14. Bericht zum Verlauf der Passierscheinerteilung
6. Januar 1964
14. Bericht Nr. 15/64 über den Verlauf der Maßnahmen zur Passierscheinerteilung und über die Einreise Westberliner Bürger in das demokratische Berlin
Nachdem am 4.1.1964 die letzten Passierscheine1 in Westberlin ausgegeben wurden und nach Abschluss der Einreisen Westberliner Bürger in die Hauptstadt der DDR ergibt sich folgende Bilanz:
Insgesamt wurde die Einreise ins demokratische Berlin für 1 318 519 Personen genehmigt, von denen 1 242 810 Personen (das sind 94,3 %) einreisten. Davon reisten allein am 4. und 5.1.1964: 520 473 Personen (= 42 % aller auf Passierschein eingereisten Westberliner Bürger) mit 50 392 Kfz ein.
Am 4.1.1964 reisten – (in Klammern die aufgrund der genehmigten Passierscheine zu erwartenden Personen und Kfz) – 237 423 (248 595) Personen mit 23 391 (29 809) Kfz und am 5.1.1964 203 030 (288 896) Personen mit 27 001 (36 412) Kfz in die Hauptstadt der DDR ein.
Die höchste Einreisezahl mit 43 500 am 4.1.1964 und mit 47 700 am 5.1.1964 lag in der Zeit von 11.00 bis 12.00 Uhr. Die Schwerpunktzeiten der Ausreise lagen zwar auch noch in der Zeit zwischen 22.00 Uhr und 24.00 Uhr, doch reiste im Vergleich zu den Vortagen eine beträchtliche Anzahl Westberliner Bürger bereits vor diesen Schwerpunktzeiten aus. Z. B. hatten am 4.1.1964 um 22.00 Uhr 22,1 % der Personen und 27,9 % der Kfz und am 5.1.1964 bereits 33,7 % der Personen und 43,7 % der Kfz die KPP in Richtung Westberlin passiert. An beiden Tagen war die Ausreise im Wesentlichen an allen KPP zwischen 0.40 und 2.20 Uhr abgeschlossen.
Trotz der bisher größten Besucherzahl verlief die Ein- und Ausreise ohne wesentliche Störungen. Aufgrund der zu erwartenden hohen Zahl erfolgte ein verstärkter Einsatz von Kontroll- und Sicherungskräften und wurden auch organisatorische Veränderungen der Kontrollen vorbereitet. Z. B. konnte durch Erweiterung der Vorkontrollen im Bahnhof Friedrichstraße und zweckmäßige Festlegung der zu benutzenden Zu- und Ausgänge der sehr hohe Reisestrom reibungslos abgewickelt werden. Auch an den anderen KPP war die ordnungsgemäße Kontrolle und Abfertigung gewährleistet und verlief bei den zu Fuß passierenden Westberliner Bürgern ohne nennenswerte Wartezeiten.
Wie der Vergleich der zu erwartenden Pkw (66 221) mit den tatsächlich benutzen Pkw (50 391) ausweist, hat es ein beträchtlicher Teil der Westberliner Bürger vorgezogen, auf eine Einreise mit Pkw zu verzichten, offensichtlich um den bei der hohen Zahl von Kfz unvermeidlichen Warte- bzw. Anfahrtzeiten aus dem Wege zu gehen. Bei der Abfertigung der mit Pkw passierenden Westberliner Bürger kam es aufgrund der bisher höchsten Zahl zu Stauungen beim Anfahren der KPP. Dies trat sowohl auf der Westberliner Seite bei der Einreise, als auch bei der Ausreise im Gebiet des demokratischen Berlins in Erscheinung. Die Anfahrzeit lag dabei in den Schwerpunktzeiten zwischen 40 und 90 Minuten auf dem Gebiet der DDR und – nach eigenen Angaben Westberliner Bürger – bis zu 120 Minuten auf Westberliner Gebiet. Dadurch kam es, dass sich zeitweise Fahrzeugkolonnen in mehreren Reihen nebeneinander von KPP Sonnenallee bis Rathaus Treptow und vom KPP Chausseestraße bis Rosenthaler Platz bildeten.
Zu einem besonderen Vorkommnis kam es vor dem KPP Oberbaumbrücke. Dort durchbrachen in den späten Abendstunden des 4.1.1964 die zur Ausreise anstehenden Westberliner für kurze Zeit die Sicherungskette der VP in der Warschauer Straße. Die Kontrolle selbst war jedoch am KPP gewährleistet. Diese Situation wurde durch den Reporter der »American Broadcasting Corporation«2 [Name 1, Vorname] (Engländer) gefilmt. Mit [Name 1] wurde eine Aussprache geführt und das Filmmaterial sichergestellt.
