Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz
18. August 1976
Information Nr. 579/76 über den Versuch der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz, Zeitz
Am 18. August 1976, gegen 10.20 Uhr unternahm der Brüsewitz, Oskar, geboren am 30. Mai 1929 in Willkischken (VR Polen), Beruf: Schuhmachermeister und Pfarrer, zuletzt: Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Droßdorf, verheiratet, zwei Kinder (16 und 18 Jahre), wohnhaft: Droßdorf, Kreis Zeitz, Ortsteil Rippicha Nr. 4, im Stadtgebiet von Zeitz vor der evangelischen Michaeliskirche einen Suizidversuch durch Selbstverbrennung.1
Brüsewitz erlitt Verbrennungen überwiegend 2. Grades an ca. 80 Prozent der Körperoberfläche und befindet sich in der Intensivstation des Krankenhauses Halle-Dölau. Es besteht akute Lebensgefahr.
Die bisherigen Ermittlungen zum Tatvorgang ergaben Folgendes:
Mehrere Bürger beobachteten am 18. August 1976, gegen 10.20 Uhr in Zeitz, wie Brüsewitz mit seinem Pkw, Typ Wartburg Camping 311, polizeiliches Kennzeichen KX 95–53, aus der Rahnestraße kommend den Kreuzungsbereich Rahnestraße/Leninstraße/Fischstraße befuhr und Richtung Fischstraße unmittelbar vor der evangelischen Michaeliskirche stehen blieb. Auf den Vordertüren des Pkw stand in Druckschrift – mit schwarzer Farbe in einer Länge von ca. 40 cm und einer Buchstabenhöhe von ca. 7 cm – »Evangelische Kirche Rippicha«. Diese Beschriftung hatte Brüsewitz nach Aussagen seiner Ehefrau in den Morgenstunden des 18. August 1976 angebracht, ohne dazu ihr gegenüber eine Erklärung abzugeben. Auf dem Fahrzeug befand sich ein Dachgepäckträger, auf dem parallel zur Fahrzeugmittellinie zwei Holzleisten im Abstand von ca. 5 cm befestigt waren. Brüsewitz, der seinen Talar trug, verließ das Fahrzeug, öffnete die Hecktür und entnahm dem Pkw zwei Transparente, die er zwischen die Latten auf dem Dachgepäckträger schob. Diese Transparente hatten die Größe von 1,50 × 1 m und bestanden aus auf Holzrahmen befestigter Leinwand. Die Leinwand war mit weißer Latexfarbe bestrichen und jeweils mit folgenden Texten versehen:
»Funkspruch an alle: Wir klagen den Kommunismus an wegen Unterdrückung der Kirchen in Schulen, an Kindern und Jugendlichen.«
»Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an wegen Unterdrückung in Schulen, an Kindern und Jugendlichen.«
Unmittelbar nach der Befestigung dieser Transparente auf seinem Pkw nahm er von der Ladefläche hinter den Rücksitzen eine 20 l fassende Milchkanne mit Benzin und übergoss sich damit. Anschließend steckte er sich selbst mit Streichhölzern in Brand. Seine Kleidung, das auf die Straße verschüttete Benzin und der Pkw standen sofort in Flammen.
Brennend versuchte Brüsewitz in Richtung Rahnestraße zu laufen. Nach ca. 20 m wurde er durch einen dort zufällig anwesenden Angehörigen der NVA zu Fall gebracht, und ein Passant löschte die Flammen an Brüsewitz mit einer Decke.
Alle Handlungen des Brüsewitz liefen sehr schnell ab, sodass vom Aufstellen der Transparente bis zum Löschen der Flammen an seinem Körper nur ca. fünf Minuten vergingen. Dadurch nahmen nur wenige der ca. 150 auf dem Kreuzungsbereich befindlichen Passanten den Vorgang zusammenhängend wahr. Einige der Passanten brachten ihre Ablehnung gegenüber einer solchen Tat – insbesondere von einem Pfarrer begangen – offen zum Ausdruck, andere bedauerten ihn.
Das einsetzende Läuten der Glocken der Michaeliskirche zum Zeitpunkt des Löschens der Flammen an Brüsewitz steht nicht im Zusammenhang mit dem Suizidversuch, sondern erfolgte aufgrund einer zu diesem Zeitpunkt auf dem zur Kirche gehörenden Friedhof stattfindenden Beerdigung.
