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Vorstellungen Theodor Eberts über »gewaltfreien Widerstand«

1. Oktober 1968
Information Nr. 1091/68 über Vorstellungen des wissenschaftlichen Mitarbeiters des Westberliner Otto-Suhr-Instituts, Dr. Theodor Ebert, über »gewaltfreien Widerstand, gewaltfreie Aktionen, gewaltfreien Aufstand«

Nachfolgend wird Ihnen ein Konspekt mit den wichtigsten Gesichtspunkten

  • I.

    »Gewaltfreier Aktionen im Widerstandskampf« unter der Voraussetzung einer Besetzung Westdeutschlands durch DDR-Truppen (mit Parallelen zur Lage in der ČSSR)

  • II.

    des Buches »Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg«1 (erschienen 1968 im Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau)

übergeben.

Nach Kenntnisnahme und entsprechender Auswertung bitte ich um Rückgabe dieser Information.

I. Hinweise auf Vorstellungen über gewaltfreie Aktionen im »Widerstandskampf« unter der Voraussetzung einer Besetzung Westdeutschlands durch DDR-Truppen (mit Parallelen zur Lage in der ČSSR)

Mitte September 1967 entwickelte der Assistent am Westberliner Otto-Suhr-Institut, Dr. Theodor Ebert,2 ein »Planspiel eines DDR-Einmarsches in eine waffenlose Bundesrepublik«, in dem er u. a. versuchte, einige Grundregeln für die »Verteidigung« der Bundesrepublik gegen eine Besetzung zu formulieren. Es handelte sich dabei um Vorstellungen über einen sogenannten gewaltfreien Widerstand oder gewaltfreie Aktionen, die er in seinem Buch »Gewaltfreier Aufstand, Alternative zum Bürgerkrieg« (1968 erschienen) weiter präzisierte.

In seinem o. g. »Planspiel« stellte Ebert folgende Regeln für die »Verteidigung« einer völlig abgerüsteten Bundesrepublik, die von einer pazifistischen Regierung geleitet werde, auf:

1. Lasse dich nicht einschüchtern, sondern entschließe dich zur dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration!

Dazu empfiehlt er:

  • Ignorierung der Anordnungen der »Aggressoren«;

  • Missachtung einer etwaigen Ausgangssperre;

  • Aufruf der Bevölkerung zum Widerstand (durch die Kommunikationsmittel);

  • Einstellung von Industrie, Handel, Verwaltung, Schulen, Universitäten auf »Widerstandshandlungen« usw.

Ein »Organisierter Widerstand« würde die Aggressoren vor kaum zu bewältigende Probleme stellen. Dazu sei ein »Widerstandsrat« notwendig. Für besonders wichtige Funktionen müssten Ersatzleute bereitstehen.

2. Lasse dich nicht gegen deine Mitbürger ausspielen, sondern solidarisiere dich mit ihnen!

Dazu empfiehlt er:

  • Die Bevölkerungsgruppen, die die Besatzungsmacht zu ihren Verbündeten rechnet, müssen dazu bewegt werden, sich mit den Gegnern der Besatzungsmacht solidarisch zu erklären oder zumindest nicht ihre innenpolitischen Gegner zu bekämpfen.

  • Die Besatzungsmacht sollte durch solche Solidarisierungsaktionen gezwungen werden, entweder nachzugeben oder mit offener Gewalt gegen diejenigen vorzugehen, in deren Interesse eigentlich die »Aggression« erfolgt ist.

3. Warte nicht die nächste Maßnahme des Gegners ab, sondern suche die Konfrontation durch gegenoffensive direkte Aktionen!

Dazu empfiehlt er: Den »Aggressoren« müsse die Initiative entrissen werden durch

  • Herantragen der eigenen Forderungen an die »Aggressoren« durch Demonstrationen;

  • gewaltfreies Vorgehen gegen Positionen, die die Besatzungsmacht besetzt hält;

  • Eindringen in Rathäuser und Zeitungen;

  • Belagerung von Gefängnissen;

  • Einmarsch Unbewaffneter in die DDR.

