Direkt zum Seiteninhalt springen

Treffen von Basisgruppen in Meißen (Planungen)

6. Oktober 1988
Information Nr. 441/88 über ein geplantes Treffen von Vertretern kirchlicher Basisgruppen mit »blockübergreifender« Zielstellung in Meißen/Dresden

Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen ist für die Zeit vom 21. bis 23. Oktober 1988 in Meißen die Durchführung eines Treffens von Vertretern kirchlicher Basisgruppen der DDR und der Ungarischen Volksrepublik unter Teilnahme von Mitgliedern des Interkirchlichen Friedensrates der Niederlande (IKV) und Schweizer Bürgern geplant. Es soll den Charakter eines Nachfolgetreffen der auf Initiative des Generalsekretärs des IKV, Mient Jan Faber1, im Mai 1988 in Budapest stattgefundenen Zusammenkunft tragen, an der auch acht namentlich bekannte DDR-Bürger teilnahmen.

(Faber vertritt antikommunistische Positionen und zählt zu den maßgeblichen Spalterkräften der westeuropäischen Friedensbewegung.2 Sein erklärtes Ziel ist die Herausbildung und Unterstützung sog. staatlich unabhängiger Friedensbewegungen in den sozialistischen Staaten und die Zusammenführung antisozialistischer Gruppierungen und Kräfte dieser Länder. Zu diesem Zweck unterhält er umfangreiche Kontakte zu feindlich-negativen, oppositionellen Kräften und initiierte wiederholt sog. blockübergreifende Aktivitäten. In diesem Sinne beeinflusste er auch in entscheidendem Maße Inhalt und Verlauf des Budapester Treffens. Es gelang ihm, in bewusster Verfälschung des Grundanliegens des konziliaren Prozesses der Kirchen – Erarbeitung gemeinsamer Vorschläge der Christen und Kirchen aller Länder zur Lösung der globalen Weltprobleme – die Teilnehmer dieses Treffens auf antisozialistische Positionen festzulegen. Das widerspiegelte sich besonders in der dort verabschiedeten sog. Budapester Erklärung (Wortlaut siehe Anlage).

In acht Punkten zusammengefasst, enthält diese »Erklärung« u. a. Forderungen

  • »zur Sammlung von Menschen aus Ost und West, um eine breite Basisbewegung von unten zu schaffen,

  • zur Erweiterung und Vertiefung von Ost–West-Gemeindekontakten,

  • zum Schutz für Kontakte von unten, zwischen Gruppen aus Ost und West, durch die Kirchen,

  • nach Recht auf Kriegsdienstverweigerung und alternativem Zivildienst.«

Mit dieser »Erklärung« wurde der Versuch unternommen, eine ideologische Plattform auf antisozialistischer Grundlage für alle sog. alternativen Gruppierungen in sozialistischen Staaten zu schaffen.)

Die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung des Treffens in Meißen erfolgt unter Verantwortung des hinlänglich bekannten Superintendenten des Evangelisch-Lutherischen Kirchenbezirkes Meißen, Eduard Berger. Er war Teilnehmer der Zusammenkunft in Budapest und Mitunterzeichner der »Erklärung«. Berger ist Kontaktpartner von Pfarrer Eppelmann/Berlin und entwickelte vielfältige Aktivitäten hinsichtlich der Einrichtung eines sogenannten Sozialen Friedensdienstes (SOFD) in der DDR. Außerdem trat er wiederholt mit Eingaben provokatorisch-demonstrativen Charakters an staatliche Organe in Erscheinung.

Während des Treffens sollen, wie weiter intern bekannt wurde, basierend auf der »Budapester Erklärung«, folgende thematische Schwerpunkte behandelt werden:

  • Wie sehen Bürger und Christen verschiedener Staaten unser Zusammenleben in Europa?

  • Die Praxis der Vernetzung von Gemeinden, Gruppen und Personen.

  • Erarbeitung eines Briefes an die Vollversammlung europäischer Kirchen auf dem Weg zu einem »Konzil des Friedens 1989« (15.–21. Mai 1989 in Basel).

Streng internen Hinweisen zufolge soll das Treffen in Meißen dazu beitragen, Kräfte zu mobilisieren und zusammenzuführen, die im gesamteuropäischen Rahmen dem Grundanliegen des konziliaren Prozesses entgegenwirken und ihm einen antisozialistischen Charakter verleihen.

