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Reaktionen kirchenleitender Kreise zur Selbstverbrennung Brüsewitz’

8. September 1976
Information Nr. 623/76 über weitere Reaktionen in kirchenleitenden Kreisen im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz und dazu erfolgten Presseveröffentlichungen

In Ergänzung der Information Nr. 610/76 vom 3. September 1976 wurden dem MfS intern weitere Einzelheiten zur Reaktion in Kirchenkreisen im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz bekannt.

Am 5. September 1976 fand in Potsdam auf Initiative des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR eine vertrauliche Vorbesprechung der Bischöfe der evangelischen Kirche in der DDR in Vorbereitung auf die am 10./11. September 1976 in Berlin tagende Konferenz der Kirchenleitung statt. Gegenstand dieser Besprechung war nur der »Fall Brüsewitz«.

Anwesend waren die Bischöfe Fränkel (Görlitz), Hempel (Dresden), Kirchenpräsident Natho (Dessau) in Vertretung der übrigen Bischöfe Hartmut Mitzenheim (Eisenach), Oberkirchenrat Lange (Greifswald), Präses Schröder (Schwerin), Oberkirchenrat Winter (Berlin). Magdeburg war vertreten durch die Pröpste Bäumer und Oberkirchenrat Schultze.1

Der Sekretär des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Stolpe, gab eine Schilderung des Gespräches, welches er gemeinsam mit der Oberkirchenrätin Lewek und anderen am 3. September 1976 in Berlin beim Vorsitzenden des Ministerrates, Genossen Sindermann, hatte. Stolpe legte weiter als Diskussionsgrundlage einen vom Dozenten Dr. Demke (Sprachenkonvikt Berlin) ausgearbeiteten Entwurf eines Briefes an alle Pfarrer bzw. Gemeinden in der DDR in Vorbereitung auf die Konferenz der Kirchenleitung am 10./11. September 1976 vor. (Diese Diskussionsgrundlage wird in der Anlage 1 im vollen Wortlaut beigefügt.)

Dieses »theologische Wort« des Bundes an alle Pfarrer bzw. Gemeinden geht davon aus, es solle im Fall Brüsewitz eigene Schuld der Kirche gesehen werden. Insbesondere werden folgende drei Problemkreise hervorgehoben:

  • die verstärkten Anfragen der kirchenleitenden Organe, ob die Gemeinden in der Vergangenheit »das Zeugnis von Jesus Christus zu unentschlossen und ängstlich ausgerichtet und sie ahnungslos gegenüber den tatsächlichen Sorgen und Nöten der Gemeinden und Pfarrer ihre Entscheidungen getroffen haben«,

  • die Feststellungen, es sei bisher oft nicht verstanden worden, eine »effektive kirchliche Gemeindearbeit in einer andersdenkenden Umwelt zu organisieren«,

  • Hinweise über angebliche Behinderungen religiöser Kinder und Jugendlicher in der DDR. Wörtlich heißt es in diesem Abschnitt: »Wir sind darum bemüht – bisher ohne Erfolg – dass die leitenden staatlichen Organe die Frage der Stellung christlicher Kinder im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem in Gesprächen mit uns grundsätzlich klären und öffentlich erklären. Solange der christliche Glaube als Zeichen für Zurückgebliebenheit und für einen niedrigen Entwicklungsstand des Bewusstseins gilt, bleiben Zweifel an der Gleichberechtigung christlicher Kinder in unserem Bildungssystem.«

Der letzte Abschnitt der Diskussionsgrundlage beinhaltet eine polemische Auseinandersetzung mit dem Artikel in »Neues Deutschland«.2

In der Aussprache zu diesem Entwurf gab es im Wesentlichen zwei Diskussionsrichtungen.

Die Vertreter aus Magdeburg – denen sich Bischof Fränkel und Präses Schröder anschlossen – vertraten die Meinung, man müsse gegenüber den staatlichen Vertretern eine harte Sprache finden und in aller Form gegen die Veröffentlichung im ND Stellung nehmen. Sie fordern in diesem Sinne eine klare politische Stellungnahme des Bundes an alle Pfarrer.

