Direkt zum Seiteninhalt springen

Kirchentag der ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Halle

20. September 1976
Information Nr. 657a/76 über den Kirchentag der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) vom 17. bis 19. September 1976 in Halle/Saale [Langfassung]

Über den Verlauf des Kirchentages der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) – der unter Beteiligung der angrenzenden Landeskirchen Sachsen (Dresden) und Anhalt (Dessau) stattfand1 – wurden u. a. folgende bemerkenswerte Einzelheiten bekannt:

Der Kirchentag, der seit Langem in der Kirchenprovinz inhaltlich und organisatorisch vorbereitet wurde und unter dem Thema: »Gottes Wege führen weiter« stand, absolvierte ein umfangreiches Programm:

Arbeit des Kirchentages in acht Arbeitsgruppen

17.9.1976

Vortrag zur Einführung in die Gesamtthematik durch Bischof Krusche, Magdeburg, im Dom

17.9.1976

»Abend der Begegnung« in der Marktkirche

18.9.1976

Jugendtreffen im Paulusgemeindehaus

18.9.1976

Kabarettveranstaltung in der Johanneskirche »Das vorletzte Gericht«

18.9.1976

Pressekonferenz

19.9.1976

Gottesdienste mit festlicher Musik in verschiedenen Kirchen, bei denen u. a. Bischof Krusche, Magdeburg, Bischof Hempel, Dresden, Propst Dr. Falcke, Erfurt, und Kirchenpräsident Natho, Dessau, predigten

19.9.1976

spezielle Jugendgottesdienste in der Luther- und in der Marktkirche

19.9.1976

Diakonische Gottesdienste für Schwerhörige und Gehörlose

19.9.1976

Katholische Gottesdienste

19.9.1976

Ökumenisches Forum in der Moritzkirche, in dem Bischöfe auf »Fragen aus der Gemeinde« antworteten

19.9.1976

Schriftstellerlesungen mit Christa Stege, Berlin, im Domgemeindehaus und mit Alfred Kumpf, Leipzig, in der Christusgemeinde

19.9.1976

Singen mit Gerhard Schöne in der Laurentiuskirche

19.9.1976

Kabarett im Trotha-Gemeindehaus

19.9.1976

Abschlussveranstaltung auf dem Lok-Sportplatz, Kanenser Weg

Die Leitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen hatte sich auf eine hohe Teilnehmerzahl des Kirchentages eingerichtet, insbesondere zu den Jugendveranstaltungen und zur Abschlussveranstaltung. Mit Beginn der Veranstaltung waren ca. 1 000 Dauerteilnehmer im Organisationsbüro des Kirchentages gemeldet, die vorwiegend in den acht Arbeitsgruppen arbeiteten; zur Abschlussveranstaltung wurde mit ca. 9 000 Personen gerechnet.

Am Tagungsort befanden sich während der Dauer des Kirchentages, beginnend mit der Veranstaltung im Dom, u. a. die Journalisten des ZDF, Tautz-Wiessner, der »Westfälischen Rundschau«, Nöldechen, und des Evangelischen Pressedienstes (– epd –) Westberlin, Henkys.

Aus nichtsozialistischen Staaten waren u. a. angereist:

  • Dr. Sigrist, Präsident des Schweizerischen Ev. Kirchenbundes,

  • Prof. Dr. Dantine, Universitätstheologe an der Universität Wien,

  • Hild, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, stellvertr[etender] Vorsitzender des Rates der »Evangelischen Kirche in Deutschland«/BRD.

Die offizielle Eröffnung des Kirchentages erfolgte am 17. September 1976, 19.30 Uhr, im Dom vor ca. 1 200 Personen, darunter über 200 Jugendlichen.

Nach kurzen Eröffnungsansprachen durch Landessuperintendent Schröder, Parchim, (Präses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR) und Pfarrer Dr. Nierth, Schraplau, hielt Bischof Krusche, Magdeburg, den Eröffnungsvortrag. Er verwies u. a. darauf, in seinen Ausführungen fänden die »letzten aktuellen Ereignisse« keine Berücksichtigung, weil das Manuskript bereits seit Juni d. J. vorlag.