Direkte Aktionen könnten den Kampfgeist der Widerstandskämpfer stets neu beleben.

4. Sieh in der Besatzungsmacht keinen geschlossenen Block von Feinden, sondern trage durch Fraternisieren den Widerstand in deren eigene Reihen!

Er empfiehlt dazu:

  • Erläuterung des eigenen Standpunktes gegenüber den Besatzungstruppen;

  • Veranlassung dieser Truppen zur Umgehung oder Missachtung ihrer Befehle;

  • Aufruf zur Meuterei.

Das Schwergewicht des »Widerstandes« verlagere sich von der Weiterarbeit auf die direkte Aktion. Eine große Gegenoffensive der Verteidiger werde mit der Zeit möglich sein. (Drängen auf schnelle Entscheidung):

  • Aufruf zum Generalstreik;

  • Durchführung von Massendemonstrationen;

  • Ankündigung eines Marsches auf Leipzig oder Berlin;

  • Meutereien in der NVA.

Möglich wäre aber auch eine Strategie des hinhaltenden Widerstandes.

5. Strebe nicht die Demütigung oder Bestrafung des Gegners an, sondern lasse ihn das Gesicht wahren und biete ihm eine gesicherte Position!

Er empfiehlt dazu:

  • Anstreben eines Regierungswechsels in der DDR; der zu einer Liberalisierung führt;

  • Volksaufstand in der DDR;

  • Zusicherung von persönlicher Sicherheit, Straffreiheit, Pensionierung und Möglichkeit der Beteiligung am demokratischen Willensbildungsprozess für SED-Spitzenfunktionäre, Einheiten der Armee und Mitarbeiter der Staatssicherheitsorgane.

Am Ende müsste die Wiedervereinigung Deutschlands und die Durchführung »freier Wahlen« stehen.

Nach einem Artikel des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« (Nr. 37 vom 9.9.1968)3 erklärte Ebert unter Hinweis auf die Aktionen konterrevolutionärer und anderer negativer Kräfte in der ČSSR gegen die Anwesenheit der Truppen der Warschauer Vertragsstaaten in der ČSSR, die ČSSR-Bürger hätten sich fast genauso verhalten, wie er es in seinem »Planspiel« entworfen habe. Wörtlich stellte er fest: »Die Tschechen und Slowaken haben sich spontan kaum anders verhalten, als ich ihnen hätte raten können.«4

Sein Verteidigungsmodell sei in der Tat nur zu realisieren in einer »Partizipierenden Demokratie« – ähnlich der in der ČSSR, wo »noch nicht aller Tage Abend« sei. Er glaubt, dass für die ČSSR Folgendes charakteristisch sei: »Hinhaltender gewaltloser Widerstand in den Apparaten, kein Erdrutsch von Kollaboration.«

II. Hinweise auf das Buch »Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg«

Verfasser: Dr. Theodor Ebert, Assistent am Westberliner Otto-Suhr-Institut, sogenannter Politikwissenschaftler. Das Buch erschien 1968 im Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau (408 Seiten).

Zum Inhalt

Ebert versucht, eine »Theorie der gewaltfreien Aktionen« der Massen für den Kampf gegen »Kommunistische Regime, konservative Diktatoren im Westen und feudalistische Herrschaften in der Dritten Welt« zu entwickeln.

Ausgehend von der Feststellung, dass im 20. Jahrhundert zwei Haupttechniken der Massen gegen die jeweils herrschenden Systeme entwickelt worden seien, wie – »der agitatorische Terror mit dem Ziel des revolutionären Guerillakrieges« und – »die gewaltfreie Aktion mit dem Ziel des gewaltfreien Aufstandes«, versucht Ebert, eine »Methodik gewaltfreier Aufstände« zu ermitteln und darzustellen sowie die »Grundzüge gewaltfreier Kampagnen« herauszuarbeiten. Dabei beruft er sich u. a. auf Gandhi,5 nach dessen Darstellung gewaltfreie Kampftechniken ein vollwertiger Ersatz für den bewaffneten Aufstand seien, und erklärt, dass jede Konfliktsituation einer speziell ihr angepassten Kampftechnik bedürfe.

