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Reaktion der Bevölkerung auf Maßnahmen der Warschauer Paktes (1.)

22. August 1968
1. Einzelinformation Nr. 885/68 über die Reaktion der Bevölkerung auf die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten

Die von der Sowjetunion und den anderen Warschauer Vertragsstaaten zur Sicherung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der ČSSR eingeleiteten Maßnahmen1 lösten nach ihrem Bekanntwerden unter allen Teilen der Bevölkerung der DDR lebhaftes Interesse aus, das sich u. a. ausdrückt

  • in einem starken Informationsbedürfnis über die weitere Entwicklung sowohl in der ČSSR als auch im internationalen Rahmen nach Einleitung der Maßnahmen,

  • in zunehmendem Umfang der Diskussionen und Gespräche, die von diesen Problemen beherrscht werden und

  • einerseits in Genugtuung über die eingeleiteten Maßnahmen und andererseits in der großen Sorge um die schnelle Klärung der Situation in der ČSSR und um die Erhaltung des Friedens.

Der größte Teil der Bürger der verschiedenen Schichten der Bevölkerung der DDR begrüßt und unterstützt diese Maßnahmen als notwendigen Beitrag zur Gewährleistung der Unantastbarkeit2 der Grundlagen des Sozialismus in der ČSSR und der anderen sozialistischen Länder und bringt dies in mündlichen und schriftlichen Zustimmungserklärungen zum Ausdruck. Die meisten Bürger erkennen richtig die historische Tragweite dieser Maßnahmen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Weltimperialismus. Vielfach werden daher die Zustimmungserklärungen mit Verpflichtungen zur Stärkung der DDR, zu höherer Wachsamkeit und Einsatzbereitschaft verbunden.

Nach den einmütigen Beschlüssen von Bratislava3 und den Erklärungen von Karlovy Vary,4 die eine konsequentere Politik in der ČSSR erwarten ließen, war der größte Teil der Bevölkerung der DDR von den neuen Maßnahmen überrascht. Dennoch wurden sie mit Befriedigung, Aufgeschlossenheit und Besonnenheit aufgenommen.

Durch die kurzfristig eingeleitete offensive agitatorische und propagandistische Tätigkeit der Partei- und Massenorganisationen und anderer gesellschaftlicher Kräfte wurden vor allem die Werktätigen in den Betrieben und Institutionen schnell informiert und mit den Zusammenhängen vertraut gemacht.

Ihren Widerhall finden die Maßnahmen in solchen Argumenten wie

  • es war notwendig, mit den konterrevolutionären Kräften und ihren Absichten Schluss zu machen,

  • die Verurteilung der Verräterrolle Dubčeks,5 die schon auf der Pressekonferenz in Karlovy Vary sichtbar wurde, die auch die Richtigkeit der Feststellungen in der Erklärung des ZK der SED bestätigt,

  • die Maßnahmen kommen zum richtigen Zeitpunkt und werden ein größeres Blutvergießen wie in Ungarn 19566 verhindern,

  • Hoffnung auf schnelle und wirksame Klärung der Situation in der ČSSR,

  • die Erwartung, dass die progressiven Kräfte bald an die Öffentlichkeit treten werden,

  • die Notwendigkeit der klassenmäßigen Erziehung,

  • die Maßnahmen sind die richtige Antwort auf die Revanchistentreffen und das Manöver »Schwarzer Löwe«.7

Gleichzeitig werden jedoch vorwiegend von Frauen Befürchtungen geäußert, dass sich durch mögliche Reaktionen der Westmächte bewaffnete Konflikte ergeben könnten, in die die DDR einbezogen würde. Besorgnis wird von solchen Eltern und Angehörigen geäußert, deren Kinder oder Verwandte sich gegenwärtig im Urlaub in der ČSSR aufhalten.

Die durch die Situation notwendig gewordenen Absagen von Touristen- und Transitreisen in bzw. durch die ČSSR werden trotz der für die Betreffenden entstehenden Nachteile verständnisvoll aufgenommen und akzeptiert.

Während der politisch-aufgeklärte und interessierte Teil der Bevölkerung die neuen Maßnahmen begreift, treten bei politisch wenig interessierten Bürgern und solchen, die unter starkem Einfluss der westlichen Rundfunk- und Fernsehsender stehen, Unklarheiten und Fragen auf. So u. a.

  • Die Tschechen sollen allein entscheiden, welche Staatsführung oder -ordnung sie haben wollen.

  • Warum wurde in der ČSSR kein Volksentscheid darüber durchgeführt?

  • Warum hat man nicht schon zu Novotný8-Zeiten eingegriffen, um die Fehler zu vermeiden?

  • Wurde die Lage in der ČSSR nicht überspitzt eingeschätzt; war der Einmarsch notwendig oder hätten nicht andere Mittel und Wege genügt?

  • Welche Personen haben die Hilfe angefordert, in welchem Maße sind sie legitimiert und warum treten sie nicht öffentlich auf?