Demgegenüber vertraten die Teilnehmer aus Thüringen, Greifswald und Berlin in Anlehnung an das Gespräch, das Genosse Sindermann mit kirchenleitenden Personen führte, die Auffassung, der Staat der DDR sei an einer Verschärfung des Verhältnisses Staat – Kirche im Zusammenhang mit dem Fall Brüsewitz nicht interessiert und sei bemüht, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Christen in der DDR zu finden.

Eine Einigung wurde dahingehend erzielt, den vorgelegten Entwurf nochmals zu überarbeiten und als »theologisches Wort« an die Pfarrer bzw. Gemeinden in der DDR zu richten. Die überarbeitete Fassung soll der am 10./11. September 1976 tagenden Konferenz der Kirchenleitung vorgelegt werden.

Für die Überarbeitung der Vorlage und Ausarbeitung des »theologischen Wortes« wurde ein Ausschuss gebildet, dem angehören: Bischof Hempel (Dresden), Bischof Fränkel (Görlitz), Propst Winter (Berlin), Dr. Demke (Berlin – Sprachenkonvikt) [und] Oberkonsistorialrat Stolpe (Berlin).

Oberkonsistorialrat Stolpe wies zum Abschluss der Beratung die Magdeburger Vertreter auf die Notwendigkeit einer gewissenhaften Vorbereitung des am 18. und 19. September 1976 stattfindenden Kirchentages in Halle hin, um zu verhindern, diese Zusammenkunft zu einem Diskussionsforum über den Fall Brüsewitz werden zu lassen.

Dem MfS wurde weiter intern bekannt, dass in den Gottesdiensten im Bereich der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) am 5. September 1976 das »Wort der Kirchenleitung an die Gemeinden«3 verlesen bzw. sinngemäß wiedergegeben wurde. In den meisten Fällen erfolgten dazu keine Kommentare. Einige Pfarrer, die bereits früher besonders negativ auftraten, richteten ihre persönlichen Kommentare besonders gegen die DDR-Presseveröffentlichungen und gegen den Bereich Volksbildung der DDR. So forderte z. B. Superintendent Neugebauer, Barby, Kreis Schönebeck, die Gläubigen auf, von der Regierung zu verlangen, die »Verleumdungen im ND« zurückzunehmen. Pfarrer Herrfurth, Calbe/Saale, verglich den »ND«-Artikel mit Methoden der Springer-Presse, verurteilte die Veröffentlichungen und bezeichnete sie als unwahr. Der größte Teil der Pfarrer der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) betonte, unabhängig von der persönlichen Haltung zum Fall Brüsewitz würden sie die Haltung der Kirchenleitung Magdeburg auf die DDR-Presseveröffentlichungen für richtig halten.

Weiter ist bekannt, dass bei Mitgliedern der Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen das Gespräch des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg am 3. September 1976 mit Mitgliedern der Kirchenleitung (Bischof Krusche, Präsident Krause, Propst Bäumer, OKR Dr. Schultze) starkes Interesse findet. OKR Dr. Schultze berichtete dem Konsistorium der Kirchenprovinz Sachsen über das Gespräch, er habe den Eindruck gehabt, es sei »auf höheren Befehl« erfolgt.4 Vom staatlichen Vertreter sei darauf aufmerksam gemacht worden, nunmehr müsse dringend eine Erklärung der evangelischen Kirche erfolgen, um gegen die Propaganda in der BRD wirksam zu werden. Bischof Krusche habe zu den Äußerungen von OKR Dr. Schultze erklärt, dass nicht die Sache Brüsewitz die DDR in Verruf bringe, sondern vielmehr »das Erschießen eines italienischen Kommunisten an der Staatsgrenze der DDR«.

Die Notwendigkeit einer Stellungnahme der Kirche zum Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Kirche habe man bestritten. OKR Schultze ist der Meinung, von staatlicher Seite würde eine Stellungnahme der Konferenz der Kirchenleitungen erwartet; deshalb wären »keine weiteren Maßnahmen angedroht worden«. Eine Verärgerung der Kirchenleitung Magdeburg könne sich eventuell in einem Votum der Konferenz der Kirchenleitungen am 9. Oktober 1976 in Berlin niederschlagen.