Krusche brachte u. a. zum Ausdruck:

Die Zusammenarbeit von Christen und Marxisten in unserer Gesellschaft sei oft »beschworen« worden. In der Berufsarbeit sei sie völlig selbstverständlich, im politischen Bereich bestehe jedoch oft der Eindruck, dass die Mitarbeit der Christen erwünscht sei, »aber nicht in dem Sinne, dass sie Eigenes beizutragen hätten«. Krusche ging weiter auf die Möglichkeiten des Mitwirkens der Kirche in der Gesellschaft ein. Es sei die Aufgabe der Kirche in der DDR, die Festlegungen der Schlussakte von Helsinki, speziell des »Korbes III«,2 weiter zu verwirklichen. In der DDR sei durch den Staat die soziale Sicherheit der Menschen gewährleistet; deshalb käme es für die Kirche darauf an, für weitere »menschliche Freiheiten« einzutreten.

Das Referat von Bischof Krusche wurde mit starkem Beifall aufgenommen und den Teilnehmern im Anschluss an den Eröffnungsgottesdienst schriftlich ausgehändigt.

Am 17. September 1976 fand in der Zeit von 21.00 bis 23.15 Uhr in der Marktkirche der »Abend der Begegnung« statt. Anwesend waren ca. 1 200 Personen, davon die Hälfte Jugendliche. Es handelte sich um ein zwangloses Zusammensein von Kirchentagsteilnehmern. Individuelle Gespräche der Anwesenden wurden umrahmt mit moderner geistlicher Musik, die eine Band des Oberseminars Naumburg3 vortrug. Innerhalb der Kirche waren Mal- und Bastelecken eingerichtet, in denen sich die Teilnehmer zwanglos beschäftigen konnten. Besondere Vorkommnisse wurden dabei nicht festgestellt.

Bereits am 17. September 1976 tagten von 14.00 bis 17.00 Uhr erstmalig die acht Arbeitsgruppen des Kirchentages. Sie arbeiteten unter den Themen:

  • 1.

    Der Mensch auf der Suche nach sich selbst

  • 2.

    Christlicher Glaube und Verantwortung in der Gesellschaft

  • 3.

    Christsein in Konflikten und mit Kompromissen

  • 4.

    Wenn man uns nach unserem Glauben fragt

  • 5.

    Wissenschaftlich-technische Umwälzung – Herausforderung zu neuen Verhaltensweisen

  • 6.

    Wege zueinander

  • 7.

    Familie und Erziehung im Wandel

  • 8.

    Gottes Segen in neuen Gemeindeformen

Bereits vor Beginn des Kirchentages war von kirchenleitenden Persönlichkeiten intern verlautbart, dass besonders in der Arbeitsgruppe 3 vom Beratungsgegenstand her Konflikte zwischen Staat und Kirche angesprochen werden könnten.

Der Leiter der Arbeitsgruppe 3, Pfarrer Harald Feix, Brehna, hatte den Teilnehmern der Arbeitsgruppe vor Beginn des Kirchentages ein sogenanntes Vertiefungsmaterial übersandt, das u. a. Konflikte in der Schule, in der Berufswelt und in der Gesellschaft behandelte. In diesem Material wird u. a. Folgendes zum Ausdruck gebracht:

»Zwischen Manipulation und Freiheit …

Manipulation bedeutet meistens Einengung der Entfaltungsfreiheit und Störung der freien Meinungsbildung. Zur Wirkung kommt sie in Reklame, Werbung, Propaganda, Schulung. Sie baut auf oder wertet ab, verleumdet, greift Dinge heraus, je nach dem gewünschten Effekt …

Nicht verarbeitete Probleme bleiben als geistiger Müll zurück: degenerierte Urteilsfähigkeit, Hemmungen, Verkrampfungen, die sich bis zur Bewusstseinsspaltung steigern können. Gestörtes Selbstbewusstsein bildet den Nährboden für Intoleranz, Terrorismus und Tyrannei.

Freiheit fordert Mut, Selbstzucht, Toleranz, Ausdauer und Bescheidenheit, Leben mit Konflikten und Kompromissen in der Schule … Ursachen für Konflikte: Der Marxismus lehnt Haltungen ab, die ›nur‹ aus christlichem Glauben erwachsen oder prinzipielle Unterschiede zwischen Lehre und Leben machen. Christlicher Glaube hingegen hat keine fertigen Antworten auf jede Frage …

Toleranz zwischen bewussten Atheisten und Christen fehlt oft, wodurch sich im Arbeitsalltag und in der Volksbildung usw. Situationen ergeben, die besser in gegenseitigem Einvernehmen geklärt werden müssten. Christen erkennen den Wert gesellschaftlicher Organisationen, lehnen aber jeden Zwang zur Mitgliedschaft ab. Die Ursachen für Geldgier und Heuchelei bei Erwachsenen liegen in einer Erziehung, die Kinder unterschiedlich behandelt und sie nur auf Fortkommen und Lebensstandard ausrichtet …

