Reaktionen auf eine eventuelle Verpachtung der S-Bahn Westberlin
5. April 1976
Information Nr. 250/76 über weitere Reaktionen von Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin zur Veröffentlichung über eine eventuelle Verpachtung der Westberliner S-Bahn-Einrichtungen an den Senat von Westberlin
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen, gibt es seit der vom ADN am 25. März 1976 veröffentlichten Meldung über das Defizit der S-Bahn in Westberlin1 im Jahre 1975 und die Möglichkeit einer eventuellen Verpachtung der S-Bahn-Einrichtungen an den Senat von Westberlin umfangreiche Diskussionen unter den Eisenbahnern der Dienststellen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin. Es wird jedoch eingeschätzt, dass sich nach den zum Teil sehr erregten Diskussionen der ersten Tage eine gewisse Beruhigung und Versachlichung abzeichnet.
Die Partei- und Leitungsorgane für die Deutsche Reichsbahn in Westberlin leisteten in der Woche vom 29. März 1976 bis zum 5. April 1976 eine offensive und intensive politische Arbeit unter den insgesamt 4 650 Eisenbahnern. Grundlage des Auftretens bildeten die vom Präsidenten der Reichsbahndirektion Berlin in der außerordentlichen Dienstbesprechung am 29. März 1976 mit den Funktionären Westberliner Dienststellen und die von der Politischen Abteilung der Reichsbahndirektion Berlin an die Mitglieder der SEW-Betriebsgruppen2 bei der Deutschen Reichsbahn in Westberlin gegebenen Instruktionen und Argumentationen.
In den Mittelpunkt der Argumentation wurde gestellt, dass es für die DDR auf die Dauer unzumutbar sei, das Defizit der S-Bahn in Westberlin zu tragen, zu dem auch die unter Verantwortung des Senats entwickelten Aktivitäten wie S-Bahn-Boykott, Zerstörungen an der S-Bahn und Unterhaltung entsprechender BVG-Konkurrenzlinien beigetragen haben. Für die Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin bestehe kein Grund zur Besorgnis um ihren Arbeitsplatz, und es gehe nicht darum, die Betriebsführung bzw. die Arbeitsplätze der Deutschen Reichsbahn in Westberlin dem Westberliner Senat zu übertragen.
Mit der Argumentation sind die Betriebsgruppen der SEW auf Vorstandssitzungen, Mitgliederversammlungen, kurzfristig einberufenen Zusammenkünften sowie durch individuelle Gespräche unter Einbeziehung von Gewerkschaftsfunktionären und leitenden Mitarbeitern vertraut gemacht worden. Alle Betriebsgruppen der SEW haben in Zusammenarbeit mit den Betriebsgewerkschaftsleitungen und Dienststellenleitern Festlegungen getroffen, um die Argumentation in Versammlungen, Dienstunterrichten, Einzelgesprächen usw. an die Eisenbahner heranzutragen.
In den Reaktionen und in den Problemdiskussionen unter den Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin traten gegenüber der Vorwoche keine Veränderungen auf. Typisch ist jedoch, dass die Mehrzahl der Eisenbahner nach wie vor eine abwartende Haltung einnimmt. Es wird weiterhin diskutiert, dass sie zuerst durch die westlichen Massenkommunikationsmittel Kenntnis erhalten haben und in den ersten Tagen hilflos und sich selbst überlassen gewesen seien.
Auch die bei einem erheblichen Teil der Mitglieder der SEW eingetretene Unsicherheit sei noch nicht überwunden. Nach wie vor seien Sorgen um die eigene Zukunft und Angst um den Arbeitsplatz verbreitet. Vielfach wird zwar die Berechtigung der Forderung an den Senat betont, aber die Verwendung des Begriffes »Verpachten« als »Fehler« und als »Missgriff« oder als »unglückliche Formulierung« bezeichnet. Innerhalb der Parteiorganisationen der SEW setze sich der Klärungsprozess allmählich durch, jedoch tritt bisher nur ein Teil der Mitglieder der SEW offensiv im Kreise der parteilosen Eisenbahner auf.
Neben den in der Information Nr. 234/76 vom 30. März 1976 charakterisierten Tendenzen sind nachstehend angeführte einzelne Auffassungen bedeutsam:
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Ein Teil der Eisenbahner bringt sein Vertrauen zur DDR zum Ausdruck und betont, dass man sie schon nicht im Stich lassen werde.
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Ein anderer Teil erwartet noch nähere Erklärungen der DDR bzw. glaubt nicht an die Realisierung der Verpachtung, weil sie »sowieso abgelehnt wird«.