Es bestehen bisher keine Hinweise darauf, dass andere Personen in die Vorbereitung dieser Handlungen einbezogen waren oder Verbindungen zu kapitalistischen Publikationsorganen bestanden.
Die nach dem Suizidversuch durch die Ehefrau gefundenen Abschiedsbriefe enthalten den Hinweis auf ein »angefangenes Grab«. Überprüfungen ergaben, dass Brüsewitz auf dem Friedhof in Rippicha tatsächlich mit dem Ausschaufeln eines Grabes begonnen hat.
Zur Person des Brüsewitz sowie zu seiner politischen Einstellung ist bemerkenswert:
Brüsewitz bestand die Meisterprüfung als Schuhmacher und übte diese Tätigkeit bis 1964 aus. Auf Drängen seiner Ehefrau, die als Diakonissin tätig war, studierte er von 1964 bis 1969 in Erfurt Theologie. Seit 15. April 1969 ist er in Droßdorf, Kreis Zeitz, als Pfarrer tätig. Außerdem bearbeitete er mit seiner Frau das zur Pfarrei gehörende Kirchenland.
Brüsewitz wird als fanatischer Anhänger der Kirche eingeschätzt. Er unternahm große Aktivitäten, um Bürger, vor allem Jugendliche, für die Kirche zu gewinnen. Intern ist bekannt, dass Brüsewitz in individuellen Gesprächen Mitglieder der SED wiederholt als »Gesinnungslumpen« bezeichnete.
Weiter verdient Beachtung, dass es verstärkt seit Anfang 1975 zwischen ihm und seinen übergeordneten Kirchenleitungen (Kreiskirchenrat und Evangelische Landeskirche der Kirchenprovinz Sachsen, Sitz Magdeburg) zu ernsthaften Differenzen kam; sein Auftreten als Pfarrer wurde teilweise heftig kritisiert. So wurde er getadelt, weil er am 8. August 1975 an seinem Pferdewagen ein Transparent mit dem Text »Kirche in Not, kehre zurück. Wir beten um geistigen und irdischen Regen, ohne Gott geht die ganze Welt kaputt« angebracht hatte und damit nach Zeitz gefahren war. Ferner wurde er kritisiert, weil er im März 1976 lebende Tiere Kindern als Prämie für die Gewinnung von Teilnehmern am Gottesdienst versprach.
Als er im gleichen Jahr einen Gottesdienst in der Gemeinde Wildschütz abhielt, hatte er an seinem Pkw ein Transparent mit dem Text angebracht: »Funkspruch an alle: der liebe Gott wohnt heute in Wildschütz, um 16.00 Uhr spricht heute zu euch Pfarrer Brüsewitz.«
Vertreter der evangelischen Kirche des Kreises Zeitz, unter ihnen der amtierende Vorsitzende des Kreiskirchenrates, Pfarrer Schweidler, charakterisierten am 18. August 1976 in einer Aussprache beim Rat des Kreises Zeitz den Brüsewitz als einen uneinsichtigen, querulierenden Menschen, der mit den politischen Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden ist. Es sei vorgesehen gewesen, ihn im Oktober 1976 von seiner Funktion abzuberufen und ihn anderweitig einzusetzen.2
Vor ca. drei Wochen erfolgte ein persönlicher Besuch des Stellvertreters von Bischof Krusche, Propst Bäumer bei Pfarrer Brüsewitz, in dessen Verlauf Brüsewitz nahegelegt wurde, um die Entbindung von seinen kirchlichen Ämtern zu ersuchen. Brüsewitz habe sich danach in keiner Weise zu diesem Ersuchen geäußert.
Die Ehefrau des Brüsewitz bestätigte im Wesentlichen seine Differenzen mit den übergeordneten Kirchenleitungen und betonte, Brüsewitz sei mit einer Ablösung als Pfarrer nicht einverstanden gewesen. Die von diesen Leitungen angekündigte Visitation (Überprüfung) seiner Kirchengemeinde könnte nach ihrer Meinung als auslösender Faktor für seine Tat am 18. August 1976 betrachtet werden, obwohl er ihr gegenüber keine Andeutungen auf sein Vorhaben gemacht habe.