Bischof Krusche war während des Gesprächs mit dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg offensichtlich bestrebt, eine gemäßigte Haltung zu zeigen. (Er hatte u. a. geäußert, er habe in den letzten Tagen die Gelegenheit genutzt, verantwortliche Vertreter der EKD/BRD darauf hinzuweisen, dass sie mit ihrer Propaganda den Kirchen der DDR keinen guten Dienst erwiesen haben. Er habe sich während seines Auslandsaufenthaltes5 für die Belange unseres Staates eingesetzt, und die Kirche reibe sich nicht die Hände, wenn dem Staat Unrecht geschieht.) Krusche betonte danach in vertraulichen Gesprächen, die Veröffentlichungen in der DDR-Presse6 seien frei erfunden; er fände es »infam«, auf diese Weise »einen Toten zu treten«. Es sei jetzt Aufgabe der Kirche, »auf die Flut der Protestbriefe zu reagieren« und dem Staat »ein deutliches Wort zu sagen«. Wenn dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Kirche und Staat geschwächt werde, liege das allein an den staatlichen Stellen. Er sei gegen die Einmischung der EKD/BRD in die Angelegenheiten im Bereich der evangelischen Kirchen der DDR aus dem Grund, weil damit – und insbesondere durch die nicht erfolgte Abstimmung – das Verhältnis zwischen den Kirchen gestört wird. Diese Einmischung im Sinne des kalten Krieges gebe der DDR-Führung Argumente, denen man nichts entgegensetzen könne. Den Kirchen in der DDR würde jedoch ein Widerstand aus den einzelnen Gemeinden gegen die Praktiken des Staates mehr nützen.

Weiter wurde intern bekannt, dass OKR Dr. Schultze von OKR Mieth vertraulich über die Weiterarbeit im Ausschuss der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg), der sich mit dem Fall Brüsewitz beschäftigt,7 informiert wurde. Mieth erklärte, der Ausschuss sei mit der Abfassung eines »scharfen Schreibens« an den Staatssekretär für Kirchenfragen beschäftigt.8 Die Situation sei dafür sehr günstig, da von staatlicher Seite zurzeit kaum Sanktionen zu erwarten seien. In dieser Haltung sei der Ausschuss auch von Bischof Krusche unterstützt worden. Der Ausschuss wolle die Endfassung in einer Sitzung am 8. September 1976 letztmalig beraten, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass diese Fassung in der Kirchenleitungssitzung am 9./10. September 1976 in Berlin bestätigt und anschließend vertraulich dem Staatssekretär für Kirchenfragen zugestellt wird.

Weiter wurde bekannt, dass auch in der evangelischen Landeskirche Sachsen (Dresden) am 5. September 1976 ein von der Dresdner Kirchenleitung verfasstes Wort an die Gemeinden verlesen wurde. (Der Wortlaut dieser Erklärung befindet sich in der Anlage 2.) In den meisten Fällen wurde auch hier die Erklärung – ohne Eigenkommentar – lediglich vorgetragen.

Der Landeskirchenrat der Thüringer Landeskirche tagte am 4. September 1976 in einer Sondersitzung unter Leitung von Oberkirchenrat Mitzenheim. Mitzenheim stimmte der – offiziellen – Stellungnahme von Bischof Krusche, in der er die Einmischung der EKD/BRD und der westlichen Presseorgane abgelehnt hatte, zu.9 In der Diskussion schätzten Mitglieder des Landeskirchenrates ein, die scharfen Angriffe in der DDR-Presse seien als »Schlagabtausch« mit den westlichen Kommunikationsmitteln zu werten. Es wäre besser gewesen, wenn sich die Kirche selbst mit der westlichen Presseeinmischung auseinandergesetzt hätte. In der Beratung wurde festgelegt, keine Kanzelabkündigung durchzuführen, um das gute Verhältnis Staat – Kirche nicht zu belasten, sowie im Amtsbereich gegen die Eskalation aufzutreten und dämpfend zu wirken.

Im Bereich der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg wurde auf einem Pfarrkonvent von einigen Pfarrern (Namen sind z. T. bekannt) gegen den Artikel in »Neues Deutschland« protestiert, wobei das Konsistorium Berlin-Brandenburg mehrfach aufgefordert wurde, etwas gegen diese Veröffentlichung zu unternehmen. Leitende kirchliche Amtsträger der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg halten sich jedoch mit Äußerungen zurück und warten erst auf eine Erklärung der Kirchenleitung bzw. des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR.