Als »Konfliktsituation« bezeichnet er insbesondere eine solche Lage in einem Staat, da das Volk oder Bevölkerungsgruppen eine Änderung der Machtkonstellation anstreben und einen Aufstand gegen die »Herrschenden« vorbereiten.

Dabei lässt Ebert keinen Zweifel daran, dass es ihm vorrangig um die Darstellung gewaltfreier Aktionen der Völker in den sozialistischen Staaten gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht geht.

Der Verfasser entwickelt drei politische Grundverhaltensweisen der »Beherrschten« bei gewaltfreien Aktionen:

  • 1.

    Die Passivität als typische Verhaltensweise der Masse,

  • 2.

    die institutionengebundene Aktivität (Gruppenbildung zur Ausnutzung aller von den Herrschenden institutionell eröffneten Wege) als typische Verhaltensweise der »Elite« der Beherrschten,

  • 3.

    der Aufstand gegen das Herrschaftssystem. Dabei werde eine Organisation gebildet, um die Machtansprüche (Ablösung der herrschenden Klassen) mit illegalen Kampfmaßnahmen durchzusetzen. Ziel der Aufständischen: Gewinnung der politischen Macht. Dazu sei notwendig: Schaffung eines intensiven Konfliktbewusstseins der Massen, Vorbereitung der Aufständischen auf die Übernahme der den Herrschenden zu entreißenden Positionen.

Im Folgenden entwickelt der Verfasser ein »Modell des gewaltfreien Aufstandes«, wobei er offen die gewaltfreien Aktionen als subversive Aktionen (subversive Widerstandshandlungen) bezeichnet.

Er entwickelt drei Stufen einer Skala des subversiven Widerstandes:

Erste Stufe: Protestaktionen, die sich gegen die Verteilung der Machtpositionen im Staat richten, wie: Dokumentation und Publizierung von Missständen mittels Flugblätter, Broschüren, Ausstellungen, Versammlungen usw.; Protestmärsche, Massendemonstrationen, Autokorsos, Mahnwachen, Sitzproteste, Mobilisierung bisher passiver Bürger; Nachweis, dass das zu erstrebende neue soziale System funktionsfähig ist.

Zweite Stufe: Legale Nichtzusammenarbeit der Massen mit dem System (passiver Widerstand, um das bestehende soziale System am Funktionieren zu hindern oder völlig zu lähmen): Boykott von Veranstaltungen der Herrschenden, von Wahlen, von Regierungsanleihen, Ablehnung von Ämtern, Verzicht auf Ehrentitel, Verbraucherboykott, Hungerstreik, Streik, Langsamarbeiten, Selbsttötung, Auswanderung, Herausgabe neuer Zeitungen und Zeitschriften, Gründung eigener wirtschaftlicher Unternehmungen usw.

Dritte Stufe: (höchste Eskalationsstufe):

  • Ziviler Ungehorsam: Offene und gewaltlose Missachtung von Gesetzen und Anordnungen der Herrschenden durch die Bürger.

  • Reformbedachter ziviler Ungehorsam: Wendet sich nur gegen einzelne Gesetze, nicht gegen das gesamte Herrschaftssystem.