Zur Vorbereitung des Treffens wollte Faber bereits im September 1988 in die DDR einreisen. Seine Einreise wurde auf zentralen Entscheid untersagt.

Es wird vorgeschlagen:

  • 1.

    Der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Löffler, sollte Landesbischof Hempel in einem Gespräch unter Bezugnahme auf den antisozialistischen Inhalt der Zusammenkunft in Budapest und den gleichartigen Charakter des geplanten Treffens in Meißen mitteilen, dass diesem Treffen nicht stattgegeben wird, da es sich eindeutig gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen des sozialistischen Staates, gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR richtet. Darüber hinaus sollte Landesbischof Hempel darauf hingewiesen werden, dass der Charakter dieses geplanten Treffens auch zweifelsfrei dem Grundanliegen des eingeleiteten konziliaren Prozesses der Kirchen widerspricht.

    Landesbischof Hempel sollte davon in Kenntnis gesetzt werden, dass einer Durchführung dieses Treffens staatlicherseits nur unter der Voraussetzung zugestimmt werden kann, wenn die Einladungen an ausländische Teilnehmer zurückgezogen werden und ausschließlich DDR-Bürger daran teilnehmen, diese sich offiziell von der sogenannten Budapester Erklärung distanzieren und sich jeglicher Angriffe gegenüber dem Staat enthalten. Im Zusammenhang damit müssten seitens der Kirchenleitung Garantien für den ausschließlich religiösen Charakter dieses Treffens übernommen werden.3

    Gleichzeitig sollte Genosse Löffler das für den 13. Oktober 1988 vorgesehene Gespräch mit Landesbischof Leich nutzen, ihm die Haltung des Staates im Zusammenhang mit dem Meißner Treffen darzulegen und ihn aufzufordern, in diesem Sinne auf die Leitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens einzuwirken.4Analoge Gespräche sollten der Sektorenleiter für Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes Dresden mit Oberlandeskirchenrat Schlichter/Dresden und der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Meißen für Inneres mit Superintendent Berger führen.

  • 2.

    Es sollten zeitweilige Reisesperrmaßnahmen gegenüber allen Personen aus dem Ausland verfügt werden, die beabsichtigen, an diesem Treffen teilzunehmen. Von Ausländern bereits beantragte Einreisen zwecks Teilnahme an dem Treffen sollten im Rahmen des Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahrens abgelehnt werden.5

    Sofern derartige Personen bereits im Besitz eines durch die zuständige Auslandsvertretung der DDR erteilten Visums sind, sollte ihre Einreise mit dem Hinweis, dass ihr Aufenthalt in der DDR gegenwärtig unerwünscht ist, nicht gestattet werden.

  • 3.

    Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR sollte die Botschaft der UVR in der DDR in geeigneter Form darüber informieren, dass ungarische Staatsbürger, die beabsichtigen, an dem genannten Treffen teilzunehmen, für diesen Zeitraum keine Einreise in die DDR erhalten.

    Eine analoge Vorgehensweise sollte auch gegenüber Botschaften anderer sozialistischer Staaten im Falle der beabsichtigten Einreise von Bürgern dieser Staaten angewandt werden.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt!

Mielke [Unterschrift]

Anlage zur Information 441/88

[Kopie]

Erklärung von Budapest

Christen sind durch Gottes Berufung und Bund das eine Volk Gottes. Durch die Geschichte unserer Völker und Kirchen sind wir zerrissen. So sind wir mitschuldig am Elend unserer Welt. Dieser Schuld wollen wir uns stellen, und wir hoffen, mit Gottes Hilfe doch noch sein Volk zu werden.

Wir, Christen aus der DDR, Ungarn und den Niederlanden haben uns in Budapest getroffen, vom 6. bis 8. Mai, um beizutragen zum konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Zu diesem Zeitpunkt, wo in Europa endlich Hoffnung ist auf wirkliche Abrüstung und weitgehende Entspannung zwischen Ost und West, möchten wir zuerst unsere Schuld anererkennen. Europa ist bedrohlich militarisiert: Das Ost–West-Verhältnis wird hiervon bestimmt. Unsere Mentalität hat sich dem weitgehend angepasst, und wir sind unglaubwürdig geworden vor uns und den Leidenden der übrigen Welt. Etwa 70 % aller Militärausgaben der Welt werden in Europa getätigt, obwohl wir die Not der »Dritten Welt« und das Leid aus Gewalt vor Augen haben. Wir wollen gemeinsam versuchen, eine neue Lebenshaltung zu gewinnen, die Teilung und Militarisierung Europas zu überwinden und die Last der Unterdrückung zu mildern. Dazu haben wir uns im Rahmen des konziliaren Prozesses miteinander verbunden. Wir laden auch Menschen aus anderen europäischen Ländern ein, sich anzuschließen.

