Wirksamkeit der politisch ideologischen Diversion an Universitäten
30. März 1968
Einzelinformation Nr. 355/68 über die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion an Universitäten, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen und Mängel, die diesen Einfluss begünstigen
Im Zusammenhang mit den Studentendemonstrationen in Volkspolen,1 mit der Entwicklung in der ČSSR2 sowie mit der Verfassungsdiskussion3 wurden eine Anzahl ideologischer Erscheinungen sichtbar, die zu Feindhandlungen führten und die das Wirken der politisch-ideologischen Diversion innerhalb der Lehrkörper und unter den Studenten widerspiegeln.
In diesem Zusammenhang sind auch eine Reihe von Mängeln zu beachten, die von ideologisch unklaren oder negativ-feindlichen Personenkreisen als Anlass und Mittel für politisch-ideologische Einflussnahme oder zu Störversuchen durch den Gegner ausgenutzt werden können.
Typisch für die negativen und feindlichen Vorkommnisse sind u. a. folgende Beispiele:4
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Am 21.3.1968 waren zwei im Institut für Deutsche Geschichte bzw. im Vorraum der Mensa der Humboldt-Universität ausgehängte Plakate zum 3. Studententag mit dem Text »Prag – Vorbild« beklebt worden. Die Klebestreifen mit dem Text waren auf dem Mund der Marx-Abbildung angebracht.5
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In der Polytechnischen Oberschule Hessen/Halberstadt beschmierte ein 14-jähriger Schüler einen an der Schulwandzeitung angebrachten Zeitungsausschnitt, der eine Aufforderung enthält, zum Volksentscheid mit »Ja« zu stimmen, mit der Losung »Nein, nie und nimmer«. Der Vater des Schülers ist Offizier der NVA, die Mutter Abgeordnete der örtlichen Volksvertretung.
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Wiederholten Anlass zu negativen Auswirkungen unter Studenten und anderen Zuhörern gab die Kabarettgruppe der TH Ilmenau mit der teilweise politisch-ideologisch feindlichen Aussage ihres Programms. Inhaltlich bezogen sich solche Angriffe auf Forderungen zur Aufhebung der Reisebeschränkungen von Westberlin, Westdeutschland und das nichtsozialistische Ausland, gegen die führende Rolle der SED und auf eine angeblich notwendige Führungsrolle der Intelligenz. Leiter dieser Gruppe und Initiator solcher Programme ist der Assistent am Institut für elektrische Anlagen und Apparate, Dipl.-Ing. [Name 1].
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Der Student der Karl-Marx-Universität Leipzig [Name 2, Vorname] bezeichnete die Entwicklung in der ČSSR als wirkliche Demokratie, und es sei an der Zeit, dass auch in der DDR bestimmte Veränderungen vorgenommen würden.
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Der Wissenschaftler Dr. [Name 3] von der TU Dresden propagierte vor seiner Seminargruppe Sendungen von Radio Prag,6 wonach »… die Zeiten des doktrinären Sozialismus vorbei« seien, »… jetzt müsse sich allerhand ändern«. Ähnliche Auffassungen sind in den Äußerungen mehrerer Professoren der Universität Halle enthalten, die die neue Verfassung der DDR als Ausdruck der »Unfreiheit und Verneinung der Demokratie« bewerten.
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Studenten der Humboldt-Universität vertreten die Auffassung, dass Studentendemonstrationen »ein legitimes Mittel der politischen Willensbildung« seien und dazu beitragen könnten, den Sozialismus weiterzuentwickeln. Die DDR würde sich durch ihre angeblich dogmatische Politik immer mehr isolieren. In diesem Zusammenhang werde auch die Forderung nach speziellen Studentenorganisationen erhoben, da die FDJ die Interessen der Studenten nicht richtig vertreten würde.
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Einige Studenten an der Ingenieurschule Köthen vertraten die Ansicht, dass die Ereignisse in der ČSSR »eine politische Wende in Richtung der Haltung Rumäniens«7 darstellen und ein Beweis dafür seien, dass es »mehrere Wege zum Sozialismus« gäbe. Sie begrüßen daher auch die Forderung polnischer Studenten nach Freiheit in der Literatur.