  • Revolutionärer ziviler Ungehorsam: Wendet sich gegen das Herrschaftssystem als Ganzes. Folgende Aktionen: Steuerverweigerungen, Generalstreik, Blockade des gesamten Verkehrs, Aufforderung von Armee und Polizei zur Meuterei, Befehlsverweigerung der Beamten. Das ist eng verbunden mit der gleichzeitig zu erfolgenden zivilen Usurpation. Das bedeutet: Die Aufständischen übernehmen ohne Rücksicht auf die bisher Herrschenden die ihren angestrebten Positionen entsprechenden Rollen, d. h. sie schaffen selbstständig das von ihnen erstrebte Machtsystem, und zwar planmäßig von unten nach oben, beginnend mit der Bildung eigener Selbstverwaltungsorgane und der Steuerzahlung an diese Organe, Bildung eigener Gerichte, Übernahme der Industriebetriebe, Beseitigung der kollektiven Bewirtschaftung des Bodens, Fortsetzung der Tätigkeit der Schulen und Universitäten in eigener Regie. Das habe so zu erfolgen, dass die bisher Herrschenden gezwungen seien, sich anzupassen und ihre Positionen aufzugeben.

Der Verfasser betont in diesem Zusammenhang, der Angriff habe nicht auf breiter Front zu erfolgen, sondern sich auf einen leicht angreifbaren Punkt im Herrschaftssystem zu richten bzw. zu konzentrieren (Ausnutzung sogenannter schwacher Punkte). Das strategische Ziel bestehe darin, die Herrschenden zu Konzessionen zu zwingen, um ihnen sukzessive eine Position nach der anderen zu entreißen.

Dabei hebt er die Bedeutung des Überraschungseffekts hervor, betont aber auch, es wäre für die Aufständischen verhängnisvoll, den Willen der Herrschenden zur Unterdrückung des Aufstandes zu unterschätzen. Ob der Aufstand Erfolg habe, hänge weitgehend davon ab, dass die Kampfmaßnahmen der Aufständischen wirkungsvoller als die Gegenmaßnahmen der Herrschenden sind, was weitere Eskalationen mit sich bringen kann.

Bekämpft werde, so unterstreicht der Verfasser, nicht die Person des Gegners, sondern ihre soziale Rolle und das soziale System, das sie repräsentieren. Dabei soll versucht werden, z. B. einen Widerspruch zwischen der politischen Praxis und politischen Doktrinen der Herrschenden sichtbar zu machen. Der Verfasser beruft sich hier auf den polnischen »Humanisten« Leszek Kołakowski,6 der einmal erklärt hatte, es gebe elementare Situationen, in denen politische Doktrinen ihren Anspruch verlieren würden, Richtlinien für das Handeln (der Herrschenden) abzugeben.

Der Verfasser betont, dass dieser Widerspruch eine besondere Bedeutung bei Kampagnen gegen kommunistische Regime habe. Er erklärt, auf Funktionäre dieser Länder wirke es schockierend, wenn sie z. B. Arbeiter gegen sich auftreten sehen, von denen sie nach ihrem offiziellen Selbstbildnis annahmen, deren Interessen zu vertreten. Er führt dafür zwei Beispiele an:

  • Bruno Leuschner7 soll am 17.6.1953 unter Hinweis auf »demonstrierende Arbeiter« zu seinem Mitarbeiter Schenk8 gesagt haben: »Das sind die Leute, um die wir seit Jahren ringen, von denen wir uns einbilden, dass wir ihre Interessen vertreten. Haben wir denn alles falsch gemacht?«

  • Heinz Brandt9 soll über die Haltung von SED-Funktionären am 17.6.1953 berichtet haben, sie seien wie gelähmt gewesen, als sie sahen, dass sich Arbeiter gegen den Staat erhoben. Sie hätten nicht verstanden, was vor sich ging, da sie die Fiktion für Wirklichkeit genommen hätten.

Im Folgenden betont der Verfasser, dass der gewaltfreie Aufstand sorgfältig vorbereitet werden müsse. Vor allem sei zu vermeiden, dass es zu unüberlegten und spontanen Gewaltakten der Aufständischen kommt, da eine Zügellosigkeit erregter Volksmassen die Gefahr des Chaos in sich berge und zum Gegenteil dessen führen könne, was beabsichtigt ist.