Die Ehefrau bestätigte ferner, in letzter Zeit habe sich der Eindruck verstärkt, ihr Ehemann sei zeitweise geistig verwirrt. Darauf weise auch die Tatsache hin, wonach Brüsewitz vor einiger Zeit in Unterhosen mit Kindern in der Gemeinde Fußball spielte.
Von der Bevölkerung der Gemeinde Rippicha lebt Brüsewitz isoliert. Mehrfach wurde er als geistig nicht normal bezeichnet und belächelt.3
Auch der Selbstverbrennungsversuch ist nach bisherigen Feststellungen einhellig auf Ablehnung gestoßen. In zahlreichen Diskussionen distanzierten sich Bürger von dem Verhalten des Brüsewitz und bezeichneten es als die Tat eines Irrsinnigen.
Nach Bekanntwerden des Vorkommnisses wurde unverzüglich der 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED Halle, Genosse Dr. Böhme, der Leiter der Arbeitsgruppe für Kirchenfragen beim ZK der SED, Gen[osse] Barth, und der Staatssekretär für Kirchenfragen, Gen[osse] Seigewasser, informiert, die entsprechend ihrer Zuständigkeit die erforderlichen Maßnahmen veranlassten.
2 Anlagen/Abschiedsbriefe des Brüsewitz
Anlage 1 zur Information Nr. 579/76
Abschiedsbrief des Brüsewitz an seine Tochter
Meine geliebte Tochter!
Du hast die Freude oder auch das Leid, von mir noch einige Wünsche zu erfüllen. Ich habe mich lange durchgerungen und bin nun auch froh darüber, für meinen König und Feldmarschall in dieser so scheinbar friedlichen Welt ein Zeichen aufzurichten. Über mich sollt Ihr nicht trauern, denn nun soll ich den schauen, den ich sehr geliebt habe.
Freilich, so werdet Ihr Lieben sagen, wer aber sorgt für uns? Gewiss habe ich sehr gerne für Mutti und Dorli und auch für Dich gesorgt.
Von nun an wird ein Besserer und Stärkerer für Euch sorgen. Die Schande sollt Ihr, meine liebe Christel, Du und Dorli, doch tragen. Es soll die Stunde kommen, wo unsere Freude gemeinsam vollkommen ist. Jetzt schon freue ich mich, mit meinem König und dem Heiligen in Christus ganz vereint zu sein.
So danke ich sehr für Muttis Geduld und Deine große Liebe zu Trösten. Gott segne Euch sehr, das ist mein Gebet und Anliegen und führe uns alle zusammen.
Euer Vati
PS: An Mutti schreibe ich nicht extra, sie hätte es sehr verdient, aber ich hoffe, sie lässt sich trösten und aufrichten. Im Falle meines Todes rufe Bruder Heidel an. Er soll mit Dir das angefangene Grab für mich schaufeln. Dorli auch. Hinten in der Ecke, wo der Offizier gefallen ist, habe ich freigemacht. Hier ruht ein Fallschirmjäger. In seinem Grab wünsche ich zu warten auf den herrlichen Tag.
Anlage 2 zur Information Nr. 579/76
Abschiedsbrief des Brüsewitz an die Schwestern und Brüder des Kirchenkreises Zeitz
Liebe Brüder und Schwestern!
Es ist mir sehr schmerzlich, Euch allen die Schande zuzumuten. Ich habe mich zu dieser Tat langsam durchgerungen.
Nach meinem Leben habe ich es nicht verdient, zu den Auserwählten zu gehören. Meine Vergangenheit ist des Ruhmes nicht wert. Umso mehr freue ich mich, dass mein Herr und König und General mich zu den geliebten Zeugen berufen hat.
Obwohl der scheinbare tiefe Friede, der auch in der Christenheit eingedrungen ist, Zukunft versprechend ist, tobt zwischen Licht und Finsternis ein mächtiger Krieg. Wahrheit und Lüge stehen nebeneinander. Ich grüße Euch alle sehr. Ich liebte Euch, auch Bruder Hildebrandt.
Euer Oskar
In wenigen Stunden will ich erfahren, soll ich erfahren, dass mein Erlöser lebt.