Embargobestimmungen und Mikroelektronik in DDR
22. Februar 1989
Information Nr. 81/89 über von der Siemens AG München/BRD gegenüber technologische Spezialausrüstungen herstellende BRD-Firmen unternommene Aktivitäten zur Durchsetzung der Embargobestimmungen und daraus resultierende ernsthaftere Gefährdungen notwendiger NSW-Importe für die mikroelektronische Industrie der DDR
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen unternahmen für den »Ost-Handel« zuständige Vertreter der Siemens AG München, BRD, in den letzten Monaten gegenüber BRD-Firmen, die technologische Spezialausrüstungen und -anlagen für die Mikroelektronik herstellen, verstärkte Anstrengungen zur Unterbindung von Lieferungen in die DDR, die negative Auswirkungen für die Kombinate Carl Zeiss Jena und Mikroelektronik Erfurt zur Folge haben können.
Das betrifft vor allem die Aufrechterhaltung des angestrebten, weiterhin hohen Entwicklungstempos bei der Realisierung des Staatsauftrages »Höchstintegration«.1
Durch NSW-Unternehmen des Elektronik-Maschinenbaus sind bereits in bestimmtem Umfang unter den Embargobestimmungen stehende notwendige Anlagen,2 Ausrüstungen, Materialien und »Know-how« zur Absicherung der Entwicklung und der Produktion höchstintegrierter Speicherschaltkreise, so u. a. Plasmaätzer, Hochstromimplanter, Diffusions- und Beschichtungsanlagen in die DDR geliefert worden.
Auch für die Herstellung von Ein- und Vier-Megabit-Speicherschaltkreisen (Technologieniveau 5 und 6) unter serienmäßigen Bedingungen bleibt – so wird unter Bezugnahme auf zwischenzeitlich eingeleitete Maßnahmen zur Entwicklung des Elektronik-Maschinenbaus in der DDR intern hervorgehoben – nach wie vor für einen bestimmten Zeitraum die NSW-Importabhängigkeit der mikroelektronischen Industrie der DDR bei vorgenannten technologischen Spezialausrüstungen weiter bestehen.
Die bisher bekannt gewordenen Siemens-Aktivitäten richten sich insbesondere darauf, dass im Zusammenhang mit Veröffentlichungen in den Massenmedien der DDR zum fortgeschrittenen Arbeitsstand bei der Entwicklung höchstintegrierter Speicherschaltkreise in den Kombinaten Carl Zeiss Jena und Mikroelektronik Erfurt,3 unter Bezugnahme auf »Hintergrundinformationen« über Verstöße gegen Embargobestimmungen der COCOM-Behörde durch in kommerziellen Beziehungen zum Siemens-Konzern stehende BRD-Firmen gegen Sicherheitsinteressen des Siemens-Konzerns zum »Mega-Projekt« verstoßen worden sei.4 Diesen BRD-Firmen drohten die Konzernvertreter »geschäftsschädigende Konsequenzen« an, falls den Forderungen zur Einstellung der Zulieferungen an die Kombinate Carl Zeiss Jena und Mikroelektronik Erfurt nicht entsprochen werde.
Leitende Mitarbeiter der BRD-Firma Leybold AG Hanau verwiesen in diesem Zusammenhang auf dem Siemens-Konzern angeblich vorliegende Erkenntnisse, wonach die Leybold AG über ein drittes Land Hochtechnologielieferungen in die DDR realisiert habe. (Die DDR-Seite importierte von dieser Firma bisher unter die Embargobestimmungen fallende Ätz- und Sputtertechnik sowie Kristallziehanlagen.)5
Die Vorstandsmitglieder der Leybold AG deuten einen seit einigen Monaten für sie spürbar zunehmenden Druck ihrer Konzernleitung der DEGUSSA AG Frankfurt/M.6 – an, den sie mit entsprechenden Einflussnahmen der Konzernleitung der Siemens AG auf die DEGUSSA in Zusammenhang bringen. So mussten zum Beispiel alle Vorstandsmitglieder dieser Firma nochmals unterschriftlich bestätigen, keine den COCOM-Embargobestimmungen unterliegenden Exporte in sozialistische Länder zu tätigen.