Die gleiche abwartende Haltung ist gegenwärtig auch im Bereich der Görlitzer evangelischen Kirche festzustellen. Einzelne Aktivitäten von Pfarrern dieses Bereiches zur Unterstützung der Kanzelabkündigung der evangelischen Kirchenleitung Sachsen (Magdeburg) wurden bisher von der Leitung des Kirchengebietes nicht gebilligt. Eine von Pfarrer Havenstein/Görlitzer evangelische Kirche (Havenstein hatte an der Beisetzung des Brüsewitz teilgenommen) vorgesehene Predigt zum Fall Brüsewitz in seiner Gemeinde wurde vom Bischof der Görlitzer Kirche, Fränkel, abgelehnt.

Wie weiter intern bekannt wurde, soll in Kreisen um Kardinal Bengsch die Auffassung vertreten worden sein, dass die katholische Kirche in der DDR in Kirchenleitungssitzungen der Bistümer und in der Berliner Ordinarienkonferenz keine Stellung zum evangelischen Pfarrer Brüsewitz beziehe. Kardinal Bengsch, dessen Generalvikar Schmitz, Weihbischof Kleineidam, Berlin, sowie Bischof Huhn, Görlitz, hätten in Gesprächen mit Geistlichen darauf hingewiesen, dass kein katholischer Christ eine solche Handlungsweise gutheißen könne und die katholischen Kirchenleitungen deshalb keine Veranlassung hätten, hierzu eine offizielle Stellungnahme abzugeben.

Generalvikar Schmitz habe betont, niemand solle eine solche »Tat« hervorheben, da sie theologisch grundsätzlich abzulehnen sei. Solches stehe allenfalls den Buddhisten zu, die solche Handlungen zu ihrer Religion erhoben hätten.

Der Sekretär der Berliner Ordinarienkonferenz, Prälat Dissemond, habe die Auffassung vertreten, an der Abnormität des Brüsewitz könne es überhaupt keinen Zweifel geben, denn im Grunde sei jeder Selbstmordversuch eine Art Kurzschlusshandlung und vom christlichen Glauben her abzulehnen.

Zu der in »Neues Deutschland« erfolgten Veröffentlichung wurde von Klerikern die Meinung geäußert, der Artikel würde die Diskussionen erneut beleben (u. a. Pfarrer [Name], Eisenach, Pfarrer [Name], Erfurt, Pfarrer [Name], Dresden, Pfarrer [Name], Berlin-Lichtenberg, [Name], wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften Berlin).

Leitende katholische Geistliche sollen lediglich nach Anfragen und Diskussionen unter Geistlichen und Laien in Dekan- und Pfarrkonventen über Brüsewitz informieren. Die Information soll sich auf das Geschehen in Zeitz und auf die Orientierung, dass ein solches Tun unchristlich sei, beschränken. Am 1. September 1976 wurde in Berlin eine Zusammenkunft der Dekane des Bistums Berlin durchgeführt, in der Prälat Lange auftragsgemäß über Brüsewitz in diesem Sinne informierte.

Kardinal Bengsch verschob die für September vorgesehene Sitzung der Berliner Ordinarienkonferenz auf Ende Oktober mit der Begründung, hierfür lägen »organisatorische und personelle Gründe« vor.

Diese Information ist wegen Quellengefährdung streng vertraulich zu behandeln.

Anlage 1 zur Information Nr. 623/76

Entwurf eines Briefes an die Pfarrer

Erklärungen, Verleumdungen, Richtigstellungen, der Ruf nach Information und noch einmal Information haben uns in den Tagen seit dem Tod unseres Bruders Oskar Brüsewitz beschäftigt und viele in Atem gehalten. Mitten in der alltäglichen Arbeit kommen die Fragen nicht zum Verstummen, die uns die Tat unseres Bruders aufgibt. Es ist immer wieder ausgesprochen worden: Wir sind betroffen! Und die Betroffenheit verwandelt sich in Anklagen und Selbstanklagen.

Anklagen werden (wurden) laut gegen unsere Kirche, dass in ihr das Zeugnis von Jesus Christus nur unentschlossen und ängstlich ausgerichtet wird, gegen Kirchenleitungen, dass sie im Grunde ahnungslos gegenüber den tatsächlichen Sorgen und Nöten der Gemeinden und Pfarrer ihre Entscheidungen treffen, gegen leitende Geistliche und Mitarbeiter, dass sie zu viel im Ausland repräsentieren und nicht an ihrem Platze präsent sind, gegen staatliche Organe, dass sie zumal jungen Christen in ihrer Ausbildung, aber auch der Gemeindearbeit immer wieder Steine in den Weg legen, gegen die Pfarrerschaft, dass sie nicht tragende Gemeinschaft gewährt, sondern in Richtungen und Stände auseinanderfällt. Man kann diese Liste fortsetzen und zu jeder Anklage auch die entsprechende Selbstanklage unter uns finden.