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Aus einigen Äußerungen ist zu entnehmen, dass es »egal sei, wem der Betrieb gehöre, da die S-Bahn ja doch fahren müsse«.
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Reichsbahnangehörige in einigen technischen Dienststellen und Beschäftigte des Güterverkehrs äußerten, dass die Vorschläge sie nicht betreffen würden, da es ja nur um die S-Bahn gehe.
Von einigen Triebwagenführern des S-Bahnbetriebswerkes Wannsee wurden Äußerungen bekannt, in denen betont wurde, nur die »Genossen und die Bonzen würden zittern«. Sie könnten dann wenigstens Beamte werden.
Eine Reihe Eisenbahner bringt zum Ausdruck, dass sie nicht gerne unter dem Senat arbeiten würden und sprechen sich deshalb gegen die Verpachtung aus. Das ist besonders unter den weiblichen Beschäftigten der Fall, weil man mehr Benachteiligungen bzw. vorrangige Entlassungen befürchtet. In einigen Gesprächen wird die Frage gestellt, ob denn S-Bahn und Fernbahn überhaupt zu trennen seien, da doch immer die organische Einheit betont worden wäre.
Einzelne Meinungsäußerungen Westberliner Eisenbahner gehen auch dahin, dass sie schon jahrzehntelang bei der Deutschen Reichsbahn in Westberlin arbeiten und deshalb an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes stark interessiert seien. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters befürchten sie, entlassen zu werden und keine neue Arbeit mehr zu finden, wenn der Senat von Westberlin die S-Bahn übernimmt.
In Westberlin als Eisenbahner tätige DDR-Bürger – speziell S-Bahn-Triebfahrzeugpersonale – befürchten zu Dienststellen der Deutschen Reichsbahn in der Hauptstadt Berlin umgesetzt zu werden und sehen darin persönliche Nachteile, indem für sie dann die DM-Beträge und der Grenzzuschlag wegfallen würden. Bei einer Reihe der in Westberlin tätigen Eisenbahner sind Einflüsse der Hetztätigkeit der Westberliner Kommunikationsmittel erkennbar. Dies betrifft in erster Linie solche Argumente im Zusammenhang mit den Hoheits- und Eigentumsrechten der westlichen Alliierten.
Die Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin gehen ihrer Arbeit normal und ruhig nach. Trotz des hohen Krankenstandes und der damit verbundenen Überstunden werden die Arbeitsaufgaben diszipliniert gelöst.
Am 2. April und 5. April 1976 wurde erneut die Verteilung von Hetzflugblättern des »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands« festgestellt.3
Dieses Hetzflugblatt wurde in den Frühstunden des 2. April 1976 vor der Poliklinik West (auch am 5. April) und vor dem Bahnhof Eichkamp an Einwohner von Westberlin und Eisenbahner verteilt. (Flugblatt als Anlage beigefügt)
Anlage zur Information Nr. 250/76
[Flugblatt des »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands«]
Zum Pacht-Angebot der DDR:
Zwischen zwei Ausbeutern können die Reichsbahner nicht wählen!
Sofortige Offenlegung des Pacht-Plans!
Die DDR ist bereit, die S-Bahn an den Westberliner Senat zu verpachten. Mit dieser Meldung überraschte die DDR-Nachrichtenagentur ADN am 25. März die Beschäftigten der DR. »Hier scheint äußerste Zurückhaltung geboten. Wir haben keine Eile, uns ein so vernachlässigtes Unternehmen wie die S-Bahn anzulachen«, war die Antwort des Senats.
Die DR – ein kapitalistischer Betrieb
Ob 5 000 Kollegen verschoben werden oder nicht – das behandelt die DR-Leitung wie jeder andere Kapitalist als Kostenfrage. Über Nacht haben diese Herren Tausende von Reichsbahnern wie einen Kartoffelacker zur Pacht angeboten. Die Arbeiter auch nur zu informieren, haben sie nicht für nötig gehalten.
Selbst SEW-Mitglieder standen wie dumme Jungen da. Die »Wahrheit«4 vom Wochenende verschwieg, dass es überhaupt ein Pachtangebot der DDR gibt und fordert lediglich Geldzuschüsse des Senats. »Habt Vertrauen in die DDR«, war eine der beliebtesten Argumente der Leitungen, wenn es in den letzten Monaten darum ging, Lohnforderungen der Kollegen vom Tisch zu wischen. Wie sie im letzten Herbst die Arbeiter nach 16 Monaten mit 50 DM Lohnerhöhung abgespeist haben, wie sie die Einstellung neuer Arbeitskräfte verweigern und von den Kollegen mehr Arbeit fordern, wie sie die medizinische Versorgung verrotten lassen und nun klammheimlich Pläne schmieden, 5 000 Kollegen an den Westberliner Senat zu verhökern, das alles zeigt: Vertrauen ist hier völlig unangebracht, denn es handelt sich um ganz normale kapitalistische Ausbeuter.