Marxisten werden Eltern schätzen lernen, die nicht zuerst nach Vorteilen für ihre Kinder ausschauen, sondern mit diesen zusammen ihren christlichen Glauben bekennen und praktizieren. Die Folge könnte ein Abbau der Gleichgültigkeit, des Egoismus, der Heuchelei und des Bürokratismus sein. Erziehung zur Toleranz ist eine Überlebensvoraussetzung kommender Jahrzehnte …

Auch um anderer Menschen willen dürfen Benachteiligungen um des Glaubens willen nie stillschweigend hingenommen werden! Feigheit und Angst lähmen und führen zur Gleichgültigkeit …

Konflikte in der Berufswelt: Trotz bedingt freier Berufswahl ist das Arbeitskollektiv eine Art Zwangsgemeinschaft. Man kann sich seine Kollegen nicht aussuchen …

Umgang mit Vorgesetzten: Erschwerend wirkt die Unterordnung eines Menschen unter einen anderen. Neben Weisungsrecht noch das soziale und Bildungsgefälle …

Einschränkung der Offenheit durch Respekt oder Furcht.

Umgang mit Untergebenen: Gefahr liegt im Hochmut. Die eigene Stellung wird eigenen Fähigkeiten zugeschrieben und diese alleiniger Maßstab zur Menschenbeurteilung. Der Mitmensch wird zum Objekt. Gefahr der Ausnutzung der Abhängigkeit! Das Evangelium zeigt die Sorge um den schwächeren und benachteiligten Menschen …

Konflikte in der Gesellschaft: Frage nach der Mitarbeit …

Spannungsfelder

allgemein: gestörtes Verhältnis zwischen Individualität und Gruppenverflochtenheit …

DDR: Zusammenarbeit zwischen Christen und Marxisten bei Bestreitung einer Koexistenz der Überzeugungen.

›Totalbeanspruchung‹ des Staatsbürgers und ›Freiheit‹ des Christen … Unsere Person wird anerkannt, aber nicht unsere Überzeugung …

Weder Abkapselung noch totale Anpassung kommen infrage. Der Christ wird seinen eigenen Weg des differenzierten Ja und Nein zu gehen und damit seine kritisch helfende Funktion zu erfüllen haben.

Bewusste Tätigkeit im Erziehungswesen (Elternaktiv und -beirat), militärische Ausbildung (NVA) usw., Mitgliedschaft in Parteien, Organisationen, Aktivgruppen …

Wer Kollisionen ausweicht, macht es Einschüchterungen relativ leicht …«

Die Arbeitsgruppe 3 bestand am 1. Beratungstag aus 140 Teilnehmern. Pfarrer Wohllebe dankte in einem Eröffnungsgebet dafür, dass der Kirchentag in der sozialistischen Gesellschaft stattfinden kann. Er betonte, die Funktionäre würden hoffentlich nicht ihren »einseitigen Standpunkt« behalten.

Auf die Rede des Volkskammerpräsidenten Götting eingehend, deutete er an, die Freiheit der Christen in der DDR bestehe nicht, wie dies gesagt worden wäre. Er forderte die Arbeitsgruppenleiter auf, sich so wie er brieflich an Götting zu wenden und um Richtigstellung des Faktes zu ersuchen.

Am 2. Beratungstag (18. September 1976) versuchten einige Teilnehmer der Arbeitsgruppe 3 durch geschickte provokatorische Fragestellungen die Diskussion stärker auf das Verhältnis Staat – Kirche zu lenken. So wurde unter den Anwesenden der Arbeitsgruppe eine »Umfrage« z. B. in der Form gehalten: »Wer ist Mitglied der CDU?«,4 »Wer ist Abgeordneter in der Volkskammer?«, »Wer ist Abgeordneter im Bezirkstag/Kreistag?« usw., mit der abschließenden »Feststellung«, dies treffe für niemanden zu, und die Christen seien von der Mitverantwortung ausgeschlossen.

Weitere »Umfragen« in der Arbeitsgruppe 3 zielten darauf ab festzustellen, wer Mitglied der DSF, des FDGB usw. sei und unter welchen Umständen die Mitgliedschaft erworben wurde: aus eigener Initiative oder aus irgendwelchen – eventuellen psychischen – Zwängen heraus.

In provokatorischer Form wurde nach diesen »Umfragen« an den anwesenden Vertreter der »Neuen Zeit«, Klages, die Frage gerichtet, warum der Brief der Kirchenleitung Magdeburg (den Fall Brüsewitz betreffend), der auch der Redaktion der »Neuen Zeit« übersandt wurde,5 nicht veröffentlicht wird. Klages gab in Form eines theologischen Gleichnisses eine Begründung, wonach eine direkte Beantwortung nicht infrage komme.