Darüber droht die Klage zu verstummen, ganz einfach die Traurigkeit, dass ein Bruder diesen Weg ging, dass einer meinte, eine Lücke reißen zu müssen, ein Vater seinen Kindern, ein Pfarrer seiner Gemeinde fehlt. Die Klage soll bleiben, die Klage zu Gott. »Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit.« Das steht als Lehrtext für den 18. August 1976.

Die Tat von Bruder Brüsewitz hat uns wie ein Schrei getroffen, laut, unüberhörbar und zugleich ratlos machend, was er bedeute. Wir alle geben diesem Schrei Sprache, unsere Sprache, geprägt von unseren eigenen Schwierigkeiten und Nöten, in denen wir oft in ganz verschiedener Weise stecken. Wir suchen nach der authentischen Sprache dieses Schreies und geben ihm doch durch unser eigenes Empfinden und Urteilen erst Deutlichkeit. Mit diesem Brief wollen wir dazu beitragen, dass wir zu einer gemeinsamen Deutlichkeit finden.

  • 1.

    Dies ist die erste Frage, die uns beschäftigt: Wie gewinnt das Zeugnis von Jesus Christus, das wir alle ausrichten wollen, die Deutlichkeit und befreiende Klarheit, die uns an der Botschaft Jesu Christi so bewegt? Entschlossenheit, Ernstnehmen, Entschiedenheit allein helfen nicht. Wir wissen zu gut, dass mehr Lautstärke nicht diese Deutlichkeit und größere Schaukästen und Plakate für Gottes Wort nicht diese Klarheit schaffen. Zugleich leiden wir darunter, dass viele von Ihnen (Euch) die großen Worte der biblischen Botschaft oft an einen so kleinen Kreis von Menschen nur ausrichten können. Die Verborgenheit der Wirkung unseres Dienstes wird uns zur Anfechtung, sodass wir leicht aus dem Blick verlieren: Die großen Worte der biblischen Botschaft münden in einer Bitte, in der Bitte Jesu Christi, wie Paulus sie ausspricht: »Lasst euch versöhnen mit Gott!« Imponierend ist es nicht, Bittsteller zu sein, aber an dem Platze Jesu Christi ist es die angemessene Art der Botschaft. Wie bringen wir diese Bitte vor mitten in einer atheistischen Umwelt, die nicht nur marxistisch geprägt ist, sondern ganz einfach von Desinteresse und Langeweile, wenn von Gott die Rede ist? Haben wir diese Lage und Frage schon eindringlich genug bedacht in unseren Pfarrkonventen, in den theologischen Ausschüssen und in den Ausbildungsstätten unserer Kirchen? Beschäftigen wir uns dort mit den richtigen Fragen? Jeder, der im Dienst der Verkündigung und Unterweisung steht, kennt diese Frage und schlägt sich mit ihr herum. Wir möchten Sie (Euch) bitten, diese Frage nicht nur einzeln, sondern gemeinsam und – was uns das Wichtigste scheint – voreinander ehrlich zu bedenken. Es darf hier unter uns kein ängstliches Tabu geben. Unser Glaube braucht keine Frage zu scheuen. Tabuisierung und Ängstlichkeit führen nur zu leicht dazu, dass man ausbrechen möchte in die schroffe Aktion und in den Schrei. Wir möchten Sie (Euch) und uns ermuntern zu aufrichtiger geistlicher Besinnung und eindringendem theologischen Austausch.

  • 2.