Der zunehmende Druck lässt nunmehr erwarten, dass jene Kräfte im Vorstand der Leybold AG an Einfluss gewinnen, die einer weiteren Zusammenarbeit mit der DDR mit Vorbehalt gegenüberstehen.
Der Geschäftsführer der BRD-Firma Peter-Klaus-Müller KG München,7 wurde im Januar 1989 von Vertretern des Siemens-Konzerns im Zusammenhang mit dem von dieser Firma zu erbringenden Leistungsumfang für das Vorhaben Erfurt Süd-Ost III (vorfristige Inbetriebnahme der Fertigung des 256-Kbit-Speicherschaltkreise Mitte 1989) einer intensiven Befragung unterzogen. Der Konzernvertreter gab im Gesprächsverlauf zu erkennen, eine Zusammenarbeit dieser BRD-Firma mit dem Kombinat Mikroelektronik »liege nicht im Interesse« der Siemens AG. Es erfolgte die Aufforderung, die Sicherheitsbestimmungen der Peter-Klaus-Müller KG zu erweitern und zu gewährleisten, dass kein DDR-Bürger Projektierungs- und Fertigungsstätten dieser BRD-Firma mehr aufsuchen könne.
(Diese BRD Firma Peter-Klaus-Müller KG projektiert und installiert Reinstgasleitungsnetze für Halbleiterfabriken und ist sowohl in das »Mega-Projekt« der Siemens AG als auch in das Investitionsvorhaben ESO III Erfurt8 einbezogen.)
Bereits im Oktober 1988 informierten Mitarbeiter dieser BRD-Firma über Anzeichen erhöhter Sicherheitsvorkehrungen des Siemens-Konzerns, wobei Vertreter dieses Konzerns durchblicken ließen, dass die Entwicklung des 1-Megabit-Speicherschaltkreises in der DDR sehr wahrscheinlich auf einen Informationsabfluss aus dem Konzern zurückzuführen sei.
Interne Wertungen von Fachexperten schließen aus den Aktivitäten der Konzernleitung der Siemens AG nicht aus, dass weitere Maßnahmen zur Beeinflussung kommerzieller Partner des Konzerns mit der Zielstellung wirksam werden, um das System der Überwachung und Kontrolle weiter zu perfektionieren und so den Transfer von »Know-how«, Maschinen, Anlagen und Ausrüstungen für die »Höchstintegration« zu unterbinden.
Die materiell-technische Realisierung der NSW-Importe im Jahr 1989 und in den Folgejahren für Vorhaben der Höchstintegration der DDR könnte von diesen Maßnahmen mit betroffen werden (betrifft für das Jahr 1989 zum Beispiel den vertraglich vereinbarten Leistungsimport von zehn Plasmaätzern, zwei Sputteranlagen und einer Kristallziehanlage im Wertumfang von etwa 34 Mio. Valutamark).
Im Interesse der Sicherung der Aufgabenstellung des Staatsauftrages »Höchstintegration« wird nochmals auf das Erfordernis aufmerksam gemacht, dass das für die Produktion höchstintegrierter Schaltkreise erforderliche Technologieniveau nur bei konsequenter, teilweise beschleunigter Umsetzung entsprechender Beschlüsse der Partei- und Staatsführung zur Erhöhung der Eigenproduktion von technologischen Spezialausrüstungen in der DDR erreicht werden kann.
Weiter wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, bereits bestehende Vorstellungen im Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik für die Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden und zentral abgestimmten Strategie zum weiteren Vorgehen der DDR für eine Zusammenarbeit mit der Siemens AG möglichst bald einer Entscheidung zuzuführen.
Des Weiteren sollte in Anbetracht des Verhaltens der Siemens AG zu kommerziellen Partnern in Erwägung gezogen werden, die Öffentlichkeitsarbeit in den Massenmedien der DDR zu Vorhaben und zum Realisierungsstand der »Höchstintegration« stärker als bisher unter Beachtung der Gefährdung von Lieferlinien aus dem NSW auszurichten.