Aus der Arbeit der anderen Arbeitsgruppen wurde u. a. bekannt:

Arbeitsgruppe 1:

Es beteiligten sich am 1. Arbeitstag 105 Personen. Die Mehrzahl der Teilnehmer verhielt sich positiv bis loyal. Diskutiert wurden die Fragen »Kollektivismus und sozialistische Persönlichkeit« und der Normen, die durch »andere Menschengruppen« aufgezwungen werden. Der in dieser Gruppe als Berater auftretende Prof. Dr. Dantine/Österreich unterstrich die »Überlegenheit der westlichen pluralistischen Demokratie gegenüber dem sozialistischen Regime«.

Arbeitsgruppe 2:

130 Teilnehmer am 17. September 1976. Es wurde vorwiegend darüber diskutiert, wie die Kirche ihren Einfluss, insbesondere unter der Jugend, aktivieren könne. Die Kirche müsse sich von alten, überholten Formen der Einflussnahme lösen. Einzelne negative Äußerungen wurden zurückgedrängt und die positiven Möglichkeiten der Christen in der sozialistischen Gesellschaft herausgestellt.

Arbeitsgruppe 4:

160 Teilnehmer. Diskussionsgegenstand waren theologische Probleme.

Arbeitsgruppe 5:

102 Teilnehmer. Es wurden sachliche Diskussionen geführt über wissenschaftlich-technische Revolution und Zusammenhänge mit dem christlichen Glauben. Die Zusammenarbeit von Christen und Nichtchristen wurde als notwendig hervorgehoben.

Arbeitsgruppe 6:

120 Teilnehmer. Bei der Behandlung psychischer, psychologischer und soziologischer Fragen standen Alltagsprobleme im Vordergrund.

Arbeitsgruppe 7:

120 Teilnehmer. Die Diskussion wurde auf der Grundlage eines in einem kurzen Laienspiel konstruierten Widerspruchs zu Fragen der Autorität und Überzeugung aufgebaut. Der Themenkreis bewegte sich vornehmlich um Familie und Religion. Dadurch wurden Bezüge der Umwelt fast völlig ausgeklammert und keine gesellschaftspolitischen Aussagen getroffen.

Arbeitsgruppe 8:

Es wurden solche Probleme diskutiert wie:

  • Sinn der »kleinen Schritte«,

  • Kompromisse werden sinnvoll in der Nachfolge,

  • Einstellung auf Missverständnisse und Leiden,

  • Zeichen seien nicht die geballten Fäuste, sondern die durchlöcherten Hände.

Breiten Raum nahm der Austausch über bewährte Formen der Gemeindearbeit ein. Als Gründe für Nichtbeteiligung an kirchlichen Veranstaltungen wurden genannt:

  • Der Mensch wird vom Leistungsdruck aufgefressen.

  • Der Mensch leidet unter großem politischen Druck.

  • Der Mensch hat nur Funktionen wie Maschinen.

  • Dies sind Folgeerscheinungen der Struktur unseres Staates.

Die Teilnehmerzahlen in den Arbeitsgruppen erhöhten sich am 18. September 1976 von ca. 1 100 am Vormittag auf ca. 1 200 am Nachmittag. In den Diskussionen wurden vorrangig Probleme und Aufgaben der Christen in der DDR aus theologischer Sicht behandelt.

Trotz höherer Teilnehmerzahl gingen ab 18. September 1976 die Intensität und Mitarbeit in den Arbeitsgruppen zurück. Viele Teilnehmer brachten zum Ausdruck, sie hätten in die Rede von Bischof Krusche größere Erwartungen gesetzt und seien enttäuscht von der ungenügenden Resonanz zu den in den Arbeitsgruppen gestellten Anfragen.

Intern wurde weiter bekannt, dass der stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD, Hild, in einer Arbeitsgruppe die Atmosphäre des Kirchentages Halle als gut herausgestellt habe. Er wäre froh, wenn der Kirchentag in Frankfurt/M. unter den gleichen Bedingungen durchgeführt worden wäre. In Halle würden die Teilnehmer sehr frei und offen diskutieren, und er hoffe, dass die Christen in der DDR auch den Mut aufbringen, im gesellschaftlichen Bereich in dieser Form aufzutreten.

