Ablehnende Haltung der Bevölkerung zum Bau Reinstsiliziumwerk Dresden
[ohne Datum]
Information Nr. 129/89 über ablehnende Haltungen breiter Bevölkerungskreise in Dresden-Gittersee im Zusammenhang mit der geplanten Errichtung des »Reinstsiliziumwerkes Gittersee des VEB Spurenmetalle Freiberg«
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen verstärkten sich insbesondere seit Anfang 1989 durch breite Bevölkerungskreise im Raum Dresden-Gittersee ablehnende Haltungen im Zusammenhang mit der geplanten Errichtung eines Reinstsiliziumwerkes des VEB Spurenmetalle Freiberg in diesem Raum.1
Bei der Inspirierung zu diesen ablehnenden Verhaltensweisen spielen Kräfte des »Ökologischen Arbeitskreises« der drei Kirchenbezirke in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens2 eine bedeutsame Rolle. Diese ablehnenden Haltungen werden öffentlich in Veranstaltungen der Wohngebietsausschüsse der Nationalen Front,3 in Zusammenkünften in Räumlichkeiten kirchlicher Einrichtungen sowie in Eingaben an örtliche und zentrale staatliche Organe der DDR vertreten.
So erfolgte z. B. in einem von diesem »Ökologischen Arbeitskreis« am 13. Januar 1989 veranstalteten »offenen Abend« die Aufforderung an die etwa 300 Anwesenden zu einer verstärkten Eingabentätigkeit wegen der mit der Inbetriebnahme des Werkes verbundenen »Umweltgefährdung«.
Eine vom Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front am 9. Februar 1989 im Kulturraum der GPG »Floradres« Dresden zur Vorbereitung der Kommunalwahlen am 7. Mai 19894 einberufene Einwohnerversammlung wurde infolge nicht ausreichender Platzkapazitäten auf Betreiben kirchenleitender Kräfte und mit Zustimmung der Einwohner trotz Widerstand gesellschaftlicher Kräfte (WPO-Sekretär, WBA-Vorsitzender, Aufbauleiter des Reinstsiliziumwerkes, Stadtrat für Inneres des Stadtbezirkes Dresden-Süd) in den Gemeinderaum der evangelischen Kirche in Dresden-Gittersee mit der Begründung verlegt, dass der Kulturraum zu klein sei (ca. 250 bis 300 Personen waren erschienen).
Im Verlaufe der Versammlung kam es zu Auseinandersetzungen und Zwischenrufen, insbesondere zum vorgesehenen Standort des Werkes, hinsichtlich des sicheren Transportes der Produkte und der damit angeblich verbundenen Gefährdung der Umwelt.
Den anwesenden Vertretern der SED, der Nationalen Front und der staatlichen Organe wurde jegliche Sachkompetenz für die Beantwortung der Fragen abgesprochen.
Die Einwohnerversammlung musste letztendlich abgebrochen werden.
Offensichtlich als Ausdruck eines zunehmenden Umweltbewusstseins der Bevölkerung, jedoch stark beeinflusst durch vorgenannte kirchliche Kräfte sind unter Teilen der Bevölkerung in Dresden-Gittersee Unsicherheiten bzw. Befürchtungen über mögliche Umweltgefährdungen entstanden, die aus der Errichtung dieses Werkes resultieren. Das führte letztlich dazu, dass hinsichtlich des gewählten Standortes teilweise verhärtete, ablehnende Haltungen öffentlich zum Ausdruck gebracht werden.
Nach dem MfS weiter vorliegenden Hinweisen hat sich der Superintendent des Kirchenbezirkes Dresden-West in einer Eingabe an den 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Genossen Kleiber,5 gewandt mit der »Forderung«, den Standort Gittersee für die Errichtung des Reinstsiliziumwerkes nicht zu bestätigen.
Der eingangs genannte »Ökologische Arbeitskreis« verfolgt ebenfalls das Ziel, die Grundsatzentscheidung über den Standort des Werkes zu revidieren.
Zu diesem Zweck werden zahlreiche Eingaben, Beschwerden und Vorsprachen bei den staatlichen Organen des Bezirkes durch den »Ökologischen Arbeitskreis« initiiert.
Des Weiteren werden umliegende Kirchengemeinden mit dem Ziel, den Druck auf die staatlichen Organe zu erhöhen (Lukasgemeinde, Andreasgemeinde, Paulusgemeinde) in diese Aktivitäten einbezogen, indem in vorgenannten »Informationsmaterialien« über mögliche Gefahren, die von dem geplanten Werk ausgehen, umfangreich informiert wird.
In kirchlichen Veranstaltungen wird ebenfalls über das weitere Auftreten und Vorgehen beraten und beschlossen.
Wie aus vorliegenden Reaktionen breiter Bevölkerungskreise von Dresden-Gittersee und angrenzender Stadtgebiete zu entnehmen ist, finden die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten kirchlicher Kräfte zunehmend Resonanz.
Im Zusammenhang mit den Problemen des zu errichtenden Betriebes am Standort Dresden-Gittersee am 16. März 1989 durchgeführte Einwohnerversammlungen im Verantwortungsbereich mehrerer Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front von zwei Wahlkreisen (Nr. 56 a und 76 a) – insbesondere im Wahlkreis Coschütz-Gittersee – kam es erneut zu heftigen Diskussionen über die geplante Errichtung des Werkes.
In teilweise aggressiver Form wurde gefordert, dieses Werk am geplanten Standort nicht zu errichten.
Mehrere Einwohner brachten zum Ausdruck, dass sie die Kandidaten der Nationalen Front zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 nicht wählen werden, falls diese sich nicht vorher gegen den Bau des Werkes aussprechen.
Anwesende Vertreter staatlicher Organe bzw. gesellschaftlicher Organisationen des Stadtbezirkes Dresden-Süd (1. Stellvertreter des Stadtbürgermeisters, WBA-Vorsitzende, Vertreter der Stadtbezirksleitung der SED und Vertreter der Aufbauleitung) waren trotz guter Vorbereitung auf diese Einwohnerversammlung und fachlich fundierter Erläuterungen nicht in der Lage, die anwesenden Bürger (etwa 350 bis 400) von der Notwendigkeit der Errichtung des Werkes am Standort Dresden-Gittersee zu überzeugen, obwohl durchaus glaubhaft dargelegt wurde, dass die Errichtung und Inbetriebnahme dieser Anlage nur unter exakter Beachtung der erforderlichen Sicherheitsbestimmungen zum Ausschluss von Umweltgefährdungen erfolgen werde.
In Anbetracht der gegenwärtig verbreiteten, verfestigten ablehnenden Grundpositionen unter einem nicht unbeträchtlichen Kreis von Einwohnern des Stadtbezirkes Dresden-Süd und angrenzender Stadtgebiete zum Vorhaben Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee und der offenkundig gegenwärtig nahezu ausgeschöpften eigenen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Kräfte dieses Stadtbezirkes zur offensiven Klärung aller damit zusammenhängenden Fragen im Rahmen der Wahlbewegung wird es für erforderlich gehalten – ungeachtet der bisher bereits auf zentraler staatlicher Ebene eingeleiteten Maßnahmen von Anfang März 1989 – nochmals zu prüfen, inwieweit durch den Einsatz fachlich versierter Persönlichkeiten aus wissenschaftlichen Einrichtungen der DDR bzw. das Auftreten zuständiger Leitungskader zentraler staatlicher Organe die verbreitet bestehende Ablehnung zur Errichtung dieser Anlage am Standort Dresden-Gittersee entkräftet werden kann.