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Zur Beurteilung der Situation

16. Juli 1954
Informationsdienst Nr. 2262 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über die Hochwasserkatastrophe1 wird unter den Werktätigen am meisten diskutiert, wobei Gespräche über die Ursache der Katastrophe und die Verpflichtung und Spenden zur Unterstützung der Geschädigten im Vordergrund stehen. Der größte Teil der Stimmen ist positiv. Darüber wird im Anhang berichtet.

Daneben wird besonders über verschiedene wirtschaftliche und betriebliche Belange gesprochen, die teilweise Missstimmung unter den Kollegen hervorrufen. Über politische Fragen werden nur ganz gering Meinungen geäußert. Im Privatbetrieb Adolf Völker in Schmalkalden,2 [Bezirk] Suhl (ca. 100 Belegschaftsmitglieder), wird von einem großen Teil der Kollegen, die in Westdeutschland zu Besuch waren, negativ über die Entwicklung in der DDR diskutiert. Dazu äußerten zwei Kollegen aus der Schmiede: »In der DDR versucht man, die Menschen immer mit Versprechungen satt zu machen. Wir waren in Westdeutschland und haben uns überzeugt, dass es drüben viel besser ist.«

Missstimmung über die Normen besteht unter den Straßenbauarbeitern von Großbrembach, [Bezirk] Erfurt. Dazu äußerte ein Arbeiter: »Die Normen beim Straßenbau sind viel zu hoch. Es ist aber besser, man sagt nichts, denn in der Nazizeit haben sie mich schon einmal ins KZ gebracht und voriges Jahr wäre es mir bald wieder so ergangen. Wenn die Normen nicht herabgesetzt werden, dann schmeiße ich den Laden hin. Es ist bald wieder so wie im vorigen Jahr.«

Über zu geringen Lohn beklagen sich die Angestellten des Postamtes Freital, [Bezirk] Dresden. Aus diesem Grunde besteht gegenwärtig eine Fluktuation unter den Arbeitskräften, selbst unter denen, die bereits lange Zeit bei der Post beschäftigt sind. Sie wollen alle in die Industrie, weil sie dort mehr verdienen.

Im VEB Kaltwalzwerk in Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, ist die Belegschaft darüber missgestimmt, dass der Produktionsplan zu hoch sei und deshalb in der Abteilung Metallwaren nicht erfüllt wird. Ein Kollege erklärte dazu: »Ich kann nicht verstehen, dass man von uns noch Planerfüllung erhofft. Unsere Kumpels arbeiten wie die Wilden und trotzdem wird der Plan nicht erfüllt. Warum lässt unsere Arbeiterpartei so etwas zu? Es müsse eine Untersuchung über die Richtigkeit des Planes durchgeführt werden, denn hier stimmt etwas nicht.«

Missstimmung über die Verteilung der Quartalsprämie besteht im VEB Glaswerke in Piesau, [Bezirk] Suhl, weil die Prämien nur an die Angestellten des Betriebes verteilt wurden. Die Arbeiter bringen zum Ausdruck, dass nur sie die Produktionspläne erfüllen und von ihnen der Halbjahresplan mit 109 Prozent übererfüllt wurde und deshalb auch sie Prämien erhalten müssten.

Ähnliche Diskussionen traten in der Eisenerzgrube in Schmiedefeld auf. Die Kollegen erklärten, dass man nicht Einzelnen über 1 000 DM geben sollte und den anderen gar nichts. Sie vertreten den falschen Standpunkt, dass die Prämien gleichmäßig an alle verteilt werden müssten.

Wegen angeblich schlechter Verdienstmöglichkeiten wollen die leitenden Intelligenzler der Werkgruppe Regis-Borna,3 [Bezirk] Leipzig, ihre Stellung in den Einzelverträgen kündigen bzw. haben bereits gekündigt. Sie sind der Meinung, dass z. B. der Produktionsleiter des VEB Borna für seine Arbeit und Verantwortung monatlich 3 000 DM erhält, während sie für ihre große Verantwortung nur 1 300 DM bekommen würden. Die Gehaltsansprüche der Intelligenzler wurden vom Direktor der Braunkohlenverwaltung abgelehnt. Die Intelligenzler haben alle die Absicht, in einem anderen Betrieb nach Leipzig zu gehen, wo sie mehr verdienen.

