Aktionen des Pfarrers Wagner, Meerane (Biermann-Ausbürgerung)
10. Dezember 1976
Information Nr. 862/76 über feindlich-negative Aktivitäten des evangelischen Pfarrers Wagner, Meerane
Nachstehend wird über feindlich-negative Aktivitäten des Wagner, Michael, geboren am [Tag] 1944 in Wehlen, wohnhaft: [Adresse], Pfarrer an der Martins-Kirche in Meerane, informiert, die dieser unter Nutzung seiner Möglichkeiten als Pfarrer der evangelischen Kirche unternahm und in die er andere Personen einbezog bzw. einzubeziehen versuchte. Er hat dabei von staatlichen Organen und übergeordneten kirchlichen Institutionen ausgesprochene Warnungen, diese Aktivitäten zu unterlassen, ignoriert.
Diese Warnungen, verbunden mit Hinweisen auf mögliche Folgen weiterer Handlungen im Sinne der »Ausweitung der Protestaktionen« gegen die Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft Biermanns, waren Wagner
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in einer mit ihm in seiner Wohnung durch den Superintendenten Kröhnert in Anwesenheit von Mitarbeitern der zuständigen staatlichen Organe am 21. November 1976 geführten Aussprache (siehe Information 829/76 vom 29.11.1976) sowie
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in einer weiteren Aussprache am 24. November 1976 in der Superintendentur Glauchau durch einen Beauftragten des Landesbischofs Hempel und erneut durch Superintendent Kröhnert
ausgesprochen worden.1
(In beiden Aussprachen hatte Wagner u. a. erklärt, er kenne die »Werke« Biermanns seit zehn Jahren, habe dessen »Lieder« selbst interpretiert und beabsichtige, den Standpunkt der »Solidarisierung mit Biermann« weiter zu vertreten.)
Diesen Aussprachen waren u. a. folgende »Aktivitäten« Wagners vorausgegangen:
Wagner bemüht sich seit mehreren Jahren um die »moderne Gestaltung« seiner kirchlichen Veranstaltungen. Er bildete »zu seiner Unterstützung« einen ca. 10 Personen umfassenden »Standardkreis« sowie einen »Christlichen Ehekreis«, dem ca. 20 Personen (vor allem Angehörige der Intelligenz, unter ihnen Ärzte, Dozenten, Studenten und Ingenieure) angehören.
Von den genannten Bemühungen ausgehend und aufgrund seiner feindlich-negativen Einstellung verbreitete er in diesen Veranstaltungen in den letzten Jahren eine größere Anzahl von »Werken« Biermanns.
Wagner hatte in der BRD verlegte »Werke« Biermanns in seinem Besitz, die er z. T. in erheblichem Umfang selbst vervielfältigte sowie andere Personen dazu veranlasste, um eine größere Wirksamkeit zu erzielen. In speziellen von Wagner organisierten und durchgeführten »Biermann-Abenden« vor den verschiedensten christlichen Kreisen (Gemeindeabend, »Junge Gemeinde« u. a.) trug er selbst Machwerke Biermanns in Wort und Gesang vor.
Weiter hatte Wagner eine Person aus seinem »Standardkreis« beauftragt, ein altes Bauernhaus in Neukirchen, Kreis Glauchau, zu kaufen, in dessen Räumlichkeiten Zusammenkünfte dieses Personenkreises stattfanden. Ebenfalls führte Wagner dort Zusammenkünfte mit dem »Christlichen Ehekreis« durch. Die »Werke« Biermanns wurden durch Wagner während dieser Zusammenkünfte auch diesen Personenkreisen zugänglich gemacht.
Wagner entwickelte Aktivitäten zur Herstellung von »Partnerschaftsbeziehungen« mit kirchlichen Kreisen aus der BRD, besonders mit solchen der sogenannten Kommunen. Diese Verbindungen nutzte er u. a. zur Beschaffung von Druckerzeugnissen und Schallplatten westlicher Herkunft, vornehmlich solcher mit »Werken« Biermanns.
Nach der Veröffentlichung des Beschlusses zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft Biermanns entwickelte Wagner Aktivitäten mit dem Ziel einer »Ausweitung der Protestaktion« gegen diesen Beschluss und übernahm am 19. November 1976 von einer bekannten feindlich-negativen Gruppierung eine »Unterschriftenliste« mit der Bereitschaftserklärung, in seinem Amtsbezirk gleiche Aktivitäten zu entwickeln.
Wagner erklärte gleichzeitig sein Einverständnis, eigenverantwortlich die Vervielfältigung dieser »Protesterklärung« zur Unterschriftensammlung vorzunehmen. Nach erfolgter Unterschriftensammlung sollte je ein Exemplar an das Politbüro der SED, an den Schriftstellerverband der DDR und »aus Sicherheitsgründen« nach der BRD versandt werden.