    Die zweite Frage, die uns beschäftigt, ist die nach der Gemeinschaft in unseren Kirchen. Wir haben noch nicht genug gelernt, miteinander Gemeinschaft stiftende Gemeinde zu werden, offen, einladend und beweglich. Hier fehlt uns etwas von der Praxis Jesu, in der seine Botschaft anschaulich wurde. Viel wird über die Gemeinschaftsunfähigkeit von Pfarrern geklagt von Gemeindegliedern und Mitarbeitern. Liegt es daran, dass der Zuschnitt unseres Werdeganges zum Pfarrer uns auf Autarkie eingestellt hat, sodass wir die je bestimmte Begrenztheit unserer Gaben nicht wahrzunehmen und anzunehmen gelernt haben? Wir könnten uns der begrenzten anderen Gaben, der Schwestern und Brüder, mit denen wir zusammenarbeiten, mehr freuen. Wenn man dies ausspricht, ist man versucht zu sagen: der alte Hut, das alte Lied, immer wieder in der Kirchengeschichte beklagt und immer wieder der Anlass zu besonderen Gruppenbildungen und Gemeinschaftsbewegungen. Ja, und dennoch muss es wiederholt werden, heute vielleicht dringlicher als zuvor, weil der Gemeinschaft stiftenden Kraft in der Gemeinde besondere Bedeutung zukommt für das Zeugnis in einer atheistischen Zeit. Wir sollten darum dankbar das Entstehen von Gruppen- und Gemeinschaftsbewegungen in unseren Gemeinden und an ihrem Rande annehmen und uns mit ihnen ehrlich den Fragen stellen, die wir oben zuerst beschrieben haben. Gemeinschaft – das berührt auch das Miteinander von Gemeinden, Pfarrern und Kirchenleitungen. Wir haben vielleicht in den Kirchenleitungen manchen Vorwurf und manche Anklage zu schnell ad acta gelegt, weil die bei ehrlicher Prüfung als »objektiv« unbegründet erschienen. Wir möchten Sie (Euch) aber bitten, auch unsere Verlegenheiten zu bedenken und mitzutragen. Wir müssen wohl gemeinsam in diesem Augenblick darauf achten, dass wir nicht unsere Ratlosigkeiten dadurch vor uns selbst und voreinander loszuwerden versuchen.

    Zur Frage der Auslandsreisen, die unsere Gemeinschaft zunehmend belasten, möchten wir Ihnen (Euch) dieses sagen: Wir sind von Anfang an darum bemüht gewesen, dass immer mehr Pfarrer die Möglichkeit zur Begegnung mit Christen anderer Kirchen, Traditionen und Kulturen in deren eigenen Lebensbereichen erhalten. Wir sind froh, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, auch einigen Laien diese Möglichkeit zu eröffnen. Wir machen auch die Erfahrung, dass andere Kirchen mit großen, oft übergroßen Erwartungen auf das Leben unserer Kirchen hier in der DDR blicken und unsere ökumenische Mitarbeit und Beratung wünschen. In der Tat konnte manches in der ökumenischen Bewegung gerade durch die Mitarbeit unserer Kirchen gefördert werden. Wir glauben nicht, dass wir uns daraus einfach zurückziehen dürfen. Uns scheinen zwei Fragen besonders wichtig:

    • 1.

      Ist das ökumenische Engagement und die damit verbundene Reisetätigkeit durch die geistliche, aber auch zahlenmäßige Realität in unseren Gemeinden gedeckt und getragen? Wir müssen zugeben, dass es uns bisher nicht gelungen ist, von dieser Frage her unseren ökumenischen Beziehungen ein reales Maß zu geben. Aber wir suchen danach.

    • 2.

      Wer die Möglichkeit zu ökumenischen Reisen erhalten hat, steht schnell unter dem Verdacht, sein Verhalten, Reden und Urteilen so einzurichten, dass ihm diese Möglichkeit erhalten bleibt. Dieser Verdacht ist berechtigt. Jeder weiß: Es lebt sich sehr viel ungenierter, wenn man nichts zu verlieren hat. Hat man etwas zu verlieren – und die Reisemöglichkeit ist in unserer Gesellschaft eben noch ein besonderes Privileg –, so ist man versucht zu allerlei Rücksichtnahmen. Wir können Ihnen (Euch) dazu nur erklären: Wir spüren diese Versuchung und Gefahr sehr wohl. Wir hoffen, dass es uns in der Gemeinschaft in unseren Kirchen gelingt, dass wir uns untereinander vor dieser Versuchung bewahren.

  • 3.

    Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, ihre Verheißung, ihre Schwierigkeiten und Behinderungen haben Bruder Brüsewitz besonders bewegt. Sie bewegen alle, die in dieser Arbeit ihre besonderen Gaben und Aufgaben haben. Immer wieder stehen diese Fragen auf den Tagesordnungen der Kirchenleitungen. Immer wieder haben sich unsere Synoden damit befasst. Wir sehen die Schwierigkeiten in dieser Sache so: In den letzten Jahren ist es zunehmend gelungen, in Verhandlungen mit den zuständigen staatlichen Organen, Fälle, in denen Kinder und Jugendliche nachweislich wegen ihrer Beteiligung am kirchlichen Unterricht und an der Jugendarbeit oder wegen der christlichen Bindung ihres Elternhauses benachteiligt wurden, zu klären und zu bereinigen. Das gilt auch von vielen Fällen, in denen Lehrer den christlichen Glauben verleumdet oder beschimpft haben. Dafür sind wir dankbar. Die wirklich konkrete Hilfe für unsere Kinder und Jugendlichen ist wichtig. Auf der anderen Seite spüren wir die zunehmenden Wirkungen und Schwierigkeiten eines atmosphärischen Gegenwindes, der schwer zu greifen ist. Einerseits ist er ideologisch bedingt, andererseits eine Folge der Tatsache, dass unsere Kinder vielerorts in eine nachchristliche Gesellschaft hineinwachsen, in der christlicher Glaube als komische Absonderlichkeit gilt und Anlass für Belustigungen von Klassenkameraden wird. Wie begegnen wir diesem Sachverhalt? Wir sind darum bemüht – bisher ohne Erfolg –, dass die leitenden staatlichen Organe die Frage der Stellung christlicher Kinder im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem in Gesprächen mit uns grundsätzlich klären und öffentlich erklären. Solange der christliche Glaube als Zeichen für Zurückgebliebenheit und für einen niedrigeren Entwicklungsstand des Bewusstseins gilt, bleiben Zweifel an der Gleichberechtigung christlicher Kinder in unserem Bildungssystem. Hier könnten Gespräche auf zentraler Ebene vielleicht Klärung und einen gewissen Wandel schaffen. Mit Sorge beobachten wir, dass viele christliche Eltern, aus Angst um den weiteren Ausbildungsweg ihrer Kinder, diese nicht zum kirchlichen Unterricht schicken. Fälle der Behinderung und Benachteiligung können wir oft deshalb nicht zur Klärung vortragen, weil Eltern oder auch Mitschüler und Lehrer Angst haben, diese Vorfälle zu bezeugen. Wie wir diesem Fluidum der Ängstlichkeit und Besorgtheit, unter dem unsere Gesellschaft schwer leidet, weil dadurch Initiative und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung stark beeinträchtigt werden, begegnen, bedarf in unseren Kirchen immer neuer Beratung. Appelle an die christlichen Eltern helfen hier wenig, weil dieses Fluidum die Folge einer jahrzehntelangen Gewöhnung ist. Lautstarke Proteste vor der Weltöffentlichkeit, um auf staatliche Organe einen Druck auszuüben, haben leicht die Rückwirkung, Angst erst recht wieder als Mittel der Machtausübung zu gebrauchen. Dürfen christliche Kirchen dazu beitragen? Dass wir das Fluidum der Ängstlichkeit, das sich oft genug mit Resignation verbindet – auch in uns selbst aufbrechen und überwinden, wäre ein wichtiger gesellschaftlicher Dienst. Wir können ihn nur tun, wenn wir aufhören, einander »das Fürchten zu lehren«, in unseren Familien, im Umgang mit den Vertretern staatlicher Organe, in unseren kirchlichen Umgangsformen, aber auch in unserer Verkündigung. Andere das Fürchten lehren – das ist ein bewährtes Mittel der Machtausübung, den Kirchen nicht unbekannt. Aber die Furcht des Herrn meint keine Ängstlichkeit. »Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus«. Von dieser Liebe allein kann das Fluidum der Ängstlichkeit und Resignation gebrochen werden. Nur von da aus können wir unsere Kinder fähig machen, die Konflikte, die wir ihnen in einer atheistischen Gesellschaft nie ganz vom Halse halten können, mit den Eltern und der Gemeinde gemeinsam zu bestehen zur Stärkung des Glaubens. Von dieser Liebe aus werden wir auch frei für eine vertrauensvolle Vielfalt der Arbeitsformen und Lebensformen mit den Kindern und Jugendlichen. Nur aus der Kraft dieser Liebe können wir mit den Vertretern staatlicher Organe sprechen. Da darf nichts kaschiert oder verschwiegen werden. Da darf kein Versuch aus Resignation unterlassen werden. Deutlichkeit und Offenheit sind nötig – aus der Kraft völliger Liebe, die uns in Jesus Christus umfängt.