Notwendig sei:

  • das Vorhandensein einer Führungsspitze (Avantgarde) mit möglichst vielen qualifizierten Mitarbeitern;

  • eine umfassende Information von oben nach unten;

  • eine sorgfältige Ausbildung der Aufständischen, d. h. ein militärmäßiges, manöverartiges Durchspielen der Konfliktsituationen und das Einexerzieren der richtigen Verhaltensweise gegenüber den Herrschenden;

  • ein klares Bild über die eigene Kampfkraft, d. h. Zahlenangaben über die Mannschaftsstärke;

  • eine Abgrenzung der Freiwilligen (Kadergruppe) von der Masse der Sympathisierenden.

Die Kadergruppe muss

  • bei den potenziellen Aufständischen das intensive Verlangen nach neuen Positionen wecken,

  • ihnen klarmachen, dass der Aufstand nur mithilfe einer disziplinierten Organisation erfolgreich sein kann,

  • sie überzeugen, dass die Organisierung des gewaltfreien Aufstandes offen zu erfolgen hat, d. h. ohne Heimlichkeiten vor den Herrschenden (damit werde die Furcht vor Gewaltanwendung der Herrschenden überwunden). Eine Untergrundorganisation sei nicht so gut geeignet; eine öffentliche Aufstandsorganisation sei wirkungsvoller. (Trotzdem lässt der Verfasser die Bedeutung der Tätigkeit von Untergrundorganisationen zur Vorbereitung gewaltfreier Widerstandsaktionen gelten, indem er auf einige praktische Erfahrungen im Widerstand gegen »kommunistische Regime« verweist, ohne sie näher zu definieren. Er regt eine nähere Untersuchung der sich daraus ergebenden Möglichkeiten an.)

Spontanen gewaltfreien Aufständen – die Ereignisse am 16./17.6.1953 in der DDR zählt der Verfasser dazu – billigt er gewisse Erfolgsaussichten zu, erklärt aber, dass die Nachteile überwiegen würden. Aus diesen Nachteilen ergäben sich folgende Forderungen an die Vorbereitung eines organisierten gewaltfreien Aufstandes:

  • Der Eröffnung der Kampagne müsse eine Untersuchung der Missstände und ihrer Hintergründe vorausgehen.

  • Die Kräfteverhältnisse müssten abgeschätzt und die Ziele der Kampagne abgesteckt werden.

  • Die öffentliche Meinung müsse über die Ergebnisse der Untersuchung informiert und für die Ziele mobilisiert werden.

Die Basis jedes Aufstandes sei die Dokumentation der tatsächlichen sozialen Beziehungen und die Darstellung des geforderten neuen Systems. Dies müsse in eine der breiten Öffentlichkeit fassliche Form gebracht werden.

Als wichtigstes Mittel der Aufständischen, andere Bürger auf die Kampagne vorzubereiten, wird die Unterschriftensammlung für eine Massenpetition genannt.

Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg eines gewaltfreien Aufstandes sei die Erarbeitung konstruktiver Alternativen zu den herrschenden Verhältnissen (eines konstruktiven Programms). Wenn dieser Nachweis von Alternativen nicht zum Erfolg führt, sollten die Herrschenden mit Drohungen (Ankündigung von Aktionen) beeindruckt werden. Die Kampfesvorbereitungen sollten unmissverständlich deutlich gemacht werden.

Zunächst sei zu versuchen, auf dem Verhandlungswege zum Ziel zu gelangen. Über Druckschriften, Rundfunk, Fernsehen, Beratungen im kleinen Kreis und Massenversammlungen sei das Volk über diese Verhandlungen (Ergebnisse, nächste Schritte) zu unterrichten. Resolutionen sollten angenommen werden. Dann sollten den Herrschenden Ultimaten gestellt werden. Werden sie abgelehnt, müssten die Kampfhandlungen beginnen.

