Proteste im LEW Hennigsdorf (1)
2. Juni 1961
Einzel-Information Nr. 272/61 über Provokationen in Hennigsdorf/Bezirk Potsdam
Am 1.6.1961, gegen 14.00 Uhr, wurde in der Abteilung »Technische Vorbereitung und Kontrolle« des LEW Hennigsdorf, Kreis Oranienburg eine Unterschriftenstammlung für eine provokatorische Resolution zu Versorgungsfragen1 durchgeführt.2
Die Resolution hatte folgenden Wortlaut:
Betr.: Fragen zur Versorgungslage in der DDR
Mit großer Besorgnis beobachten wir die Wiedereinführung der Rationierung von Butter (Abgabe eines achtel Kilogramms nach Kundenliste pro Familie) und die mangelhafte Versorgung mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Brot, Obst, Gemüse sowie Fleisch und Wurstwaren.
Wir fordern:
- 1.
sofortige Beseitigung dieses anormalen Zustandes,
- 2.
eine konkrete Stellungnahme zur Entstehung der Missstände – u. E. durch die übereilte Kollektivierung der Landwirtschaft hervorgerufen,
- 3.
die Absetzung der für die Missstände Verantwortlichen.
Soll das der Lohn für unsere jahrelange intensive Mitarbeit am Aufbau der Volkswirtschaft der DDR sein?
Diese provokatorische Resolution wurde von dem Ingenieur Newrzella, Helmut, geboren am [Tag, Monat] 1934 in Hennigsdorf, wohnhaft in Hennigsdorf, [Straße, Nr.] angefertigt, der auch die Unterschriften dafür sammelte. Zum Zeitpunkt des Einziehens der Resolution hatten 30 Personen (ingenieurtechnisches Personal und Arbeiter) unterzeichnet. Genaue Angaben über die Unterzeichner der Resolution sind zurzeit nicht möglich, weil das Originalschreiben auf Anweisung des 1. Sekretärs im LEW, Genosse Steinbach, vernichtet wurde, ohne die 30 Unterschriften festzuhalten. In einer Aussprache zwischen der Parteileitung des LEW und Newrzella erklärte er, dass er sich das Ziel gestellt hatte, bis zum 2.6.1961 vormittags 300 Unterschriften zu sammeln. N. trat in dieser Aussprache sehr provokatorisch auf und sah das Schädliche seines Verhaltens nicht ein.
Vom MfS wurden die notwendigen Maßnahmen zur konspirativen Aufklärung dieser Person eingeleitet, besonders um festzustellen, inwieweit die von N. ausgehende Provokation unmittelbar auf den Gegner zurückzuführen ist.
Am 2.6.1961, in der Zeit von 6.00–7.00 Uhr, wurden an verschiedenen Stellen in Hennigsdorf selbst angefertigte Hetzflugblätter festgestellt, die ebenfalls Versorgungsfragen zum Inhalt haben. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Exemplare:
1. Bekanntmachung
Statt Butter bieten wir folgende Nervenberuhigungsmittel an: Spirituosen jeder Art (vor allen Dingen Wodka) Süßtafeln und Vitalade. (in der Größe 17 × 21 cm an der HO-Verkaufsstelle vor dem Werktor des Stahl- und Walzwerkes Hennigsdorf angebracht)
2. Achtung! Achtung!
Ab heute, Freitag, den 2.6.1961, 10.00 Uhr, in Pfeiffers Keller: Tomaten, Apfelsinen, Bananen, Blumenkohl (sehr billig) u. a. Gemüse. (in der Größe 17 × 21 cm beim Gemüsehändler Pfeiffer in Hennigsdorf, [Straße, Nr.], angebracht)
3. Bekanntmachung
Ab Freitag, den 2.6.1961 bitten wir alle unsere Kunden, sich bei uns zwecks Brotzuteilung eintragen zu lassen. Satz pro Woche 1,5 kg je Person. Kinder die Hälfte. (in der Größe 12 × 21 cm an einem Baum in der Nähe der Konsumbäckerei Waldstraße befestigt)
4. Bekanntmachung
Alle Bürger werden gebeten, sich ihre Lebensmittelkarten am 3.6.1961, 10.00 Uhr, im Rathaus der Gemeinde abzuholen. (ebenfalls in der Waldstraße in der Größe 12 × 21 cm an einem Baum befestigt). Die Hetzblätter lassen erkennen, dass es sich immer um den gleichen Schreiber handelt.
Am 2.6.1961 wurden gegen 7.10 Uhr nach Beginn der Normalschicht in der Abteilung Elektrowerkstatt des Stahl- und Walzwerkes Hennigsdorf fünf Hetzzettel mit Inhalt: »Weg mit dem Stacheldraht« und »Weg mit allen Kriegsmaterialien« auf den Werkbänken gefunden. Bei den Hetzzetteln handelt es sich ebenfalls um selbstangefertigte, die mit handelsüblichen Druckkästen auf liniertem Schreibpapier hergestellt wurden und mit »FDUAP« unterzeichnet sind.
Von ca. 30 Bauarbeitern, die an AWG-Bauten in Hennigsdorf tätig sind, wurden ebenfalls am 2.6.1961 bei Arbeitsbeginn negative Diskussionen, in einem Fall in Reim-Form (»Das Vieh hat kein Futter, und wir haben keine Butter«), über die Versorgungslage geführt. Dadurch kam es zu einer Verzögerung bei der Arbeitsaufnahme der zur VEB Bau-Union Potsdam gehörenden Arbeiter.
Vom MfS Berlin wurde in Verbindung mit unserer Bezirksverwaltung Potsdam zur Aufklärung der Urheber dieser Provokationen eine Brigade eingesetzt, die ihre Tätigkeit in enger Koordinierung mit der Partei durchführt. Weiterhin ist vorgesehen, dass über die derzeitige Versorgungslage offene Aussprachen mit den Arbeitern geführt werden. Vom MfS wurden Maßnahmen eingeleitet, um die Stimmung der übrigen Bevölkerung, besonders ihre Reaktion auf diese Provokationen, in Erfahrung zu bringen und sie sofort in den Aussprachen mit auszuwerten.
Gleichfalls wird die Versorgungslage, die tatsächlich nicht in Ordnung ist, von einem verantwortlichen Mitarbeiter des MfS mit untersucht.