  • 4.

    Wir können diesen Brief nicht schließen, ohne Ihnen (Euch) auch von den Fragen und Sorgen zu sagen, die der Kommentar des »Neuen Deutschlands« vom 31. August 197610 bei uns ausgelöst hat. Es fällt schwer, von der Entrüstung zu vernünftiger Analyse und Überlegung zu finden. Der Missbrauch des 8. Gebotes verletzt uns tief. Noch mehr aber besorgt uns die Menschenverachtung, die aus diesem Kommentar spricht und sich noch als humanistisch ausgibt. Selbst über einen psychisch kranken Menschen dürfte nicht in dieser Weise öffentlich geschrieben werden. Auch die Tatsache, dass der Kommentar auf propagandistische Auswertungen der Tat von Bruder Brüsewitz außerhalb der DDR reagieren will, rechtfertigt in unseren Augen diesen Stil nicht. Wir möchten Sie (Euch) alle aber eindringlich bitten, diesen Kommentar nicht als Bestätigung für das Recht eigenen Unwillens zu benutzen und zu verallgemeinern. Mit Genugtuung haben wir bemerkt, dass die »Junge Welt« vom 1. September 1976 den Kommentar um die ärgsten Verunglimpfungen gekürzt und unter eine andere Überschrift gestellt hat. Dennoch bleibt die Sorge, der Stil dieses Kommentars könnte anstiften zu weiterer Verächtlichmachung Andersdenkender, Anderslebender, Andersglaubender. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass christliche Polemik vergangener Jahrhunderte mit Andersglaubenden und mit Atheisten häufig genug ähnlich verfahren ist. Als Christen im Übergewicht waren, glaubten sie oft genug, sich leisten zu können, was Mehrheiten gegen Minderheiten sich allzu gern zu leisten pflegen.

An vielen Orten sind wir eine kleine Gemeinde, sind wir in der Minderheit. Die Spannungen zwischen dem Anspruch der Botschaft, die uns aufgetragen ist, und der tatsächlichen Reichweite unseres Dienstes wird uns immer neuen Zerreißproben in unserem persönlichen Leben, in unseren Familien und in unserem kirchlichen Miteinander aussetzen. Der Schritt unseres Bruders O. Brüsewitz, was immer er noch an Anspruch und Rätsel einschließt, macht uns mindestens darauf unüberhörbar aufmerksam. Wir können diese Zerreißproben nur bestehen, wenn wir von der Bitte Christi getragen werden, die auch unseren Dienst ausmacht: »Lasst euch versöhnen mit Gott!«

Anlage 2 zur Information Nr. 623/76

Wortlaut der Kanzelabkündigung in der evangelischen Landeskirche Sachsen (Dresden) für den 5. September 1976

Das Landeskirchenamt teilt unseren Kirchengemeinden mit:

Im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz veröffentlichte das Zentralorgan der SED »Neues Deutschland« unter der Überschrift »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden« und das Zentralorgan der CDU »Neue Zeit« unter der Überschrift »Schamlose Hetze mit menschlichem Versagen« am 31. August 1976 einen Kommentar,11 der wegen seiner Sinnentstellung einer deutlichen Richtigstellung bedarf.

Die Kirchenleitung der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen hat sich deshalb an die Redaktionen beider Zeitungen schriftlich gewendet, die Antwort steht noch aus.

Unsere Gemeinden können damit rechnen, über den Inhalt dieser Stellungnahme informiert zu werden. Darüber hinaus wird sich die Kirche noch einmal zu den Fragen äußern, die uns allen durch das Handeln unseres Bruders Brüsewitz gestellt sind.

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    8. September 1976
    Information Nr. 625/76 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 30. August 1976 bis 5. September 1976

  2. Zum vorherigen Dokument Zur Person des EKD-Ratsvorsitzenden Helmut Class

    7. September 1976
    Information Nr. 626/76 über den Vorsitzenden des Rates der EKD, Class