Der Verfasser entwickelt einen Stufenplan von Kampfmaßnahmen im gewaltfreien Aufstand, der vier Möglichkeiten der Steigerung vorsieht, und zwar im Hinblick auf

  • die Zahl der Aufständischen,

  • die räumliche Ausdehnung,

  • die zeitliche Ausdehnung der Aktionen,

  • die Verschärfung der Kampfmaßnahmen.

Wahl des Angriffspunktes: Jene Konfliktstelle des Systems sei herauszugreifen, die symbolisch alle anderen Konflikte zusammenfasst. Dies sei entscheidend.

Intensität und Tempo: Das Vorgehen des Gegners müsse verkraftet werden können. Die letzte Stufe des Aufstandsplanes müsse eine äußerste Steigerung des Einsatzes vorsehen, dem die Maßnahmen der Herrschenden nicht gewachsen sind.

Die Periode des Kampfes benötige einen sogenannten erregenden Auftakt, um die Anteilnahme nichtorganisierter Massen zu gewinnen, z. B.

  • einen begrenzten Generalstreik,

  • eine Provokation seitens der Herrschenden, die man entweder abwartet oder selbst herbeiführt.

Im Folgenden beschreibt der Verfasser bestimmte Formen und Wirkungen ausgewählter Kampfformen

  • a)

    Symbolische Gesinnungsdemonstration:

    Sie wirkt, ebenso wie die Protestdemonstration, subversiv, da sie dem Prestige der Herrschenden abträglich ist, und konstruktiv, da sie das Zusammengehörigkeits- und Machtgefühl der Aufständischen stärkt. Beispiele:

    • Teilnahme an einer Kundgebung oder an einem Umzug,

    • Tragen von Abzeichen oder anderen Symbolen bzw. Gegenständen (Büroklammern und anderes am Rockaufschlag usw.) als Widerstandszeichen,

    • Tragen von Trauerkleidung oder Trauerarmbinden (1956: Schüler des Thomas-Gymnasiums Leipzig trugen nach Ereignissen in Ungarn10 Trauerkleidung),11

    • Bestimmte Grußformen, Hupsignale usw.

  • b)

    Protestdemonstration auf Massenbasis:

    Sie zeigt, wie stark die Gruppe der Aufständischen ist. Sie fordert nur geringe Opfer. Beispiele:

    • Versammlungen, Kundgebungen,

    • Märsche und Umzüge,

    • mehrere Tage währendes Demonstrationsprogramm,

    • Vorformen des Generalstreiks (z. B. »Bleib-zu-Hause-Streik«),

    • Schweigeminuten.

  • c)

    Fastenaktionen:

    Damit könne u. a. indirekt Druck auf den Gegner (über die öffentliche Meinung) ausgeübt werden. Beispiele:

    • Befristete Verweigerung der Nahrungsaufnahme,

    • Unbefristeter Hungerstreik,

    • Zusätzlicher Verzicht auf Flüssigkeitsaufnahme,

    • Sühnefasten.

  • d)

    Legale politische Nichtzusammenarbeit und Obstruktion:

    Dies ist verknüpft mit der Propaganda der eigenen Vorstellungen und Positionsforderungen zur Gewinnung einer breiten Anhängerschaft, mit dem Aufbau einer Organisation disziplinierter Freiwilliger, mit dem Einsatz der Freiwilligen und Anhänger für Aktionen. (Beispiele wurden bereits auf Seite 8 genannt. Bemerkenswert ist der Hinweis des Verfassers, dass die »Massenfluchtbewegung« aus der DDR bis zum 13.8.1961 ein konkreter Ausdruck der Nichtzusammenarbeit in Form offener Massenauswanderung bzw. geheimer Massenflucht gewesen sei.)

  • e)

    Wirtschaftlicher Boykott und Streik:

    Der Zweck bestehe darin, durch wirtschaftlichen Druck politische Ziele zu erreichen. Der Boykott biete den Vorteil völliger Anonymität. Gesetzliche Strafen seien nicht zu befürchten.