Es geht um mehr als um das Defizit
Es ist auch ein normales Geschäft im Kapitalismus, wenn ganze Belegschaften von einem Ausbeuter zum anderen verschoben werden. Das allein würde noch nicht den Wirbel erklären, den die ADN-Meldung in der Presse gemacht hat. Tatsächlich unternimmt die DDR zugleich einen Angriff auf die Rechtsauffassung der westlichen Besatzer und des Senats, wonach die DDR nicht zur Pacht anbieten könne, was ihr nicht gehört. Wozu dieses Gerangel?
Schon immer war der Schlagabtausch um die DR ein guter Gradmesser für die Schärfe des Kampfes der Imperialisten – insbesondere der beiden Supermächte USA und UdSSR – um Vorherrschaft in Europa. Dieser Kampf wird um die gewaltige Anhäufung von Produktivkräften in Europa geführt. Spitzt sich dieser Streit zu, dann verschärft sich auch die Rivalität der Imperialisten um Westberlin. Denn Westberlin ist ein Brückenkopf der westlichen Besatzer und des BRD-Imperialismus inmitten der DDR, der genutzt werden kann z. B. als Aufmarschplatz für Truppen und als ideologischer Stoßkeil.
Umgekehrt ist die Reichsbahn – ein Gelände von der Größe Kreuzbergs, wo die DDR über zahlreiche Sonderrechte und über etwa 5 000 Menschen verfügt – so etwas wie ein Brückenkopf im Brückenkopf. Kein Wunder, dass darum immer wieder Streit entsteht.
Zwischen zwei Unterdrückern kann das Volk nicht wählen
Wenn die Reichsbahner, wenn die Arbeiter von Westberlin sich ihre Ausbeuter vom Hals schaffen wollen, werden die Gewehre der westlichen Besatzer, werden auch die Staatsorgane der BRD dagegen gerichtet sein. Diese Imperialisten muss man zum Teufel jagen. Doch nichts wird gebessert sein, wenn dafür der russische Sozialimperialismus einmarschiert. Er wird nichts Eiligeres zu tun haben, als ein Ausbeutersystem zu errichten, wie es die Reichsbahner heute schon aus eigener Erfahrung kennen.
Wollen die Arbeiterklasse und das Volk die Kapitalisten enteignen, müssen sie sich gegen alle imperialistischen Mächte wenden. Der Kampf um den Sozialismus erfordert den Kampf für einen Friedensvertrag, der Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität Westberlins garantiert. Nicht den geringsten Grund gibt es, sich auf die Seite der einen oder anderen Ausbeuterordnung zu schlagen.
DDR in Geldnot
Wenn nun die Reichsbahn der UdSSR und der DDR als »Brückenkopf im Brückenkopf« dienen soll – wozu dann das Verpachtungsangebot? Offenbar ist der DDR finanziell der Atem ausgegangen. 100 Mio. Defizit im Jahr, zu zahlen in Devisen, das ist schon viel für einen Staat, der von der Sowjetunion ausgeplündert wird und gegenüber dem Westen hoch verschuldet ist.
»Sparsamkeit« bei der Reichsbahn
Kein Wunder, dass bei dieser wirtschaftlichen Lage auch bei der DR Sparsamkeit einzieht. Die Sparsamkeit der Kapitalisten war aber noch immer verbunden mit größter Verschwendung von Arbeitskraft, Verminderung des Personals im S-Bahn-Werk Papestr. um bis zu einem Viertel, Überstunden z. B. bei den Triebfahrzeugführern, Verkauf der Fahrkarten z. T. durch die Aufsichten. Das sind einige der Erfahrungen, die Reichsbahner mit dieser Art von Sparsamkeit sammeln konnten. Der neueste Sparplan ist nun also, die Arbeiter der DR zu verpachten.