Wir sind verbunden in unserem Glauben an Jesus Christus, der die Schöpfung erfüllt hat. Dadurch sind wir in die Freiheit gestellt und wollen als seine Nachfolger unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen und unsere Umwelt, für unsere Länder, für Europa und die Welt auf uns nehmen. Das biblische Verständnis von der Integrität jeder Person verpflichtet uns, zu arbeiten in Respekt vor anderen Menschen und ihren Überzeugungen. Das bedeutet im politischen Sinne auch, dass wir uns verbinden im Kampf für die Respektierung der Menschenrechte, für eigenständige Gruppenbildungen und Institutionen; überhaupt für eine Gesellschaft auf pluralistischer Basis.

Wir werden unsere Staaten danach beurteilen, inwieweit sie für die Humanisierung der Gesellschaft tätig sind. Der Staat ist eine Funktion der Gesellschaft und ihrer Glieder und nicht umgekehrt. Wir fordern uns selbst und die Kirchen auf, die europäischen Staaten von daher kritisch zu sehen. In Ost und West sehen wir, dass die Staaten eher ihre eigenen Machtinteressen verfolgen, dem Status quo dienen, die Gesellschaften von sich abhängig machen und die Menschen instrumentalisieren. Friede wird aber nur in Gerechtigkeit zwischen Menschen und in Freiheit für Menschen zu erreichen sein. Mit einem Frieden auf Kosten der Schwächeren können wir uns nicht abfinden.

Unser Programm im Rahmen des konziliaren Prozesses lautet:

  • 1.

    Wir werden versuchen, Menschen aus Ost und West zu sammeln, um eine breite Basisbewegung von unten zu schaffen, die neue Anstöße und eigene Beiträge liefert. Diese Bewegung soll innerhalb der Kirchen entstehen, aber über die Kirchen hinauswirken in die Gesellschaft.

  • 2.

    Wir werden ein Manifest präsentieren an die offizielle kirchliche Europakonferenz in Basel, die im Rahmen des konziliaren Prozesses im Mai 1989 stattfindet. Darin sollen die Kirchen herausgefordert werden, zu einer neuen, blocküberwindenden Sprache zu kommen, gegründet auf gemeinsamen Wertvorstellungen.

  • 3.

    Wir wollen die Ost–West-Gemeindekontakte zwischen Ortsgemeinden erweitern und vertiefen.

  • 4.

    Wir treten für Pluralismus ein, auch im kirchlichen Bereich, und wollen die Kirchen in Ost und West bitten, Schutz und Dach zu bieten für Kontakte von unten, zwischen Gruppen aus Ost und West, auch solchen, die nicht direkt zu den Kirchen gehören.

  • 5.

    Wir unterstützen Gewissensfreiheit und fordern deshalb das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und alternativen Zivildienst.

  • 6.

    Die Unterdrückung von Minderheiten in Europa klagt unsere Zivilisation an. Das Recht auf Selbstbestimmung, insbesondere auch für die Ungarn in Rumänien, wird von uns befürwortet.

  • 7.

    Die geistige und politische Abgrenzung nach innen und nach außen, die aus der Zweiteilung Europas erwachsen ist, soll durchbrochen werden. Für ihre Überwindung wollen wir uns einsetzen.

  • 8.

    Die drohende Verstärkung der Militarisierung Westeuropas, als Äußerung des Strebens nach einer westeuropäischen Identität, muss ersetzt werden durch Annäherung von Ost und West und Entmilitarisierung von ganz Europa.

Zu unseren nächsten Treffen werden wir einladen.

Budapest, Mai 1988

  1. Zum nächsten Dokument Entwicklung eines neuen Verfahrens zur Gardinenherstellung

    10. Oktober 1988
    Hinweis im Zusammenhang mit der Entwicklung eines neuen Verfahrens zur Herstellung von Gardinen [Bericht K 1/196]

  2. Zum vorherigen Dokument Statistik Einnahmen Mindestumtausch 26.9.–2.10.1988

    6. Oktober 1988
    Information Nr. 439/88 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 26. September 1988 bis 2. Oktober 1988