  • f)

    Ziviler Ungehorsam:

    Wenn alle anderen gewaltfreien Aktionen die herrschenden Kreise nicht zur Erfüllung der Forderungen der Aufständischen zu zwingen vermögen, verbleibe als letztes Mittel, die Gesetze und Anordnungen zu missachten, und zwar auf zweierlei Art:

    • Missachtung einzelner Gesetze, Einschränkung des Ungehorsams auf bestimmte Gesetze,

    • Ignorierung einzelner, vieler oder sämtlicher Gesetze und Anordnungen, ohne dem Ungehorsam deutliche Grenzen zu setzen.

Diese Form, die das Gesamtsystem blockieren und die Herrschenden zur Anpassung an alternative Verhaltensweisen zwingen soll, könne nur erfolgversprechend von einer Mehrheit angewandt werden.

Der zivile Ungehorsam könne schnell revolutionären Charakter annehmen. Nach Meinung des Verfassers hätten das die Ereignisse am 16./17. Juni 1953 in der DDR gezeigt, als sich in wenigen Stunden aus dem Protest der Bauarbeiter gegen Normerhöhungen die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung und nach »freien Wahlen« entwickelt habe.

Der Verfasser behauptet, der Generalstreik oder politische Massenstreik als Kampfform des zivilen Ungehorsams könne eine besonders starke Wirkung in sozialistischen Staaten haben; die industrielle Produktion sei dort wegen des Planungssystems weitaus empfindlicher für jede Störung als die Produktion in kapitalistischen Ländern. Auch im Scheitern hätten die Streiks 1953 in der DDR eine zukunftsweisende Kraft offenbart.

In Darstellung der weiteren Kampfform: »Meuterei von Polizei und Armee« erklärt der Verfasser, 1956 seien in Ungarn große Teile der Polizei und der Armee auf die Seite der Aufständischen übergegangen. Auch 1953 – in der DDR – habe es solche Beispiele gegeben. Ein ungelöstes Problem sei allerdings noch, wie meuternde Truppen im Rahmen eines gewaltfreien Aufstandes bewegt werden können, ihre Waffen nicht zu gebrauchen, und wie Befehlsverweigerungen auf Massenbasis organisiert werden können.

Der Verfasser betont die Notwendigkeit, bei einem Aufstand neben den Machtorganen der Herrschenden eine Parallelregierung, -verwaltung und -justiz zu schaffen und auch auf regionaler Ebene eigene Instanzen zu bilden. Beispiele: Das »Bitterfelder Streikkomitee« sei 1953 nahe daran gewesen, Funktionen der Exekutive zu übernehmen. 1956 in Ungarn habe es ähnliche Beispiele ziviler Usurpation gegeben.

Zur Taktik des Vorgehens der Aufständischen bemerkt der Verfasser, sie müssten die Herrschenden vor den Zwang der Entscheidung stellen, d. h. in eine Lage bringen, in der sie sich entscheiden müssen: Entweder Aufgabe ihrer Positionen bzw. Arrangement mit den Aufständischen oder Halten der Positionen durch offene Gewaltanwendung. (Diese »klare Alternative« – Konfrontation – habe den Vorteil, dass rasch Entscheidungen herbeigeführt werden.)

Die stärkste Form der Konfrontation sei der Versuch,

  • Mittel der Unterdrückung (z. B. Waffenlager) zu beschlagnahmen,

  • Gebäude, von denen die Herrschaft ausgeübt wird, zu besetzen (Eindringen in Regierungsgebäude, Rundfunkstationen, Öffnen von Gefängnissen usw.).

Diese Okkupationsversuche stellten die stärkste Form der Herausforderung dar. Ein Masseneinsatz von Aufständischen könne die Herrschenden, wenn sie isoliert sind, von brutalen Unterdrückungsaktionen abhalten.

Im Folgenden nimmt der Verfasser zur Dynamik gewaltfreier Kampagnen Stellung.