Wegen Planreduzierung ist ein großer Teil der Belegschaft des VEB Präzisionsmaschinenwerks Schmölln, [Bezirk] Leipzig, beunruhigt, weil dadurch 102 Kollegen in einem anderen Betrieb untergebracht werden müssen.

Eine Missstimmung wurde unter den Arbeitern ausgelöst, die am 13.7.1954 mit einem Arbeiterzug von Jüterbog4 nach Teltow, [Bezirk] Potsdam, fuhren. Dieser Zug hatte nur sechs Wagen, wovon noch sechs Abteile verschlossen waren, während er sonst 10 bis 15 Wagen umfasste. Ein Teil der Arbeiter kam wegen Überfüllung mit dem Zug nicht mit.

Im VEB Waggonbau Bautzen, [Bezirk] Dresden, wird darüber Klage geführt, dass der Betrieb neue Personenwagen bauen soll und Aufträge darüber ebenfalls in Görlitz und Babelsberg vergeben würden, obwohl sämtliche Wagen in Bautzen gebaut werden könnten. Man bringt zum Ausdruck, dass dadurch eine planmäßige Selbstkostensenkung niemals erreicht werden kann.

Wie aus Magdeburg gemeldet wird, war die Berichterstattung über die Planerfüllung im Ernst-Thälmann-Werk5 für die Monate Januar bis Mai 1954 gefälscht. An das Ministerium wurde gemeldet, dass der Plan im I. Quartal mit 114,1 Prozent, im April mit 106,7 Prozent und im Mai [mit] 100,07 Prozent erfüllt worden sei. Im Durchschnitt jedoch lag die Planerfüllung in dieser Zeit bei 98,5 Prozent. Die Unstimmigkeit ist darauf zurückzuführen, dass die gemeldeten Zahlen nach Planverkaufspreisen errechnet wurden (Durchschnittspreise), während jedoch für die Planerfüllung die tatsächlichen Abgabepreise maßgebend sind. Aufgrund der Erfüllung des I. Quartals wurde im Betrieb eine Quartalsprämie gezahlt.

Produktionsschwierigkeiten wegen Material und Arbeitskräftemangel. Im VEB Leder- und Kunststofffabrik in Falkenberg, [Bezirk] Cottbus, mussten wegen Materialmangel 34 Produktionsarbeiter beurlaubt werden. Außerdem konnten sie nur 90 Prozent ihres Arbeitslohnes ausgezahlt erhalten. Aus diesem Grunde konnte auch die Lederschuhproduktion im I. Halbjahr nur mit 75,6 Prozent erfüllt werden und bei Kinderlederschuhen nur mit 58,5 Prozent.

Im VEB Elektrowärme in Sörnewitz, [Bezirk] Dresden, wo Springformen für HO, Konsum und den Export hergestellt werden, können wegen Materialschwierigkeiten die Termine für die Lieferung nicht eingehalten werden.

Im VEB IKA Sonneberg, [Bezirk] Suhl, und Industriewerk Rauenstein, [Bezirk] Sonneberg, besteht ein Arbeitskräftemangel, was sich ungünstig auf die Planerfüllung auswirkt.

Betriebsunfall mit tödlichem Ausgang: Am 11.7.1954 verunglückte im Kaliwerk »Karl Marx« in Sollstedt ein Hauer beim Besetzen der fertiggebohrten Gänge tödlich, ein Lehrling erlitt leichte Verletzungen. Ursache: Beim Prüfen der Zünddrähte zog sich ein Draht aus dem Zünder, wobei sich dieser von selbst entzündete und die Ladung zur Explosion brachte. Der Zünder stammt aus einer Lieferung vom VEB Sprengstoffwerk I Schönebeck/Elbe. Es wurde festgestellt, dass weitere 100 Zünder aus dieser Lieferung nicht einwandfrei sind und zu ähnlichen Unfällen führen können.

Handel und Versorgung

Im Bezirk Erfurt besteht der Mangel an Tabakwaren weiterhin, besonders fehlt die Marke »Turf«.