Am 18. September 1976 fand in der Zeit von 17.00 bis 18.10 Uhr im Gemeindehaus der Paulusgemeinde ein Jugendtreffen, an dem ca. 300 Personen teilnahmen, statt. In Gesprächsrunden wurde zu den vorgegebenen Themen – »Gespräche nach Wahl«, »Musikladen«, »Marionetten«, »Materialskulpturen«, »Form und Gestaltung«, »Reden und Schweigen« – diskutiert. Die Sichtagitation befasste sich mit dem Thema »Hilfe für die dritte Welt«. Während der Veranstaltung trat der Sänger Funke, KSG, Student der Martin-Luther-Universität Halle, der bereits in der Vergangenheit in klerikalen Veranstaltungen mit politisch zweideutigen bis negativen Texten in Erscheinung getreten war, auf. Funke bringt Kirchenlieder mit eigenen Texten zu Gehör. Seine »Lieder« in der Paulusgemeinde brachten u. a. zum Ausdruck:

  • Es wehen verschiedene Fahnen, aber wir wählen uns unsere eigenen Farben.

  • Wir sind zusammengekommen, um über Freiheit und Liebe zu singen.

  • Bei uns braucht niemand seinen Ausweis vorzuzeigen; jeder kann ungezwungen selbst entscheiden, ob er mitsingt.

Innerhalb einer Diskussionsgruppe sang er weitere Lieder negativen Inhalts, u. a.

  • Ich bin gläubig und deshalb verdrängt, aber mein Glaube macht mich wahrhaft frei.

  • Seminargruppenmitglieder schwimmen aus politischen Gründen im Streben nach Vorteilen mit dem Strom. Für Geld sind sie bereit, die Freiheit zu verkaufen.

Am 18. September 1976 trat in der Zeit von 19.00 bis 21.30 Uhr im Gebäude der Johannisgemeinde das Kabarett »Die Dekanatslosen« vor ca. 600 Personen aller Altersgruppen auf. In dem Programm waren aktuelle politische Fragen wie Wahlen, Tätigkeit der örtlichen Volksvertretungen, Fernsehprogramme, Verhältnis zwischen Funktionären und Arbeitern der DDR in satirischen und teilweise eindeutig sozialistische Positionen abwertenden Interpretationen enthalten.

Am 18. September 1976 fand in den Abendstunden in der Marktkirche Halle, wie bereits am Vorabend, der »Abend der Begegnung« statt, an dem ca. 450 Personen – davon 200 Jugendliche – teilnahmen. Während dieser Veranstaltung wurde im Veranstaltungsraum eine etwa 1,00 × 0,50 m große Zeichnung angebracht. Sie enthielt andeutungsweise einen größeren und drei kleinere Menschen. Rechts oben waren eine Bombe und links oben ein Blumengebinde angedeutet. Darunter stand der Name Brüsewitz. (Die Zeichnung wurde sichergestellt. An der Aufklärung des Täters wird gearbeitet.)

Am 18. September 1976 fand in der Zeit von 17.00 bis 18.15 Uhr im Luther-Gemeindehaus in Halle eine Pressekonferenz anlässlich des Evangelischen Kirchentages statt. Als Vertreter der Kirche nahmen teil: Propst Münker, Halle, Pfarrer Krüger, Storkow, Pfarrer Dr. Nierth, Cheforganisator des Kirchentages, Superintendent Schulz, Verwaltungssuperintendent und Vorsitzender des Kirchenrates Halle, Oberkonsistorialrat Dr. Schultze, Magdeburg, Pfarrer Meinhof, Magdeburg, und Diakon Schöber, Halle.

An der Pressekonferenz nahmen der Vertreter der »Westfälischen Rundschau«, Nöldechen, und Henkysepd – teil. Bischof Krusche blieb der Pressekonferenz ohne Angabe der Gründe fern. Pfarrer Meinhof stellte die Teilnehmer vor, und Propst Münker erläuterte das Kirchentagssymbol. Superintendent Schulz informierte über die Struktur des Kirchenrates, die Arbeitsweise in Arbeits- und Untergruppen, die Anzahl der Teilnehmer am Kirchentag, die stärkere Zuwendung des Kirchentages zu christlichen Grundsatzfragen, den wachsenden Zustrom jugendlicher Personen zur Kirche und die zuverlässige Unterstützung des Kirchentages durch staatliche Stellen.