Das Wesen einer solchen Kampagne bestehe darin, ein kritisches Spannungsverhältnis zu schaffen, das es dem Gegner nicht mehr gestattet, einer Entscheidung auszuweichen. Die Aufstandsbewegung lasse sich in folgende Phasen einteilen:

  • Pionieraktionen,

  • Kaderaktionen,

  • Durchbruchsschlacht,

  • Massenbewegung.

Pionieraktionen:

Darunter versteht der Verfasser die gesamte Problematik der theoretischen und organisatorischen Vorbereitung gewaltfreier Aktionen durch die Initiatoren sowie erste kleinere Aktionen, die als Vorbilder für spätere Aktionen dienen (mit größerer Beteiligung) und den Aufständischen eine gewisse Sicherheit verleihen sollen.

Kaderaktionen:

Darunter versteht der Verfasser Aktionen, in die – im Rahmen der Aufstandsbewegung – neue Personenkreise einbezogen werden. Es wird eine überregionale Organisation gebildet bzw. versucht, spontan entstehende Aktionsgruppen zu vereinigen. Es treten speziell geschulte, ausgewählte Kräfte in Erscheinung. Die Aufstandsbewegung erhält eine wachsende Publizität.

Durchbruchsschlacht:

Darunter versteht der Verfasser das »strategische Problem«, große Massen zum Mitwirken an Aktionen zu bewegen, d. h. Massenaktionen zu ermöglichen. Ein Konfliktgegenstand wird dramatisiert, eine Krise herbeigeführt. Damit gelingt es, Massen (potenzielle Mitkämpfer) voll zu engagieren. Die lokale Durchbruchsschlacht hat überregionale Auswirkungen und führt zu einer Kettenreaktion von Aufstandsinitiativen. Die Herrschenden werden in die Defensive gedrängt.

Massenbewegung:

Darunter versteht der Verfasser eine ständige Steigerung der Zahl der Teilnehmer bzw. der Schärfe des Kampfes, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Spannung nicht abreißt und eine Aktion auf die andere folgt. Der Idealfall wäre ein rascher Sieg der Aufständischen bzw. die Erreichung nachweisbarer Teilerfolge in einem »Blitzkrieg«.

Wenn sich eine Massenkampagne im Auflösungszustand befindet, sollte sie (entweder symbolisch oder um eine gewisse Kontinuität zu wahren) mit den Mitteln der Gesinnungsdemonstration, des zivilen Ungehorsams, der Nichtzusammenarbeit oder des Boykotts fortgesetzt werden. In dieser Zeit müsse sich der Kern der Bewegung (Leitungskader) zurückziehen und sammeln, um neue Konfrontationen vorzubereiten, möglichst in der Illegalität. Dabei sei notwendig, den Geist des Widerstandes am Leben zu erhalten.

Zum Abschluss einer gewaltfreien Kampagne bemerkt der Verfasser, es gebe zwei Arten, die man als Erfolg der Aufständischen werten könne:

  • Die Herrschenden fügen sich den Positionsforderungen der Aufständischen und passen sich an das neue soziale System an.

  • Die Kontrahenten erzielen in Verhandlungen ein Abkommen, das den Aufständischen die geforderten Positionen einräumt.

Von einem endgültigen Abschluss gewaltfreier Kampagnen werde man jedoch nie sprechen können. Es werden, so meint der Verfasser, ständig neue Prozesse im Streben nach einer »gewaltfreien Fundamentaldemokratie der Freien und Gleichen« stattfinden.

  1. Zum nächsten Dokument Tagung des DDR-Regionalausschusses der CFK

    1. Oktober 1968
    Einzelinformation Nr. 1092/68 über die Tagung des Regionalausschusses der »Prager Christlichen Friedenskonferenz« (PCF) der DDR am 20. September 1968 in Berlin

  2. Zum vorherigen Dokument Brand in einer LPG Reppelin/Rostock

    1. Oktober 1968
    Einzelinformation Nr. 1089/68 über einen Brand in einer LPG, Typ III, Reppelin, [Landkreis] Rostock, am 27. September 1968