In Dessau, [Bezirk] Halle, wurden durch das Hygiene-Institut folgende Fette als verdorben bezeichnet: 401,4 kg Butterschmalz, 627,4 kg Hartfett, 93,8 kg Schweineschmalz. Bei diesen Fetten handelt es sich um Importware aus Dänemark. Der Schaden beträgt 18 000 DM. Im Kühlhaus Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, sind größere Mengen an überlagerten Schlachtfetten und Schmalz vorhanden. Im Schlachthof Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, lagern 7 t gesalzener Speck; dieser hat nur noch eine Haltbarkeit von ca. sechs Wochen.

Im Bezirk Cottbus fehlt es an Emaille-Waren, wie z. B. Töpfen und Eimern, weiterhin fehlt es an Bettwäsche und Fahrrädern.

Landwirtschaft

Nur im geringen Maße wird zu politischen Tagesfragen Stellung genommen. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht die Hochwasserkatastrophe.

Einige LPG beklagen sich über schlechte Unterstützung vonseiten der verschiedensten Verwaltungsstellen. Im Kreis Meiningen erhalten die LPG vom Rat des Kreises sehr schlechte Unterstützung. Ein LPG-Bauer aus Oepfershausen, [Bezirk] Suhl: »Bei der Gründung unserer LPG wurde uns vollste Unterstützung zugesagt. Nun sind wir voll und ganz auf uns selbst angewiesen. Wenn das so weitergeht, ist das Bestehen unserer LPG infrage gestellt.«6

Bei einer Überprüfung der LPG »Max Taube« in Wellerswalde, [Bezirk] Leipzig, wurde festgestellt, dass ca. 75 Stück Rindvieh und 120 Schweine ganz primitiv untergebracht sind. Der LPG stehen 7 500 DM zum Ausbau des vorhandenen Stalles zur Verfügung. Teils ist der Stall fertiggestellt, bis auf den Dachstuhl. Die dazu benötigten 50 Festmeter Holz und ca. 45 000 Dachziegel konnten bis heute noch nicht bereitgestellt werden. Vom Rat des Kreises Oschatz wurde lediglich mitgeteilt, dass diese Baumaterialien nicht vorhanden wären.7

Bei einigen MTS, LPG sowie werktätigen Einzelbauern fehlen folgende Materialien bzw. das gelieferte Material ist mangelhaft.

In der MTS in Obermaßfeld, [Bezirk] Suhl, fehlen große Reifen für die Traktoren, ebenfalls wird Klage darüber geführt, dass das Material der Reifen von den Anhängern sehr schlecht ist und nur eine beschränkte Haltbarkeit hat.8

Die LPG Alt Krüssow,9 [Bezirk] Potsdam, bemängelt, dass sie keinen Koppeldraht erhält. Sie haben jetzt Stacheldraht um die Koppeln gezogen. Dies führte aber dazu, dass sich die Kühe das Euter verletzten und so das Melken erschwert wurde.10

In einer Versammlung des Ortes Quelsdorf,11 [Bezirk] Dresden, brachten Bauern zum Ausdruck, dass es für die Ernte an Sensen und Heugabeln fehlt. Weiter wurde ausgeführt, wenn es welche gibt, ist die Qualität schlecht.

In der MTS Golßen, [Bezirk] Cottbus, stehen bereits einige Wochen zwei Traktoren still, da die Lenkwellen vom VEB IFA Nordhausen bis heute noch nicht eingetroffen sind.12

Schweinepest: Aus dem VEG Ferdinandshof, [Kreis] Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, ist unter dem Zuchtbestand die Schweinepest ausgebrochen. Nach Untersuchung des kommissarischen Bezirkstierarztes vom Ministerium für Land- und Forstwirtschaft äußerte sich dieser: »Das Serum (Impfstoff) wäre noch nicht so entwickelt, dass es in der Praxis angewendet werden darf. Alle Tiere, die mit diesem Serum geimpft wurden, sind fieberkrank und zeigen Fressunlust. Vierzehn Sauen sind mit diesem Serum geimpft worden, dadurch haben sie beim Ferkeln verworfen. Verendet sind insgesamt 63 Zuchtsauen. Der Schaden beträgt insgesamt 36 000 DM13

Wildschweinplage: In der Gemeinde Schmeheim, [Kreis] Suhl, werden Diskussionen über die Wildschweinplage geführt. Der Bürgermeister dieser Gemeinde stellte die Frage, warum es in den anderen Kreisen des Bezirkes möglich ist, die Schäden vom Soll abzusetzen und bei ihnen nicht.14

