressekonferenz am 18. September 1976 stellte der Korrespondent Henkys (epd) die Frage, welche Rolle der Fall Brüsewitz in der Beratung der Arbeitsgruppen spielte. Die Beantwortung der Frage wurde abgelehnt und auf eine erst erforderliche Auswertung der Tätigkeit der Arbeitsgruppen verwiesen. Auf eine Frage von Henkys, inwieweit politische Umstände die Schuld tragen, dass Menschen mit Selbstmord enden, wurde vom Pressepfarrer Meinhof der Kirchenleitung Magdeburg entgegnet, der Fall Brüsewitz gehöre nicht in die Pressekonferenz und sei für die Kirche abgeschlossen.