Henkysepd – stellte provokatorisch die Frage, welche Rolle der Fall Brüsewitz in den Beratungen der Arbeitsgruppen spiele.6 Er erhielt die Antwort, dass dazu keine Einschätzung vorgenommen werden könne, da erst eine zusammenfassende Beratung der Arbeitsgruppenleiter stattfinden würde. Henkys wollte weiter wissen, ob »die Umweltbedingungen (Industrie und Smog) oder die politischen Umstände schuld daran seien, dass Menschen im Selbstmord enden« und ob die Kirchenleitung den Fall Brüsewitz entsprechend untersucht habe. Pfarrer Meinhof gab zur Antwort, der Fall Brüsewitz gehöre nicht in die Pressekonferenz.

Der Vertreter der »Westfälischen Rundschau« fragte nach Entwicklungstendenzen unter der Jugend in ihrer Beziehung zur Kirche. Es wurde geantwortet, unter der Jugend gäbe es eine steigende Tendenz in der kirchlichen Arbeit, die Jugend würde sich stärker kirchlich engagieren als die älteren Bürger.

Abschließend wurde dargelegt, dass Bischof Krusche anlässlich eines Empfanges den Staatsorganen für die Unterstützung des Kirchentages gedankt habe und während des bisherigen Verlaufes des Kirchentages »Gesten des Verständnisses und der Öffnung« zu verzeichnen seien.

Dieser Empfang der Leitung des Evangelischen Kirchentages fand am 18. September 1976 im Evangelischen Diakonissenhaus Halle statt. Daran nahmen ca. 40 Personen, darunter Vertreter des Staatsapparates, teil. Bischof Krusche betonte in seiner Rede die Bedeutung des Kirchentages, von dem nach seinen Worten »die Christen zum Lernen angeregt« werden. In der sozialistischen Gesellschaft könne der Christ lernen, als Bürger dieses Staates zu leben. Er bedankte sich bei den anwesenden Vertretern des Staatsapparates besonders für die Möglichkeit der Durchführung der Abschlussveranstaltung und für die Gewährung von Druckgenehmigungen.

Der Schweizer Kirchenpräsident Sigrist richtete ebenfalls Dankesworte an die staatlichen Organe für die Ermöglichung des Kirchentages und seiner Teilnahme. Kurze Ansprachen hielten weiterhin Pfarrer Cramer (katholisch), Kirchenpräsident Natho sowie der Präses des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR, Schröder.

Wie intern bekannt wurde, hat Bischof Krusche am 18. September 1976 mit den für die anlässlich des Kirchentages geplanten Gottesdienste verantwortlichen Geistlichen eine vertrauliche Beratung durchgeführt, ob es aus politischen Erwägungen zweckmäßig sei, das »Wort an die Gemeinden« der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zu Brüsewitz zu verlesen (siehe Information Nr. 629/76 vom 13.9.1976). Krusche stellte es jedem Geistlichen »unter Appell an die politische Vernunft« frei, selbst zu entscheiden.7

Ebenfalls am 18. September 1976 teilte Bischof Krusche in einem Gespräch mit dem Kirchenreferenten des Rates des Bezirkes Halle mit, »bedauerlicherweise« werde das »Wort an die Gemeinden« nun doch in allen evangelischen Gottesdiensten der DDR am 19. September 1976 verlesen.8 (Für die Veröffentlichung bestand eine von der Konferenz der Kirchenleitung verfügte Sperrfrist bis zum Morgen des 19.9.1976.) Bischof Krusche habe davon auch die ökumenischen Gäste des Kirchentages informiert, worauf Hild/BRD erklärt habe, in diesem Fall könne er auf sein Grußwort verzichten.

Am Vormittag des 19. September 1976 nahmen an Veranstaltungen in 17 Kirchen in Halle ca. 8 700 Personen teil, davon 3 500 an den Hauptgottesdiensten und 1 500 an Jugendgottesdiensten. Zu den Hauptgottesdiensten predigten Bischof Krusche, Magdeburg, Bischof Hempel, Dresden, Kirchenpräsident Natho, Dessau, Propst Falcke, Erfurt, Propst Bronisch und der Geistliche Rat Hermanns, Halle.

In der überfüllten Johanniskirche, es waren ca. 400 Personen anwesend, predigte Kirchenpräsident Natho, Dessau. Er brachte zum Ausdruck, dass man einen Kirchentag fröhlich begehen und nicht von Toten sprechen solle. Aber die Welt sei grausam, und niemand solle daran Anstoß nehmen, wenn sich ein Mensch das Leben nimmt, um damit ein Zeichen setzen zu wollen. Obwohl das Leben von Gott gegeben und genommen werde, sollte man die Tat von Pfarrer Brüsewitz nicht verurteilen und ihn nicht als geisteskrank »abstempeln«.