Aus dem Kreis Lobenstein,15 [Bezirk] Gera, wird berichtet, dass unter den Bauern Missstimmung darüber besteht, weil die VEAB Schleiz, Nebenstelle Lobenstein bei der Bezahlung von tierischen Produkten sehr säumig ist. So wurde z. B. dem Bauern [Name] aus Reppesch,16 [Bezirk] Gera, die abgelieferte Wolle von 1953 bis heute noch nicht bezahlt. Trotz verschiedener Mahnungen, hat er bis heute noch nicht einmal Antwort erhalten. Ähnlich ist es bei vielen Bauern des Kreises.17

Übrige Bevölkerung

Zu politischen Tagesfragen wird nur ganz gering diskutiert. Hauptsächlich wird über die Hochwasserkatastrophe und ihre Auswirkungen gesprochen. Darüber wird im Anhang berichtet.

Innerhalb der bürgerlichen Parteien werden vereinzelt negative Stimmen zur Volksbefragung laut, wonach die Volksbefragung nicht richtig durchgeführt worden sei. Besonders erwähnt werden offene Abstimmung und Stimmenauszählung.18 So sagte z. B. ein Arzt aus Lichtenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt (Mitgl. der NDPD): »Wir müssen dafür sorgen, dass die Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit in Zukunft derartig angewandt wird, dass eine unmittelbare und geheime Abstimmung durchgeführt wird.«

Ein Handwerker aus Lichtenstein (NDPD): »Die Parteileitung soll dafür Sorge tragen, dass am 17. Oktober 1954 ein Zwang für das Aufsuchen der Wahlkabinen angewendet wird, da sich ein Nichtaufsuchen der Wahlkabine gegen die bestehenden Gesetze richtet.«19

Die Bevölkerung von Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, besonders die Mitglieder der LDP, diskutieren über die Auszählung der Stimmen zur Volksbefragung. Es wird dort nicht für richtig gehalten, dass die Stimmzettel, welche nicht angekreuzt oder mit zwei Kreuzen versehen waren, als gültig für den Friedensvertrag erklärt wurden. Die Funktionäre der LDP vertreten die Meinung, dass durch diese Diskussionen das Ergebnis der Volksbefragung abgeschwächt und verwässert wird. Dies würde sich auch bei der Volkskammerwahl auswirken, womit sie zum Ausdruck bringen wollen, dass die Personen, die sich bei der Volksbefragung nicht konkret entschieden haben, gegen die Regierung stimmen werden.

In einem Handwerkerausspracheabend in Görlitz, [Bezirk] Dresden, bezeichneten es die Friseure als schlecht, dass die Tageszeitungen die Preissenkung für Dauerwellen verschiedener Art mit der Preissenkung für die dazu erforderlichen Materialien begründen, bis jetzt sei das Material im Rechnungspreis unverändert geblieben.

In Dresden wird das Gerücht verbreitet, dass alle Besucher, die von der DDR nach Westdeutschland reisen beim Passieren des Grenzortes auf der Hin- und Rückfahrt je ein Paket erhalten und sie außerdem das Geld für die Rückfahrt in Westmark bekommen.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:20 Halle 250, Karl-Marx-Stadt 2 130.

NTS:21 Potsdam 135, Karl-Marx-Stadt 5.

In tschechischer Sprache: Karl-Marx-Stadt 10, Dresden 8.

Antidemokratische Tätigkeit: Im RAW Meiningen, [Bezirk] Suhl, wurden in der letzten Zeit mehrere Schmierereien in einem Klosett festgestellt. Der Inhalt war ein Aufruf, den 17. Juni [1953] nicht zu vergessen und die Beseitigung der VP und SED.

Am 14.7.1954 wurde in der Zeit von 6.00 bis 7.30 Uhr auf dem Bahnhof Gesundbrunnen im Tunnel von fünf Verteilern unter dem Schutz von fünf Stupos22 die Hetzschrift »Tarantel«23 verteilt.