Im Zusammenhang mit dem Aufenthalt auf Passierschein im demokratischen Berlin versuchten in den letzten Tagen Westberliner Bürger in verstärktem Maße in die nicht zum Stadtgebiet gehörenden Randbezirke Berlins einzureisen. Z. B. wurden am 4.1.1964 insgesamt 110 Westberliner Bürger an den KPP bzw. in den Kreisen der Randgebiete (Bezirk Potsdam und Frankfurt/O.) gestellt und zurückgewiesen, davon allein 74 an der KPP des Kreises Fürstenwalde. Schwerpunkt war der KPP Gosen, wo 64 Westberliner Bürger zurückgeschickt wurden.
Fünf Westberliner Einwohner verunglückten bzw. erkrankten während ihres Aufenthaltes in der Hauptstadt Berlin. Drei von ihnen wurden nach ambulanter Behandlung über die KPP nach Westberlin zurückgeführt, während bei den verbleibenden beiden Bürgern durch Transportunfähigkeit eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung erforderlich wurde.
Am 4. und 5.1.1964 wurden an den KPP insgesamt 22 DDR-Bürger, von denen drei je ein Kind mit sich führten, wegen des Versuchs, illegal nach Westberlin zu gelangen, festgenommen. Neben der bereits bekannten Methode, sich unbemerkt mit dem Ausreiseverkehr über den KPP zu begeben, wurde von ihnen in zehn Fällen versucht, mittels falscher Passierscheine die DDR illegal zu verlassen. Außerdem wurden zwei Westberliner Bürger wegen Schleusungsversuchen festgenommen und zwei weitere Westberliner Bürger vorläufig festgenommen, weil sie Veränderungen auf ihrem Passierschein vorgenommen hatten. (In allen Fällen werden die entsprechenden Untersuchungen vom MfS geführt.)
Zum Ablauf der Passierscheinausgabe am 4.1.1964
Die Passierscheinstellen der DDR in Westberlin haben am 4.1.1964 zwischen 9.30 Uhr und 9.50 Uhr geöffnet und pünktlich gegen 15.00 Uhr geschlossen. Trotz weiterer Reduzierung der Anzahl der Postangestellten der DDR3 war in allen Passierscheinstellen ein normaler Ablauf der Ausgabe der Passierscheine gewährleistet. Die Mitarbeiter zeigten eine hohe Einsatzbereitschaft und gute Arbeitsdisziplin. Besondere Vorkommnisse sind nicht aufgetreten. Auch bei der Ablehnung von Anträgen Westberliner Bürger, die in die nicht mehr zum Stadtgebiet gehörenden Randgebiete von Berlin einzureisen beabsichtigten, kam es zu keinerlei offenen negativen Äußerungen. Wiederholt brachten in diesem Zusammenhang die betreffenden Personen ihre Empörung über die desinformierenden Mitteilungen der Westberliner Presse (z. B. »Morgenpost«) zum Ausdruck, die entgegen den Vereinbarungen zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat über solche angeblichen Möglichkeiten zum Besuch der Randgebiete berichtet hatten. Sämtliche bis 15.00 Uhr auf den Passierscheinstellen erschienenen Westberliner Bürger haben ihre Passierscheine erhalten. In einem Falle wurde einer zu spät kommenden Frau der Passierschein noch kurz vor Abfahrt der Postangestellten – durch nochmaliges Öffnen des bereits verladenen Kastens – ausgehändigt.
Auf der Passierscheinstelle Kreuzberg trat der Verantwortliche der Westberliner Polizei, Oberkommissar [Name 2], an den Leiter der Passierscheinstelle mit der Bitte heran, für den Polizisten [Name 3, Vorname], der seiner Gruppe angehörte, noch einen Antrag entgegenzunehmen und einen Passierschein auszustellen, da dessen in der Hauptstadt der DDR wohnhafte Mutter verstorben sei. Da auch keine weiteren Angehörigen vorhanden wären, die die Beisetzung organisieren könnten, wurde um eine Ausnahmegenehmigung gebeten. Nach Überprüfung dieser Angaben wurde noch am 4.1.1964 für [Name 3] und dessen Ehefrau ein Passierschein genehmigt und ihm persönlich übergeben.