In der Johanniskirche wurde vom ökumenischen Gast, Prof. theol. Bic, Prag, ein politisch zweideutiges Grußwort gehalten. Er forderte die Christen der DDR auf, über alle Grenzen hinweg noch mehr zusammenzuhalten und auch verstärkt in die ČSSR zu reisen. Sie sollten sich weder vom Weg noch von Modalitäten abhalten lassen.

An der Veranstaltung in der Marktkirche nahmen ca. 1 500 Personen, überwiegend Jugendliche, teil. Es wurde kein Gottesdienst im herkömmlichen Sinne durchgeführt. Die Kirche war in verschiedene Bereiche aufgeteilt; es wurden Plastiken gezeigt, Bildbetrachtungen durchgeführt, die Entstehung eines Bildes erläutert, und es gab verschiedene Diskussionsgruppen. Des Weiteren traten eine Beatkapelle und eine Laienspielgruppe auf. Die Diskussionen wurden von Bischof Krusche, Magdeburg, geleitet. Auf die Frage, warum sich die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen nicht voll hinter die Tat von Pfarrer Brüsewitz stelle, antwortete Krusche sinngemäß:

  • Die »Springer«-Presse sei zu verurteilen, weil sie den Fall Brüsewitz zur Wahlpropaganda in der BRD ausnutze. Er brauche keine Hilfe von anderen, er sei selbst Manns genug, um selbst zu sagen, was ihn bedrücke.

  • Das ND und die NZ seien zu verurteilen, weil sie versucht hätten, Brüsewitz als geisteskrank darzustellen.9 Da sich diese Zeitungen weigerten, den Einspruch der Kirchenleitung10 zu veröffentlichen, werde am 19. September 1976 von allen evangelischen Kanzeln das »Wort an die Gemeinden« der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR11 verlesen.

  • Vom theologischen Standpunkt her könne man sich nicht mit der Tat von Brüsewitz identifizieren. Außerdem kenne niemand seine wahren Beweggründe, niemand habe die von ihm mitgeführten Plakate gelesen, und es gebe auch keine konkrete Erklärung für seine Tat. Wenn man seine Handlung auch nicht als nachahmenswert bezeichnen könne, so müsse man doch feststellen, dass sie wirkungsvoll genug gewesen sei, um der Kirche die Frage zu stellen, ob sie sich genügend für den christlichen Glauben und die Glieder der Gemeinden einsetze.

Diese Äußerungen von Bischof Krusche wurden von den Anwesenden mit Zustimmung aufgenommen.

Im Anschluss an die Veranstaltung in der Marktkirche wurde von einer Gruppe Jugendlicher ein Plakat in den Abmessungen 3,0 × 1,50 m über den Altar gelegt. Es trug die Aufschrift: »Im Namen ORI12 an Pfarrer Brüsewitz«.

Am Gottesdienst in der Pauluskirche beteiligten sich ca. 900 Personen, zumeist ältere Bürger. Als ökumenische Gäste waren ein Geistlicher und ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche anwesend, die aber nicht das Wort ergriffen.

Das »Wort an die Gemeinden« wurde in der Pauluskirche im vollen Wortlaut verlesen, in der Johanniskirche (Kirchenpräsident Natho) inhaltlich für die Predigt mit verwendet und in der Marktkirche (Bischof Krusche) in den Diskussionen erwähnt, aber nicht von Krusche angesprochen.

Am 19. September 1976 fand von 11.15 bis 12.15 Uhr in der Moritzkirche ein ökumenisches Forum statt, an dem sich die Bischöfe Krusche, Magdeburg, Hempel, Dresden, Kirchenpräsident Natho, Dessau, und Weihbischof Hubrig, Magdeburg, beteiligten. Es wurden folgende Probleme behandelt:

  • Der Bau von Kirchen in Neubaugebieten.

    Es wurde bekanntgegeben, welche Projekte bei staatlichen Stellen zur Genehmigung eingereicht wurden.

  • Jugendweihe und Konfirmation.

    Es wurde zum Ausdruck gebracht, dass sich die Kirche der Jugend verstärkt zuwenden und ihren Einfluss auf Jugendliche vergrößern müsse.

  • Schwangerschaftsunterbrechung.

  • Selbstverbrennungsversuch des Pfarrers Brüsewitz.

    Bischof Krusche erklärte, dass er noch das Ergebnis von Untersuchungen abwarte. Er wolle diesen Untersuchungen nicht vorgreifen und könne sich deshalb nicht äußern.

  • Haltung der evangelischen Kirchen in der DDR zu den bevorstehenden Wahlen.

