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Untersuchungen zu einer »Petition« von Ausreisewilligen in Riesa

7. September 1976
Information Nr. 624/76 über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen zu einer feindlich-negativen Konzentration von Bürgern der DDR, die im Zusammenhang mit ihrer Antragstellung auf Übersiedlung nach der BRD eine »Petition zur Erlangung der vollen Menschenrechte« unterzeichneten

Am 31. August 1976 wurde gegen den als Verfasser einer »Petition zur Erlangung der vollen Menschenrechte«1 entlarvten DDR-Bürger Dr. med. Nitschke, Karl-Heinz (47), wohnhaft: Riesa, Schweriner Straße Nr. 26, beschäftigt gewesen: Facharzt für Innere Medizin in der Betriebspoliklinik VEB Rohrkombinat Riesa, wegen des dringenden Verdachtes der staatsfeindlichen Verbindungsaufnahme (§ 100 StGB) und der staatsfeindlichen Hetze im schweren Fall (§ 106 StGB) ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und am 1. September 1976 auf gleicher Rechtsgrundlage Haftbefehl erlassen.

Die vom MfS bisher geführten Untersuchungen haben ergeben, dass Nitschke diese »Petition«, versehen mit Unterschriftenlisten von 67 DDR-Bürgern (33 Personen aus Riesa und Bezug nehmend auf diese »Petition« mit einer ergänzenden Namensliste von weiteren 20 Personen aus Riesa, zwei Personen aus dem Kreis Meißen und zwölf Personen aus Karl-Marx-Stadt) an die Organisationen

  • »Human Rights International – Internationale Liga gegen Willkür und Machtmissbrauch«, Frankfurt/M., Diesterwegstraße 33,2

  • »Gesellschaft für Menschenrechte«, Frankfurt/M., Bockenheimer Anlage 12,3

  • »Initiativgruppe ›Hilfe für DDR-Deutsche‹«, Goslar, Bergdorfstraße Nr. 25,

  • »Ostpolitische Deutsche Studentenschaft«, Tübingen, Grubener Straße 154

übersandt hat.

Wie Westpressemeldungen zeigen, liegt diese »Petition« einschlägigen Feind- und anderen Organisationen und Einrichtungen in der BRD vor und wird zum Anlass einer Hetz- und Verleumdungskampagne gegen die DDR genommen (u. a. »Berliner Morgenpost« vom 5. September 1976, »BZ« vom 31. August 1976, »Rheinischer Merkur« vom 27. August 1976 und »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 21. August 1976).

Nitschke nahm im Jahre 1973 postalische Verbindung zum Roten Kreuz der BRD auf, um unter Bezugnahme auf seine in der BRD wohnhafte Schwester zu erreichen, dass sich diese Einrichtung für seine Übersiedlung in die BRD aus »humanitären Gründen« einsetzt.

In Übereinstimmung mit Sendungen des Fernsehens und Rundfunks der BRD und Westberlins – die Nitschke im Rahmen des Prozesses der Verfestigung seiner feindlichen Einstellung seit Jahren ständig verfolgte – propagierten Antragstellungen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung nach der BRD, beantragte Nitschke am 18. August 1975 beim Rat des Kreises Riesa für sich, seine Ehefrau und seine elfjährige Tochter die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und die Übersiedlung nach der BRD.

Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen des MfS zur weiteren Aufklärung der Initiatoren und Organisatoren dieser »Petition« ist festzustellen:

In der Zeit nach dem 18. August 1975 versandte Nitschke an seine in der BRD wohnhafte Schwester Abschriften der von ihm verfassten 13 Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR sowie Abschriften von sich darauf beziehenden Schreiben an die UNO und an deren Generalsekretär, in denen er die Tätigkeit der Sicherheits- und anderen Staatsorgane der DDR diskriminierte. Damit verfolgte Nitschke die Absicht, über die durch seine Schwester aufgenommenen Verbindungen zu Behörden und Politikern in der BRD, zum ZDF und zu Presseorganen seine Forderungen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR in der Öffentlichkeit publik zu machen und dadurch die zuständigen Staatsorgane der DDR zur Genehmigung seines Übersiedlungsantrages nach der BRD zu zwingen.

Außerdem stellte Nitschke im Verlaufe des Jahres 1976 selbst weitere postalische Verbindungen zu verschiedenen Einzelpersonen und Einrichtungen in der BRD her, um im Zusammenwirken mit diesen umfassende feindliche Aktivitäten gegen die DDR durchzuführen. So hat er z. B. unter Anwendung konspirativer Methoden Verbindungen zu dem über Kontakte zu kriminellen Menschenhändlerbanden und Geheimdienststellen verfügenden Springer-Journalisten [Name] in Westberlin aufgenommen.

Seit Mai 1976 versuchte Nitschke, teilweise unter Ausnutzung seiner Stellung als Arzt, Verbindungen zu Personen herzustellen, die ebenfalls Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung nach der BRD gestellt hatten. Dabei brachte er zum Ausdruck, dass »man mit individuellen Anträgen nichts erreicht und nur durch eine gemeinsame Aktion den Anträgen Nachdruck verleihen kann«. In diesem Zusammenhang wurde nachgewiesen, dass die Initiative zur Durchführung dieser »gemeinsamen Aktion« auf der Grundlage der sogenannten »Petition« ausschließlich von Nitschke ausging. Dieser fertigte den Entwurf ohne Hinzuziehung anderer Personen an und ließ die »Petition« in sechs Ausfertigungen von seiner Ehefrau maschinenschriftlich herstellen.