  • Welche Haltung nimmt die ČSSR-Bevölkerung, die Armee und nehmen führende Persönlichkeiten in der ČSSR zu den Maßnahmen ein? Gibt es noch progressive Kräfte und kann man ihnen vertrauen?

  • Weshalb wurde Rumänien9 nicht einbezogen und welche Haltung wird dieser Staat aufgrund des mit der ČSSR abgeschlossenen Freundschafts- und Beistandspaktes einnehmen?

  • Musste sich die DDR in diese Angelegenheit einmischen, hätte man das nicht der SU überlassen können?

  • Befürchtungen, dass diese Maßnahmen zu einem erheblichen Prestigeverlust bei den progressiven Kräften der nichtsozialistischen Länder führen können und dadurch zum Abbruch bestehender Verbindungen und zur Beeinträchtigung der Friedensbewegung.

Von einer ganzen Reihe von Frauen wird Besorgnis hinsichtlich ihrer in der NVA diensttuenden Ehegatten, Söhne und sonstigen Verwandten ausgesprochen, wobei ältere Bürgerinnen Parallelen zu ihren im 2. Weltkrieg gefallenen Verwandten ziehen.

Reservisten rechnen mit ihrer kurzfristigen Einberufung, da eine verstärkte Sicherung der Staatsgrenze zu erwarten sei.

Einzelne Bürger äußerten sich dahingehend,

  • dass die Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien im November 196810 in Moskau nicht zustande kommt und weiterer Zerfall der Einheit dieser Parteien erfolge,

  • dass die beabsichtigten Gespräche und Verhandlungen zwischen dem Bonner Wirtschaftsminister Schiller11 und Minister Sölle12 durch die Maßnahmen scheitern können,

  • dass sich reaktionäre Kräfte in der DDR an Westdeutschland, die NATO oder die UNO um Hilfe wenden könnten, was die Lage durch militärische Gegenmaßnahmen erheblich komplizieren würde.

In verschiedenen Bezirken sind vereinzelt Angsteinkäufe nicht verderblicher Lebensmittel festgestellt worden. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Handelstätigkeit erfolgte bisher nicht.

Wie bei früheren Ereignissen wird auch im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten die Informationstätigkeit der DDR-Publikationsorgane bemängelt, wodurch man gezwungen sei, Westsender zu empfangen.

Dieser verstärkte Empfang der Westsender spiegelt sich vor allem in der Gerüchteverbreitung über die Lage in der ČSSR und in den negativ-feindlichen Argumenten wider, die vor allem von bereits bekannten negativen Personen aus den Reihen der wissenschaftlichen, technischen und medizinischen Intelligenz sowie von Studenten vertreten werden.

Die Gerüchte beziehen sich vor allem auf angebliche Widerstandshandlungen der tschechoslowakischen Bevölkerung gegen die Sowjetarmee, auf bewaffnete Zusammenstöße und auf den Verbleib führender Politiker der ČSSR.

Die nach anfänglich abwartender Haltung aufgetretenen negativ-feindlichen Argumente beinhalten im Wesentlichen Folgendes:

  • Ablehnung der von den Warschauer Vertragsstaaten eingeleiteten Maßnahmen und deren Gleichsetzung mit der USA-Aggression in Vietnam.

  • Gleichsetzung des Einrückens der verbündeten Streitkräfte mit dem Einmarsch der faschistischen Truppen 1938 in die ČSSR,13 was besonders die NVA kompromittiere, die mit den »alten« Uniformen die ČSSR-Bürger schockieren würde. Außerdem widerspreche der Einmarsch in die ČSSR dem Treueeid.

  • Die Maßnahmen erfolgen nicht im Interesse und auf Verlangen der tschechoslowakischen Bevölkerung und Regierung und stellen daher eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der ČSSR dar.

  • Die Maßnahmen sind ein »Aggressionsakt«, weil die Kräfte, die um Hilfe ersucht haben, nicht genannt werden, offensichtlich fingiert oder nicht legitimiert seien.14

  • Da die Aktionen schon vor den Souveränitätserklärungen in Bratislava und Karlovy Vary vorbereitet gewesen sein müssen, habe man am tschechoslowakischen Vertragspartner hinterhältig gehandelt.

  • Die »Russen« können scheinbar überall bestimmen, was gemacht wird. In China habe es sich die SU aufgrund der Stärke dieses Landes nicht getraut einzurücken.

  • Walter Ulbricht15 kann ja den tschechoslowakischen Staat gleich mit übernehmen.

  • Die (Einmischung) zeigt, dass der Kommunismus Diktatur sei. Das sozialistische Lager würde nur mit Gewalt aufrechterhalten. Die Aktion beweise die mangelhafte Lebenskraft des Sozialismus und Marxismus-Leninismus.

  • Was die Partei (SED) sagt, muss nicht immer richtig sein. Man denke an die Stalin-Ära.

  • Der proletarische Internationalismus ist auf Europa beschränkt. Nach Vietnam würde man keine Panzer schicken.