    Kirchenpräsident Natho, Dessau, betonte, dass es kein Wort der Kirche dazu geben werde. Probleme, die zwischen Staat und Kirche bestehen, könnten sachlich geklärt werden.

  • Verhältnis zwischen dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD)/BRD. Kirchenpräsident Natho brachte zum Ausdruck, wenn die EKD z. B. den Fall Brüsewitz sachlicher behandeln würde, wäre das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der DDR weniger belastet. Es würde sich auf alle Fälle günstiger auswirken, wenn kirchliche Kräfte in der BRD einen vernünftigen Standpunkt beziehen würden. Er nannte in diesem Zusammenhang als positives Beispiel die sachliche Berichterstattung zu Brüsewitz durch den Journalisten Henkysepd – Westberlin.

Die Hauptveranstaltung des Kirchentages fand auf dem Lok-Sportplatz in Halle in der Zeit von 14.15 bis 16.00 Uhr statt. Von den ca. 9 000 Teilnehmern wurden z. T. Transparente mitgeführt, auf denen Städte- oder Gemeindenamen verzeichnet waren.

Bischof Krusche, Magdeburg, sprach unter starkem Beifall dem Rat der Stadt Halle seinen Dank aus für die Unterstützung bei der Durchführung des Kirchentages. Seine weiteren Ausführungen hatten theologischen Inhalt.

Grußworte sprachen:

  • Dr. Dantine, Österreich, Universitätsprofessor an der Universität Wien, sprach über die Situation in der Welt. Er nahm Bezug auf die Ereignisse im Libanon und in anderen afrikanischen Staaten sowie in Nordirland. Die Kirche dürfe hier nicht im »Schmollwinkel sitzen und nörgeln«.

  • Der stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD, Kirchenpräsident Hild/BRD, nahm Bezug auf die Losung des Kirchentages »Gottes Wege führen weiter« und leitete daraus eine gemeinsame Verantwortung beider deutscher Staaten für den Frieden ab. Er forderte die Kirchen in beiden deutschen Staaten auf, sich gemeinsam für den Frieden zu engagieren.

  • Bischof German, russisch-orthodoxe Kirche der Sowjetunion, sprach ein sehr herzlich gehaltenes Grußwort, das sehr beifällig aufgenommen wurde.

  • Die Ausführungen des katholischen Bischofs Braun, Magdeburg, enthielten negative Aussagen. Er betonte nachdrücklich: »Möge es eine Gemeinschaft werden zwischen uns in diesem Leid, in dieser Not, um besser miteinander leben zu können.«

Es kann eingeschätzt werden, dass der Kirchentag in Halle ohne größere massenwirksame Provokationen seitens klerikaler Kreise ablief.

Es wurde sichtbar, dass die prinzipielle Zurückweisung der auf Konfrontation und Diffamierung der DDR zielenden Kampagne im Fall Brüsewitz durch die staatlichen Organe bei kirchenleitenden Kräften Wirkung zeigt. Die kirchenleitenden Kräften gegenüber angedeutete Linie, sich auf keinen Konfrontationskurs einzulassen und alle auftretenden Probleme mit den staatlichen Organen sachlich zu klären, bewährte sich. Damit wurde den reaktionären Kräften in kirchenleitenden Positionen kein Anlass zur weiteren Zuspitzung der kirchenpolitischen Situation gegeben.

In verschiedenen Veranstaltungen war das Bestreben der Kirchenleitung erkennbar, es zu keinen offenen politischen Provokationen und gegen unseren Staat gerichteten Aktionen kommen zu lassen, da sich diese nachteilig auf die kirchlichen Interessen auswirken könnten.

In Kreisen der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen wurde vertraulich geäußert, es sei offensichtlich, dass die Zurückhaltung Bischof Krusches als Geste gegenüber dem Staat zu verstehen sei. Die Kirchenleitung habe sich bemüht, die Situation nicht weiter anzuheizen und sich an die mit den staatlichen Organen getroffenen Vereinbarungen gehalten, um eine weitere Konfrontation zu vermeiden.

  1. Zum nächsten Dokument Kirchentag der ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Halle

    21. September 1976
    Information Nr. 657b/76 über den Kirchentag der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) vom 17. bis 19. September 1976 in Halle/Saale [Kurzfassung]

  2. Zum vorherigen Dokument Mängel am Oberbau der Eisenbahnmagistrale Halle–Erfurt–Gerstungen

    17. September 1976
    Information Nr. 642/76 über festgestellte betriebsgefährdende Mängel im Oberbauzustand der Eisenbahnmagistrale Halle – Erfurt – Gerstungen