Am 16. Juli 1976 übergab er diese den DDR-Bürgern [Name 1] und [Name 2] mit der Instruktion, Unterschriften bei »zuverlässigen Antragstellern« zu sammeln und dabei nicht zu offenbaren, dass er der Verfasser sei. Gleichzeitig täuschte er zum Teil beide über seine wahren Absichten und versicherte, dass die »Petition« ausschließlich für den Generalsekretär des ZK der SED, den Vorsitzenden des Staatsrates, die Volkskammer der DDR, die UNO-Menschenrechtskommission in Genf, die Ständige Vertretung der BRD in der DDR und die »Gesellschaft für Menschenrechte« in Frankfurt/M. bestimmt sei. Durch [DDR-Bürger 1] und [DDR-Bürger 2] wurden im Zeitraum vom 17. bis 24. Juli 1976 auf der Grundlage der ihnen von Nitschke übergebenen Listen – die er und seine Ehefrau bereits unterzeichnet hatten – die Unterschriften von den übrigen Unterzeichnern der »Petition« aus Riesa eingeholt.

Zum Zwecke der Einholung der Unterschriftsleistung wurden den einzelnen Familien teilweise sowohl die »Petition« in Verbindung mit einer formlosen Unterschriftsliste bzw. nur diese formlose Unterschriftsliste vorgelegt. Bei der Unterschriftssammlung ohne Vorlage der »Petition« wurde das Anliegen lediglich mündlich erläutert und auf eine diesbezügliche geschlossene Aktion hingewiesen.

Von 16 Familien leisteten 33 Personen die Unterschriften. Die 16 Familien setzen sich aus insgesamt 56 Personen, darunter 19 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, zusammen. Bei den 33 erwachsenen Personen, welche die »Petition« unterzeichneten, handelt es sich um 22 Arbeiter, sieben Angestellte, 2 Angehörige der Intelligenz (1 Arzt, 1 Diplom-Ingenieur) sowie einen Invalidenrentner und eine Hausfrau. 19 dieser Personen arbeiten im VEB Rohrkombinat Riesa, drei Personen im Bereich Volksbildung, drei Personen im VEB Kraftverkehr/Taxi und zwei Personen im VEB Getreidewirtschaft.

Während der bisherigen Untersuchungen distanzierte sich der größte Teil der Unterzeichner der »Petition«, obwohl sie ihre Anträge weiterhin aufrechterhalten, von den feindlichen Aktivitäten des Nitschke – diese »Petition« für eine Hetzkampagne gegen die DDR auszunutzen.

Nach dem 15. August 1976 organisierte Nitschke die Fortführung der Unterschriftensammlung, indem er durch die DDR-Bürger [Name 3] und [Name 4] weitere 22 Unterschriften (20 im Kreis Riesa und 2 im Kreis Meißen) von Antragstellern auf Übersiedlung einholen ließ. Bei diesen 22 Personen handelt es sich um zehn Ehepaare und zwei Einzelpersonen, die in der Vergangenheit mehrfach als Antragsteller in Erscheinung traten. Es kann eingeschätzt werden, dass diese Personen erst im Ergebnis der Veröffentlichungen in westlichen Massenmedien über die sogenannte »Petition« sich zu deren Unterzeichnung entschlossen.

Die Überprüfungen ergaben weiter, dass drei dieser Personen persönliche Verbindungen zur Ständigen Vertretung der BRD in der DDR und zur Botschaft der USA in der DDR unterhalten, zwei durch provokatorisches Anbringen der BRD-Fahne anlässlich des 1. Mai 1976 an ihrem Wohnhaus in Erscheinung traten und zwei der Sekte »Zeugen Jehovas«5 angehören.

Die Unterschriften dieser und zwölf weiterer Personen aus Karl-Marx-Stadt wurden am 28. August 1976 dem Generalsekretär des ZK der SED durch den als Dreher im VEB Werkzeugmaschinenkombinat »Fritz Heckert« tätigen [Name] übersandt. [Angaben zur Person des Drehers] [Der Dreher] unterhielt aktive Verbindungen zu Nitschke und ist offensichtlich der Initiator der Sammlung der Unterschriften in Karl-Marx-Stadt.

Die auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungsergebnisse des MfS durch die Kreisleitung der SED in Riesa eingeleiteten offensiven politisch-ideologischen sowie weiteren Maßnahmen des MfS führten dazu, dass sich die gesellschaftlichen Kräfte mit den in ihren Bereichen vorhandenen Antragstellern auf Übersiedlung zielstrebiger auseinandersetzen. Es kann eingeschätzt werden, dass die negativen Personen weiter isoliert wurden und keine Möglichkeiten zur Konzentration und Entfaltung weiterer feindlich-negativer Aktivitäten erhalten. Durch Angehörige der medizinischen Intelligenz der Stadt Riesa wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Inhaftierung Nitschkes notwendig und gerechtfertigt war.

Durch das MfS werden die Untersuchungen mit dem Ziel fortgeführt, die Straftaten des Nitschke umfassend aufzuklären, die strafrechtliche Verantwortlichkeit weiterer Personen zu prüfen, Aktivitäten der bisher in Erscheinung getretenen Feindorganisationen aufzuklären und Maßnahmen zur weiteren Zurückdrängung und Zersetzung der negativen Konzentration durchzuführen.

  1. Zum nächsten Dokument Zur Person des EKD-Ratsvorsitzenden Helmut Class

    7. September 1976
    Information Nr. 626/76 über den Vorsitzenden des Rates der EKD, Class

  2. Zum vorherigen Dokument Westmedien zur Selbsttötung des Phytopathologen K. Schmelzer

    6. September 1976
    Information Nr. 622/76 über die im Zusammenhang mit der Selbsttötung des Dr. K. Schmelzer, Abteilungsleiter am Institut für Phytopathologie Aschersleben/Halle in der BRD-Presse erfolgte falsche Darstellung