Westberlin

In den Werner-Werken24 in Westberlin werden von den ca. 4 500 Angestellten und Arbeitern über Lohnerhöhung und 40-Stunden-Woche keine nennenswerten Diskussionen geführt. Jeder hütet sich, groß aufzufallen und will bei seinem Meister im guten Licht erscheinen. Nur so glaubt jeder, in den Genuss von Überstunden und Sonntagsarbeit zu kommen. Das Geld wird von den Kollegen dringend für ihre Abzahlungsgeschäfte gebraucht. Viele Kollegen beantragen laufend Vorschuss, um nicht mit ihren Ratenzahlungen in Rückstand zu kommen.

Die Neuköllner, die am 10.7.1954 zur Veranstaltung in der Sporthalle25 [waren,] waren anfangs enttäuscht, dass nicht Nationalpreisträger Prof. Norden26 die Ansprache hielt, sondern der Genosse Baum27 von der Bezirksleitung. Der Genosse Baum hätte zu sehr als Funktionär gesprochen und nicht als Mensch zu Mensch.

Die Leistungen der einzelnen Ensembles fanden großen Beifall und die Zuschauer waren überrascht, als sie hörten, dass es sich um Laienkünstler handelt und ihre Betriebe ihnen die Möglichkeit gaben, derartige Leistungen zu vollbringen. Sie stellen Vergleiche an, mit Westberliner Betrieben, wo eine derartige Kulturarbeit unmöglich sei.

In der Sporthalle waren ca. 2 000 Neuköllner Bürger und [es] wurde bemängelt, dass der Ausschuss der Nationalen Front von Neukölln nicht mehr für diese Veranstaltung gewinnen konnte.

Anlage 1 vom 16. Juli 1954 zum Informationsdienst Nr. 2262

Bericht zur Unwetterkatastrophe

Stimmung der Bevölkerung

Im gesamten Gebiet der DDR stehen die Diskussionen über die Ursachen der Unwetterkatastrophe im Vordergrund. Ein großer Teil der Bevölkerung steht auf dem Standpunkt, dass die Atombombenversuche der USA28 die großen Regenfälle ausgelöst hätten. Einzelne Personen bringen die Regenfälle mit der Sonnenfinsternis in Verbindung.29 Andere Menschen vernehmen vorstehende Ursachen mit der Begründung, dass es schon immer Hochwasser gegeben hätte.

Ein LPG-Bauer aus Wriezen, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Der Amerikaner mit seiner Atombombe macht uns immer wieder zu schaffen, man muss sie verbieten, dann sind wir diese Gefahr los. Wir Bauern werden jetzt mit besonderem Eifer jedes Korn einbringen, um damit die großen Schäden, die uns durch die Katastrophe entstanden sind, zu lindern.«30

Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Zinnerz Eisenwerk [Altenberg], [Bezirk] Dresden: »Ich bin der Meinung, dass man die Atombombenversuche unter allen Umständen unterbinden müsste. Man kann gar nicht wissen, was noch alles für Schäden entstehen können. Jetzt müssten eigentlich alle Menschen vernünftig sein.«

Eine Hausfrau aus Grünstädtel, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt (parteilos): »Es kann ja gar nicht anders sein, als dass die Atom- und Wasserstoffbombenversuche die ganze Wetterlage beeinflusst haben, wo gab es denn schon einmal, dass im Juli in der Schweiz Vieh eingeschneit ist31 und bei uns im Hochsommer ununterbrochen Regen fällt und es auch so kalt ist.«

Einige Arbeiter aus dem VEB Macedonia, [Bezirk] Dresden, diskutieren, dass die Ursache des Unwetters bei der Sonnenfinsternis zu suchen wäre.

Eine Hausfrau aus Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Na, da haben sie sich ja wieder was geleistet mit der Wasserstoffbombe, aber wir sind ja nicht von gestern, die können uns ja nichts mehr erzählen. Wir glauben ihnen ja sowieso nichts mehr, denn das Unwetter kommt nicht von der Wasserstoffbombe, sondern von der Sonnenfinsternis, denn von diesem Tag ging das schlechte Wetter los.«

Ein Angestellter vom Gesundheitsamt Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich kann nicht glauben, dass die Bomben das Unwetter beeinflussen. Naturkatastrophen hat es schon früher gegeben und es wird diese immer geben.«