In Einzelfällen trat am 4.1.1964 wiederum in Erscheinung, dass bei der Ausgabe der Passierscheine sogenannte Testfragen gestellt wurden, ob denn die Postangestellten der DDR tatsächlich von der Post seien. Sämtliche derartigen Versuche, dadurch nähere Angaben über die Mitarbeiter der Passierscheinstellen zu erhalten, schlugen fehl.
In der Passierscheinstelle Schöneberg wurde ein Postangestellter der DDR von zwei weiblichen Personen, die Passierscheine abholten, angesprochen, ob er und die anderen Mitarbeiter nicht in Westberlin bleiben wollten. Aufgrund der strikten Zurückweisung dieses Abwerbungsversuches zogen sich diese Personen sofort zurück und verließen die Passierscheinstelle.
Bei der Überbringung von zwei Passierscheinen an andere Passierscheinstellen unternahmen die den Postangestellten der DDR begleitenden Westberliner Kriminalpolizisten den Versuch, den Mitarbeiter zu überreden, die entsprechenden Personen unmittelbar in ihren Wohnungen in Westberlin aufzusuchen. Dieses Ansinnen wurde ebenfalls abgelehnt.
In einer Reihe von Passierscheinstellen – z. B. Schöneberg, Tempelhof, Zehlendorf – wurden durch westliche Fernseh- und Pressereporter am 4.1.1964 Film- bzw. Fotoaufnahmen von der Ausgabe der Passierscheine gemacht, offensichtlich mit dem Ziel, möglichst viele Aufnahmen von den Postangestellten der DDR zu erhalten. Der Protest des Leiters der Passierscheinstelle Zehlendorf z. B. wurde von dem Verantwortlichen der Westberliner Kriminalpolizei damit abgetan, dass er die Genehmigung zu den Aufnahmen erteilt habe. In der Passierscheinstelle Neukölln tätigte der Chef der Kriminalpolizei von Neukölln [Name 4] wiederholt Filmaufnahmen von den Postangestellten der DDR.
Allgemein ist einzuschätzen, dass es in dem Verhalten der Westberliner Sicherungs- und Hilfskräfte, die am 4.1.1964 teilweise reduziert worden waren, gegenüber den Vortagen keine Veränderungen gegeben hat.
Vor Abschluss der Aktion wurden am 4.1.1964 in den Passierscheinstellen Neukölln, Tempelhof und Tiergarten von Westberliner Bürgern den Postangestellten der DDR Blumensträuße und Dankschreiben übergeben. In der Passierscheinstelle Neukölln versuchten die Westberliner Sicherungskräfte zwei Westberliner Bürger am Betreten der Passierscheinstelle zu hindern, als diese dem Leiter der Passierscheinstelle ein Dankschreiben von 32 Neuköllner Bürgern zu übergeben beabsichtigten. Aufgrund des energischen Auftretens fand die Übergabe trotzdem statt. In einer anschließenden Beratung der Westberliner Einsatzkräfte wurde zur Unterbindung derartiger Sympathieerklärungen festgelegt, nur noch solche Personen in die Passierscheinstelle einzulassen, die im Besitz von Kontrollabschnitten zur Abholung von Passierscheinen sind.
Zum Zeitpunkt der Schließung der Passierscheinstellen in Westberlin am 4.1.1964 erfolgte in allen Passierscheinstellen eine Verabschiedung der Postangestellten der DDR, die teilweise von Beauftragten des Senats (Reinickendorf und Kreuzberg), durch Bezirksbürgermeister (Steglitz und Wedding) bzw. in den anderen Passierscheinstellen durch die Leiter der Westberliner Postämter, der Kriminalpolizei oder der Westberliner Einsatzgruppen durchgeführt wurde. Oft wurde dabei in kurzen Erklärungen den Postangestellten der DDR der Dank für ihre Tätigkeit ausgesprochen. In Wedding wurde die Verabschiedung von Bezirksbürgermeister Mattis4 vorgenommen und vom SFB gefilmt. Mattis versuchte dabei den Einsatzleiter der DDR mit der Erklärung zu provozieren, dass es nicht nötig wäre, derartige Passierscheine auszugeben. Außerdem versuchte er genaue Zahlenangaben über den insgesamt abgefertigten Anteil der Bevölkerung des Wedding zu erlangen.
Die Tatsache, dass diese »offizielle« Verabschiedung – wenn auch in unterschiedlicher Form – in allen Passierscheinstellen erfolgte, weist auf eine entsprechende zentrale Weisung hin.