Fragen der Kollegen lässt die DR unbeantwortet
Die Kollegen fragen: Wird die DR nun verpachtet oder nicht? Ob das Pachtgeschäft zustande kommt, ist ungewiss. Der Senat, voran Schütz, erklärt sich für nicht zuständig. Lüder von der FDP nimmt das Angebot gar nicht erst ernst. Senatssprecher Struve findet die DR nicht rentabel genug und gibt damit augenzwinkernd zu verstehen: Erst muss einmal mehr aus den Arbeitern herausgeholt werden; dann sei die Sache vielleicht interessant für den Senat. Die Kollegen fragen: Was ist besser für uns – für den Senat zu arbeiten oder für die DR? Wir meinen: zwischen zwei Ausbeutern kann man nicht wählen. Kommt die DR an den Senat, wird der versuchen, den Wechsel in der Betriebsleitung zu verbinden mit verschärfter Antreiberei. Neue Besen kehren gut, wird er sich sagen und den Versuch machen klarzustellen, wer Herr im Haus ist.
Die DR-Leitung wird auf jeden Fall versuchen, das Defizit zu senken. Behält sie den Betrieb, dann spart sie Geld. Verpachtet sie, kann sie für einen rentablen Betrieb einen besseren Preis verlangen. Deshalb wird sie darauf spekulieren, dass manche Kollegen die Antreiber aus der DDR noch für das kleinere Übel halten. »Wenn eure Arbeitsplätze sicher bleiben sollen,« – so werden sie argumentieren – »dann muss das Defizit jetzt weg. Wir brauchen dazu weiter den Einstellungsstopp, die Poliklinik muss bleiben, wie sie ist und Lohnerhöhung ist nicht drin.«
Ein »Kleineres Übel« gibt es nicht!
So oder ähnlich sah noch immer Kapitalistenlogik aus. Noch immer aber hat sich gezeigt: Machen die Arbeiter dem einen Kapitalisten Zugeständnisse, um nicht an einen anderen verschachert zu werden, dann ernten sie nicht sichere Arbeitsplätze oder sonst was, sondern weitere Schläge. Für die Arbeiterklasse, die allein alle Werte schafft, gibt es keinen Grund, sich die Wahl zwischen zwei Übeln aufdrängen zu lassen. Sie trägt die Produktion und ist fähig, sie selbst zu leiten und voranzubringen. Schon immer haben die Kapitalisten behauptet: Die Arbeiter müssen den Gürtel enger schnallen, damit genug Gewinn da ist für neue Investitionen, damit es vorangeht auf dem Weltmarkt. Herausgekommen ist für die Arbeiter, dass mit den Investitionen noch mehr Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden und dass der reaktionäre Druck zur Erstickung jedes Widerstandes zugenommen hat. Nicht darin, das angeblich kleinere Übel der Zusammenarbeit mit den Kapitalisten zu wählen, liegt die Zukunft der Arbeiterklasse, sondern darin, die politische Macht zu erobern, um die Kapitalisten zu enteignen und selbst die Produktion nach den Bedürfnissen des Volkes zu leiten.
Auch für die Arbeiter der DR ist die Frage nicht, ob man von der DDR oder dem Senat mehr zu erwarten hat. Ob es für die Arbeiter schlechter kommt oder besser, hängt also nicht von irgendwelchen Verhandlungen oder Verpachtungsplänen ab, sondern allein davon, dass die Reichsbahner jeden Angriff auf ihre Arbeitsbedingungen zurückschlagen. Das werden sie gegenüber dem Senat genauso tun müssen wie gegenüber der DR-Leitung.
Der Pacht-Plan muss auf den Tisch!
Jetzt muss man erst einmal wissen, woran man ist, sonst entsteht leicht Unsicherheit unter den Kollegen. Schließlich sind sie es, die verpachtet werden sollen. Sie haben ein Recht zu erfahren, was geplant ist. Deshalb ist richtig, Offenlegung des Pachtplans zu fordern. Die Vertrauensleute müssen auf diese Forderung festgelegt werden. Der FDGB hat der Betriebsleitung wie üblich in die Hände gespielt. Auch er hat das Schweigen um die Verpachtungspläne nicht gebrochen. Trotzdem muss verlangt werden, dass auch der FDGB sich für Offenlegung der Pläne ausspricht. Der Betriebsleitung geht es um reibungslose Ausbeutung. Auf sie zu vertrauen kann teuer werden für die Arbeiter. Ihre Pläne müssen auf den Tisch, damit die Arbeiter sich ein Bild machen und ihre Maßnahmen festlegen können.
Sofortige Offenlegung des Pacht–Plans!
KBW/ Aufl[age] 600/1.4.76/ Kommunistischer Bund Westdeutschland/ Verantwortlich i.S.d.P:– D. Zimmer, Leberstr. 8, 1 Berlin 62.