Am 20. November 1976 fand in der Wohnung des Wagner eine von ihm organisierte Zusammenkunft statt, an welcher sich acht Personen des sogen[annten] Standardkreises beteiligten. Wagner legte dar, in diesem Kreis der »treuesten und zuverlässigsten Biermann-Anhänger« sei es das Ziel, »die Rehabilitierung Biermanns« zu erreichen. Biermann müsse »unter allen Umständen freigekämpft« werden, und dazu sei »jedes Mittel recht«. Wagner vertrat weiter die Meinung, Biermann sei nach Kunze und Brüsewitz2 »der letzte Anlass«, seine Aktivitäten zu forcieren; das Maß wäre nun endgültig voll, und es müsste »etwas getan« werden. Sein Vorschlag, Flugblattaktionen zu organisieren, wurde »wegen der Gefährlichkeit« dieses Unternehmens verworfen.
Wagner verlas die »Protestresolution der Berliner Künstler« vom 17. November 19763 und beeinflusste während dieser Zusammenkunft weitere Personen des »Standardkreises« dahingehend, dass sie sich bereiterklärten, Vervielfältigungen der »Protesterklärung« und von Machwerken Biermanns vorzunehmen.
Wagner übergab vor, während und unmittelbar nach der Zusammenkunft am 20. November 1976 an mehrere Personen gegen den Beschluss zur Ausbürgerung Biermanns gerichtetes fotokopiertes bzw. abschriftlich gefertigtes Material, insbesondere die »Protesterklärung«, den Brief Biermanns »Es gibt ein Leben vor dem Tod« (veröffentlicht in »Der Spiegel« vom 20.9.1976),4 ein Interview der »Frankfurter Rundschau« mit Biermann (»Das Verbot ehrt mich und formt mich«) und weitere Veröffentlichungen Biermanns bzw. über Biermann. Wagner verschickte von ihm vervielfältigtes Material am 19. und 20. November 1976 an ihm bekannte Personen in andere Bezirke der DDR.
Am 21. November 1976 richtete Wagner je ein Protestschreiben gegen die Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft Biermanns an das Zentralkomitee der SED und an den Schriftstellerverband der DDR, in denen er sich dem »Protest« der Berliner Schriftsteller anschließt.
Gleichzeitig verschickte er – internen Hinweisen zufolge – Abschriften der »Protesterklärung« an ihm bekannte Personen in anderen Orten und Bezirken der DDR, wobei er einen fingierten Absender verwendete.
Wagner hatte den »Christlichen Ehekreis« – gemäß einer Festlegung im »Standardkreis« am 20. November 1976 – für den 21. November 1976 zu einer Zusammenkunft eingeladen mit dem Ziel, eine analoge »Aussprache« wie mit dem »Standardkreis« am Vortag zu erreichen.
Durch die mit Wagner am 21. November 1976 geführte Aussprache wurde diese Zusammenkunft verhindert. Wagner suchte in den folgenden Tagen Angehörige des »Ehekreises« und des »Standardkreises« auf, bedeutete ihnen, keine Aktivitäten mehr zu entwickeln und erklärte: »Ich kämpfe allein weiter.«
Am 27. November 1976 fand im sogen[annten] »Kommuneobjekt« in Neukirchen eine weitere Zusammenkunft des »Standardkreises« statt, an der acht Personen teilnahmen. Wagner traf als 9. Teilnehmer etwas später ein. Einer der Teilnehmer berichtete über eine mit ihm geführte Aussprache durch Vertreter zuständiger staatlicher Organe. Wagner versuchte die Anwesenden dahingehend zu beeinflussen, keine »Zugeständnisse« zu machen; er selbst gehe lieber »zehn Jahre in den Knast«, bevor er etwas sagen werde. Obwohl Wagner die Anwesenden aufforderte, während dieser Zusammenkunft nicht über die »Angelegenheit Biermann« zu reden, kam er selbst mehrfach darauf zurück und brüstete sich damit, den Superintendenten und Mitarbeiter des Staatsapparates (am 21.11.1976) »aus seiner Wohnung hinausgeworfen« zu haben.
Nachdem während dieser Zusammenkunft aus Werken Lessings und Hermlins gelesen worden war, kamen die Teilnehmer überein, bei eventuellen weiteren Aussprachen durch Vertreter des Staatsapparates die Verantwortung für die Vervielfältigung und Verbreitung der Machwerke Biermanns einer namentlich bekannten Person, die nicht unmittelbar zum »Standardkreis« gehört, »zuzuschieben«.
Im Zusammenhang mit diesen Darlegungen verdient Beachtung, dass Wagner am 30. November 1976 in drei gleichlautenden Schreiben – gerichtet an den Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Landesbischof Dr. Hempel, Dresden, und Superintendent Kröhnert, Glauchau – eine Eingabe bzw. Beschwerde über das mit ihm am 21. November 1976 geführte Gespräch richtete. Darin führt er an, er sei »einem Verhör ausgesetzt« gewesen, das den Aufgabenbereich des Rates des Bezirkes übersteige; er sei entsprechend der Verfassung der DDR, der Schlussakte der KSZE und der UNO-Menschenrechtsdeklaration berechtigt, zu den von ihm aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen.