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In der Spezialoberschule Kleinmachnow, Bezirk Potsdam,8 gestalteten mehrere Schüler eine Wandzeitung unter dem Titel »Provokation für uns«9 zusammen mit mehreren Auszügen aus ND-Artikeln zu den Ereignissen in Polen und in der ČSSR sowie Auszügen aus Veröffentlichungen kommunistischer Parteien kapitalistischer Länder. Sie beabsichtigten damit unter den Schülern eine Diskussion über diese Probleme zu entfachen, ohne dass die Auszüge kommentiert worden wären. Einige dieser Schüler und – z. T. in der Kulturpolitik als profiliert bekannte – Elternteile haben falsche Auffassungen zu diesen Ereignissen und unserer Kulturpolitik.10
In letzter Zeit zeigt sich auch ein verstärktes Interesse von Studenten und Wissenschaftlern für Reisen in die ČSSR.
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Vom 2. bis 4.4.1968 führt die westdeutsche Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik – GAMM – in Prag eine Jahrestagung im Zusammenwirken mit der Akademie der Wissenschaften der ČSSR durch. Allein von der TU Dresden liegen 24 Anträge von Wissenschaftlern vor, die an der Tagung teilnehmen wollen. Trotz einer Weisung des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen, dass die Teilnahme von DDR-Wissenschaftlern untersagt wird, erklärte das Vorstandsmitglied der GAMM, Prof. Heinrich,11 TU Dresden, er werde auf alle Fälle versuchen, an der Prager Tagung teilzunehmen.
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Das Interesse klerikaler Kräfte an der Entwicklung in der ČSSR zeigt ein Antrag von zwölf Theologie-Studenten aus Halle, die alle am 28.3.1968 Privatreisen nach Prag antreten wollten.
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Darüber hinaus fahren viele Studenten nach Prag, um sich den internationalen Studentenausweis des ISB dort zu besorgen, weil in der DDR dessen Ausgabe durch die FDJ an bestimmte Bedingungen gebunden ist.12
Nicht zu unterschätzen sind auch die aktiven Westverbindungen, die von Studenten und Wissenschaftlern unterhalten werden.
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Eine durchgeführte soziologische Untersuchung bei 2 000 Studenten der TU Dresden zeigte, dass ca. 75 % der Studenten aktive Westverbindungen unterhalten. Ähnlich werden auch die Westverbindungen von Studenten an anderen Hochschulen und Universitäten eingeschätzt. Dabei ist kennzeichnend, dass diese Verbindungen in einem erheblichen Umfang erst während der Studienzeit hergestellt worden sind. Die Verbindungsaufnahme erfolgte hauptsächlich aufgrund persönlicher Zusammenkünfte in den sozialistischen Ländern, von Jugendsendungen westlicher Rundfunkstationen mit Adressenvermittlung, durch Einreisen westlicher Studenten in die DDR – wobei solche Kontaktreisen, wie Beispiele aus Dresden und Leipzig zeigen – vom Wehner13-Ministerium14 finanziert werden. Andere Formen der Verbindungsaufnahme erfolgen auf verwandtschaftlicher Basis sowie durch Vermittlung von Freunden und Bekannten, insbesondere wenn es um die Besorgung von westlicher Fachliteratur geht, die häufig von Lehrkräften empfohlen wird.
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Stark ausgeprägt sind Mitgliedschaften von Wissenschaftlern der Karl-Marx-Universität Leipzig in westdeutschen Gesellschaften. Bisher wurden 271 Wissenschaftler bekannt, die 87 westdeutschen Gesellschaften angehören.
Eine weitere zu beachtende Tatsache ist der in verschiedenen Universitäten erhebliche kirchliche Einfluss durch die ESG und KSG. Relativ stark ist die Tätigkeit der ESG (ca. 300 Mitglieder) und KSG (120 bis 150 Mitglieder) an der Universität Halle, wo auch intensive Bindungen zu westdeutschen Patengemeinden bestehen. Schwerpunkte sind die Medizinische und Landwirtschaftliche Fakultät.
In der Medizinischen Fakultät ist der Einfluss kirchlicher Kräfte so stark, dass in neun von elf Seminaren auf Betreiben dieser Kreise eine Beschlussfassung über zustimmende Willenserklärungen zum überarbeiteten Entwurf der Verfassung nicht zustande kam.15 Auch an anderen Bildungsstätten wie in der TU Dresden, in der Karl-Marx-Universität Leipzig und der Jenaer Universität wirken kirchlich gebundene Studenten mit Unterstützung von Angehörigen des Lehrkörpers aktiv im Sinne reaktionärer kirchlicher Kreise.