  • Die »Nichteinmischung« Bonns bedeute die Anerkennung der Souveränität der ČSSR. Andererseits wird das Eingreifen der Westmächte erwartet und erwünscht.

Im Zusammenhang mit den vorstehenden Argumenten versuchen negativ-feindliche Kräfte einen »Widerspruch« zu konstruieren zwischen den Erklärungen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten über gegenseitige Achtung der Souveränität und Nichteinmischung einerseits und ihren Taten andererseits.

Einzelne negative Kräfte versuchen auch, durch demonstratives Verhalten ihre Ablehnung zu zeigen.

So rissen sich z. B. der Schriftsteller Dowidat,16 wohnhaft 102 Berlin, Münzstraße, und seine Ehefrau während ihres Aufenthaltes in Sangerhausen ihre SED-Parteiabzeichen ab, warfen sie auf die Erde und trampelten darauf herum. Die Ehefrau will ihren Parteiaustritt erklären. Beide solidarisieren sich mit den konterrevolutionären Bestrebungen in der ČSSR.

Ein Ingenieur des wissenschaftlich-technischen Zentrums Bautechnische Projektion Berlin gab aus gleichem Grund sein Parteidokument beim Parteisekretär ab.

In einzelnen Betriebskollektiven wie z. B. in der Abteilung Elektromontage des VEB Erste Maschinenfabrik Karl-Marx-Stadt lehnten Teile der Beschäftigten die Unterschrift unter Zustimmungserklärungen ab. Das sind besonders solche Kollektive, wo in der Vergangenheit politisch-ideologisch mangelhaft gearbeitet wurde.

Zwei Pfarrer aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt wollen den CDU-Parteitag in Freiberg demonstrativ verlassen, wenn Sympathieerklärungen für die Maßnahmen abgegeben werden sollten.

Unter den in der DDR arbeitenden bzw. wohnenden ČSSR-Bürgern und unter den ČSSR-Touristen, die sich in der DDR aufhalten, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ein Teil dieser Bürger, der progressiv eingestellt ist, unterstützt und befürwortet – wenn auch mit verschiedenen Bedenken – die Maßnahmen nach entsprechender Aufklärung, da sie der Erhaltung des Sozialismus dienen. Der größte Teil der ČSSR-Bürger verhält sich aufgeschlossen und verständnisvoll zum notwendig gewordenen weiteren Verbleib in der DDR, obwohl sie sich Sorgen um ihre Angehörigen machen.

Andere wiederum, vor allem Jugendliche und Studenten, lehnen das Einrücken der verbündeten Streitkräfte entschieden ab und sprechen sich offen dagegen aus, wobei es nicht selten zu hetzerischen Ausfällen kommt. Diese Personen empfangen meist die Westsender und machen sich deren Argumente zu Eigen.

Arbeitsniederlegungen von ČSSR-Bürgern aus »Protest« gegen die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten wurden bekannt

  • von 19 gastronomischen Facharbeitern im Interhotel Gera, die nicht überzeugt werden konnten und daher in ein Sammellager für ČSSR-Bürger überführt wurden,

  • von 46 Studenten, die zum Arbeitseinsatz im Bezirk Leipzig weilen,

  • von 19 Studenten, die im Schiffbau der Warnowwerft arbeiten.

Auch der Gastdirigent des Leipziger Gewandhausorchesters Václav Neumann17 drohte mit Amtsniederlegung, wenn sich die Situation in der ČSSR zuspitzen würde.

Am Katastrophenübergang Johanngeorgenstadt setzten ca. 40 ČSSR-Bürger und in der Jugendherberge Heringsdorf 60 bis 80 Jugendliche aus »Protest« ČSSR-Fahnen auf Halbmast und solidarisierten sich mit Dubček.

Auf dem Zeltplatz Lobbe/Rügen, wo ca. 40 tschechische Touristen ihren Urlaub verbringen, wurde ein Transparent mit der deutschsprachigen Losung »Hände weg von der ČSSR« angebracht.

Ein tschechischer Arzt bezeichnete auf dem Kontrollpunkt Altefähr/Rügen die Maßnahmen als »Machwerk Ulbrichts«. Er führte ebenfalls ein Transparent mit der Losung »Hände weg von der ČSSR«, »Wir wollen nach Hause. Wir wollen kämpfen« an seinem Pkw mit. (Die Transparente wurden in beiden Fällen entfernt.)

Die ČSSR-Bürger beider Auffassungen sind an schneller Rückkehr in die ČSSR interessiert. Ein großer Teil setzte sich diesbezüglich und wegen Informationen mit der ČSSR-Botschaft in der DDR in Verbindung.

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    22. August 1968
    Einzelinformation Nr. 886/68 über einen Brand in einer Fernmeldezentrale der Deutschen Post am 21. August 1968

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    20. August 1968
    Einzelinformation Nr. 879/68 über ein im VEB Industriewerk Karl-Marx-Stadt sichergestelltes Schreiben an den Staatsratsvorsitzenden Genossen Walter Ulbricht