Besonders aus religiösen Kreisen kommen Stimmen, dass das Unwetter eine Strafe Gottes sei. Einzelne Personen äußern sich feindlich indem sie äußern, dass man die Ursachen auch in den Atombombenversuchen der SU suchen könne. Eine Angehörige einer Sekte aus Karl-Marx-Stadt: »Die Hochwasserkatastrophe ist die Strafe Gottes, weil heute die Menschen so gottlos sind.« Ein Landarbeiter aus Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt: »Diese Naturkatastrophe ist von Gott gewollt. Solche Einwirkungen auf das Wetter können die Menschen nicht hervorbringen.«

Ein Arbeiter (Mitglied der NDPD) aus Hohenstein-Ernsttal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wenn man glaubt, man kann die Unwetterkatastrophe auf die amerikanischen Atombombenversuche abwälzen, so kann man sagen, dass diese Unwetterkatastrophe durch den Uranbergbau in unserem Bezirk32 bzw. durch die Atomversuche in der Sowjetunion erzeugt worden ist. Diese Dinge liegen bedeutend näher, als die Atombombenexperimente im Pazifik.«

Ein Büroangestellter aus dem Sägewerk Nestler in Lauenhain, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, verbreitete das Gerücht, dass unsere Regierung aufgrund der Hochwasserkatastrophe die Brotmarken wieder einführen würde.

In Einzelfällen werden negative Stimmen bekannt, die zum Ausdruck bringen, dass unsere Presse die Hochwasserkatastrophe in Westdeutschland hervorhebe, wogegen es doch in der DDR »genauso schlimm« ist. So sprechen beispielsweise im VEB Fewa Colditz,33 [Bezirk] Leipzig, einige Arbeiter darüber, dass die Berichte in unserer Presse über die Hochwasserkatastrophe in Westdeutschland besonders hervorgehoben wurden, wogegen die Katastrophe in der DDR als nicht so schlimm hingestellt wurde. Die Presse sollte doch die Wahrheit schreiben, dass es bei uns genauso schlimm gewesen ist.

Die Verbundenheit mit den vom Hochwasser geschädigten Bevölkerungsschichten kommt in den zahlreichen Solidaritätsaktionen zum Ausdruck, die die Einheit der Bevölkerung der DDR beweisen. Diese Solidarität vergrößert sich täglich. In zahlreichen Fällen kam es zu Geldspenden und zum großen Teil verpflichteten sich die Arbeiter, Angestellten und Angehörige der Intelligenz, Prozente ihres Gehaltes bzw. Lohnes für die Geschädigten zu spenden. Alle Belegschaftsangehörigen im LEW,34 [Bezirk] Potsdam, arbeiten am 17.7.[1954] wie an anderen Wochentagen35 und stellen den Erlös für die Hochwassergeschädigten zur Verfügung.

Im Groß-Generatorenbau der LEW fahren alle Brigaden eine Sonderschicht, wobei Beträge von 20,00 DM und mehr pro Person gespendet werden. Im BKW Neumark, [Bezirk] Halle, übernahm die Belegschaft die Verpflichtung, vom 12.7. bis 20.7.1954 3 000 t Siebkohle über den Plan zu produzieren. Weiterhin haben sie einen Aufruf an alle Braunkohlenwerke erlassen, diesem Beispiel zu folgen. Bis zum 16.7.1954 wurden bereits schon 2 000 t realisiert. Außerdem wurden noch zusätzlich 70 t Brikett pro Tag produziert.

Auf der Großbaustelle »Bau der Jugend« in Trattendorf,36 [Bezirk] Cottbus, verpflichteten sich drei Jugendbrigaden, Sonderschichten von je acht Stunden zu fahren und den Erlös den Hochwassergeschädigten zu übermitteln. An alle Jugendbrigaden der DDR richteten sie den Ruf, ihrem Beispiel zu folgen.

Die VdgB im Kreis Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, sammelte bis jetzt 2 218 DM und verschiedene andere Sachspenden, wie Futtermittel, Kartoffeln, Milch usw.37

Entstandener Schaden: Das Ausmaß der Unwetterkatastrophe kann noch nicht in vollem Umfange angegeben werden, da aus den Bezirken lediglich Teilmeldungen vorliegen.

Bezirk Halle: Die Größe der Überschwemmungsfläche beträgt insgesamt 2 400 ha.

Bezirk Karl-Marx-Stadt: Im Kreis Schwarzenberg 43 ha Wiesen, 2 ha Getreide und 1 ha Kartoffeln überschwemmt.