Neben den ideologischen Ausgangspunkten sind aber auch häufig bestimmte Mängel geeignet, um von unklaren, unzufriedenen oder bewusst negativen und feindlichen Kräften als Anlass für provokatorisches Auftreten ausgenutzt zu werden. Bei diesen Mängeln, die nicht sein brauchten, handelt es sich vor allem um Probleme der Verpflegung und Unterkunft.
So wird sowohl an der TU als auch an der Pädagogischen Hochschule Dresden von DDR-Studenten und ausländischen Studenten die Qualität und z. T. die ausgegebene Menge des Essens in der Mensa beanstandet, ebenso die langen Wartezeiten. Das führte u. a. dazu, dass am 14.3.1968 an ein Fenster des Mensagebäudes der Pädagogischen Hochschule Dresden mit roter Ölfarbe geschmiert wurde: »Der Student, der darf keinen Nachschlag fassen – damit andere können mit Leber prassen.«
An der Universität Halle ist der gleiche Zustand. Seit Januar 1968 gibt es statt zwei Wahlessen nur noch ein Gericht.
An der Ingenieurschule für Anlagenbau Glauchau wurde ein Protestschreiben abgefasst, von 94 Studenten unterzeichnet und an eine Tafel für Mitteilungen geheftet, weil trotz mehrfacher Beschwerden ein bestimmtes nicht gewünschtes Gericht immer wieder gekocht wurde.16
Weitere Schwierigkeiten dieser Art gibt es auch
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an der ABF »Walter Ulbricht« in Halle, wo vor allem die Menge des ausgegebenen Essens nicht ausreicht,
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am Pädagogischen Institut Magdeburg, wo die Küchenkapazität nicht ausreicht und
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an der Pädagogischen Hochschule Potsdam.
An verschiedenen Einrichtungen ist auch an Wochenenden und – nach ersten Hinweisen – vermutlich auch am Tag der Volksabstimmung17 zur Verfassung die Versorgung der Studenten nicht völlig gewährleistet, was Anlass zu durchaus vermeidbaren Zwischenfällen geben könnte.
Probleme nicht ausreichender und z. T. nicht zumutbarer Unterkunft bestehen u. a. für Studenten der TU Dresden und der Universität Halle. An der TU Dresden sind in verschiedenen Fällen bis zu zehn Studenten in einem Raum untergebracht, auch Club- und Leseräume der TU sind mit zehn bis 15 Studenten belegt. Die Unzufriedenheit wird noch dadurch vergrößert, dass sowohl in der Juri-Gagarin-Straße als auch in der Wiener Straße mit dem Bau von – wie aus der Beschilderung zu ersehen war – Studentenhochhäusern begonnen wurde, die jetzt aber für andere Zwecke verwendet werden sollen bzw. wo eine Einstellung des Baues erfolgte. Da an beiden Objekten täglich viele Studenten vorbeikommen, gibt es hierzu umfangreiche negative Diskussionen.
An der Universität Halle müssen bei besonderen Ereignissen und Messen, aber auch bei den bevorstehenden Arbeiterfestspielen im Juni 1968, alle Studenten die Universitätsunterkünfte räumen. Das führt u. a. zu solchen Diskussionen, ob es sich hierbei nicht um eine Einschränkung persönlicher Rechte handle, zumal Studenten im Privatquartier keinen solchen Zeitverlust beim Studium hätten. Die Freizeitgestaltung der Studenten mithilfe gesellschaftlicher Organisationen sei unbefriedigend, der Studentenklub bestehe nur dem Namen nach, was zu einem starken Gaststättenbesuch und zum Ansteigen von Partys führte.
Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen um eine bessere Unterbringung der aus dem landwirtschaftlichen Praktikum zurückkehrenden 60 Studenten des 5. Studienjahres gab es auch im Studentenheim Zwaetzen, [Bezirk] Gera.
Diese Information erhebt nicht den Anspruch, einen Gesamtüberblick über die Situation auf diesem Gebiet zu geben, sondern soll einige charakteristische Tendenzen und Beispiele vermitteln.