Von Mitarbeitern zuständiger staatlicher Organe wurden am 29. November 1976 mit 13 zum »Standardkreis« bzw. »Ehekreis« des Wagner gehörenden Personen individuelle Aussprachen geführt mit dem Ziel, sich nicht in die Aktivitäten Wagners einbeziehen zu lassen und sich von dessen feindlichen Handlungen zu distanzieren.
In den Aussprachen bestätigten die Betreffenden, dass Wagner in der Vergangenheit kirchliche Veranstaltungen und Zusammenkünfte zur Propagierung der Machwerke Biermanns nutzte, wobei einige Personen Wagner als »ausgesprochenen Biermann-Anhänger« bezeichneten. In einigen Fällen wurde betont, sich an keinen weiteren feindlichen Aktivitäten zu beteiligen und Wagner »vor weiteren unbedachten Handlungen zu bewahren«.
Am 6. Dezember 1976 fand eine Zusammenkunft des »Christlichen Ehekreises« in der Wohnung eines Angehörigen dieses Kreises statt, an dem 14 Personen teilnahmen. Eingangs bedauerte Wagner das Nichtzustandekommen ihres Treffens am 21. November 1976 infolge der »widrigen Umstände« und erreichte bei den Anwesenden Zustimmung, die Zusammenkunft lediglich zu nutzen, um über Vorgänge um Biermann und damit zusammenhängende Fragen, ihren »Ehekreis« betreffend, zu diskutieren.
Gegenseitig informierten sich die Teilnehmer über mit ihnen geführte Gespräche seitens des Staatsapparates zu den vom »Ehekreis« unternommenen Aktivitäten. Wagner teilte mit, er fühle sich zwar »verfolgt«, forderte aber auf, »trotzdem und jetzt erst recht im bisherigen Sinne« weiterzumachen, und erreichte damit auch Zustimmung. Wagner betonte, »die Lage habe sich nach den erfolgten Aussprachen wieder normalisiert«; die DDR könne sich nach dem »Fall Brüsewitz« und dem »Fall Biermann« nicht noch einen »Fall Wagner« leisten. Der »Ehekreis« müsse jedoch jetzt »vorsichtiger arbeiten«. Nach dem »Fall Biermann« habe man jetzt »das Recht, dem Staat einige unangenehme Fragen« zu stellen. Diese könnten sich z. B. auf Reiner Kunze beziehen, wobei nach Wagners Ansicht der »Ehekreis« auch weiterhin »zu diesen problematischen Dingen« Meinungen äußern müsste.
Wagner regte an, als »brisantes« Thema während einer der nächsten Zusammenkünfte des »Ehekreises« zu behandeln, inwieweit Kunzes Literatur nach dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband »verboten« sei. Als er damit Zustimmung erreichte, schlug er vor, zu weiteren Zusammenkünften des »Ehekreises« zum Thema »Kirche – Staat« Mitarbeiter übergeordneter kirchlicher Ebenen einzuladen, diese mit den »für den Staat unangenehmen Fragen« zu konfrontieren, damit aber gleichzeitig ihre Treffen zu legalisieren. Es wurde festgelegt, mit diesen Treffen in ca. sechs Monaten zu beginnen. Wagner informierte den »Ehekreis«, er besäße »fast alles von Biermann«, halte es jedoch im Moment versteckt, damit ihm nichts verloren gehe. Wagner schloss die Zusammenkunft am 6. Dezember 1976 »statt eines Gebets« mit Zitaten Reiner Kunzes.
Es wird vorgeschlagen, Vertreter zentraler kirchenleitender Institutionen der evangelischen Kirche in der DDR über die gesetzwidrigen Aktivitäten Wagners und den damit verbundenen Missbrauch seines kirchlichen Amtes sowie insbesondere darüber zu informieren, dass er auch nach den mit ihm geführten Aussprachen diese Aktivitäten fortsetzt und teilweise sogar zu konspirieren versucht.
Gleichzeitig sollten sie veranlasst werden, ihren Einfluss geltend zu machen,
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um Wagner von seinen gesetzwidrigen Handlungen und – damit verbunden – vom Missbrauch seines kirchlichen Amtes abzubringen und
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um zu gewährleisten, dass kirchliche Veranstaltungen und Zusammenkünfte nicht in dem Sinne missbraucht werden, andere Personen in gegen den Staat gerichtete Handlungen einzubeziehen.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt und im Hinblick auf ein eventuelles Gespräch mit Vertretern kirchenleitender Institutionen nur sinngemäß zu verwenden.