Anlage 2 vom 15. Juli 1954 zum Informationsdienst Nr. 2262

Auswertung der Westsender und Zeitungen

Volkswahlen

Der Sender »Freies Berlin« verbreitet eine Meldung über das Wahlgesetz. Danach habe Volkskammerpräsident Dr. Dieckmann38 vor Mitgliedern der LDP erklärt, dass das Wahlgesetz erst im August vorgelegt wird und dass für die Wahl nur eine Kandidatenliste aufgestellt würde.39 In der Volkskammer solle es dann auch keine Fraktionen mehr geben.

Arbeit der demokratischen Presse

Unsere demokratische Presse wird beschuldigt, dass sie aus den Leiden Zehntausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder politisches Kapital schlage. Dabei werden besonders Feststellungen unserer Presse über den Talsperrenbau im Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe und die Fragen nach der Ursache der Unwetterkatastrophe angegriffen.

Zur Ursache der starken Regenfälle heißt es: »Niemand weiß heute, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Atomexplosionen und Wetterkatastrophen besteht. Nur lange, sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen werden das beweisen können.«

Verargt wird auch die Beachtung der Hilfsleistung durch die sowjetischen Truppen.

Privatindustrie in der DDR

In langen Ausführungen wird die Lage der Privatindustrie in der DDR in den schwärzesten Farben geschildert. Die Unternehmer wären aufgrund der Tarife u. a. Gesetze gezwungen, ihren Arbeitern höhere Löhne (z. B. bei Akkord), Überstundenzuschläge, Weihnachtsgratifikationen usw. aus der »eigenen Tasche« zu bezahlen, d. h. von ihrem Nettoeinkommen.

Erwähnt werden weiterhin die angeblichen Erhöhungen der Einkommenssteuer und die Festsetzung des Vorranges der Finanzamtforderungen im März 1953. Auch die teilweise Aufhebung dieser Verordnung im Juli 1953 habe keine Veränderung gebracht.40

Mit dem Anführen weiterer Beispiele in der verwirrendsten Darstellung soll bewiesen werden, dass es der Privatindustrie in der DDR mehr als schlecht geht. Zum Schluss heißt es, dass nur den Industriezweigen geholfen wird, »auf die man im Augenblick nicht verzichten kann«.

Arbeit der Staatsorgane

Den Prozess gegen die Schädlingsgruppe in Frankfurt/Oder41 benutzt der RIAS zur Hetze gegen das SfS. Es wird behauptet, dass Schuldige gesucht worden wären für Mängel in der Landwirtschaft und besonders in der Viehzucht. Das soll auch durch die heuchlerische Frage bewiesen werden, wieso man erst jetzt von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfahren hätte. Die Sendung schließt mit der Behauptung, dass das SfS diese Verbrecher für seine Arbeit benutzt hätte und jetzt fallen ließ.

In den Westzeitungen und den Sendungen der westlichen Rundfunkstationen werden Meldungen über zahlreiche Entlassungen aus Strafvollzugsanstalten der DDR dazu benutzt, neue Gräuelmärchen über den Strafvollzug zu berichten. Hauptsächlich werden erwähnt »schwere Arbeit, schlechtes Essen und viele Tbc-Kranke«.

RIAS berichtet über zahlreiche Entlassungen von Abteilungsleitern innerhalb der Ministerien der DDR aufgrund einer »Anordnung des Ministeriums des Innern«. Als Beispiel wird das Ministerium für Aufbau mit »Entlassungen« erwähnt.

Sender »Freies Berlin« versucht die Bevölkerung durch die Meldung über neue »Festnahmen von Arbeitern …, die gegen die Wettbewerbe gesprochen hätten«, zu beunruhigen.

In der Reichsbahn soll laut Mitteilung des RIAS »eine große Säuberungsaktion« stattfinden. Sie sei bereits im Frühjahr 1953 von Funktionären des SfS festgelegt worden und käme jetzt zur Durchführung.

Zur weiteren Verleumdung des SfS heißt es, dass das »Fahrpersonal durch Vertrauensleute« provoziert würde, um ihre [sic!] politische Einstellung zu überprüfen. Die Eisenbahner werden deshalb aufgefordert, »größte Zurückhaltung« zu üben und sich möglichst an keiner Diskussion zu beteiligen.

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