Bevölkerungsreaktionen anlässlich des X. Parteitages der SED (1)
10. April 1981
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/96a]
Im Mittelpunkt der politischen Diskussion der Bevölkerung der DDR stehen
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die Befriedigung über die Vorschläge des XXVI. Parteitages der KPdSU1 zur Stabilisierung des Entspannungsprozesses,
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Erwartungen an den X. Parteitag der SED2 hinsichtlich klarer Aussagen zur Fortsetzung der Friedenspolitik und der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik,
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Besorgnis über die Lage in der VR Polen und Unverständnis gegenüber der Kompromissbereitschaft polnischer Partei- und Staatsfunktionäre in der Auseinandersetzung mit konterrevolutionären Kräften.3
Die Diskussionen zu den Ergebnissen, Beschlüssen, Vorschlägen des XXVI. Parteitages der KPdSU sind vom Umfang her in den letzten Tagen zurückgegangen. Nach wie vor finden aber in allen Bevölkerungsschichten der DDR die Initiativen und Vorschläge der Sowjetunion zur Minderung der Kriegsgefahr und Erhaltung des Friedens, Zügelung des Wettrüstens, einschließlich der militärischen Entspannung und Abrüstung in Europa, die Bereitschaft eines Treffens zwischen den führenden Repräsentanten der Sowjetunion und der USA sowie die Ausdehnung vertrauensbildender Maßnahmen auf den gesamten europäischen Teil der Sowjetunion zustimmende Wertungen.4
Gleichzeitig wird aber auch Zweifel zum Ausdruck gebracht, dass die neue USA-Administration in nächster Zukunft ihren Konfrontationskurs verlässt. Es müsse davon ausgegangen werden, dass seitens der NATO-Staaten nicht mit konstruktiven Reaktionen gerechnet werden könne, dass die imperialistischen Mächte jedoch angesichts der von der internationalen Öffentlichkeit stark beachteten Vorschläge zu einer Antwort verpflichtet seien.
In den letzten Wochen sind die Meinungsäußerungen und Reaktionen zum bevorstehenden X. Parteitag der SED in den Vordergrund gerückt. In vielen Diskussionen wird erwartet, dass die Friedenspolitik der DDR auf dem X. Parteitag bekräftigt und weitergeführt wird. Vornehmlich beschäftigen sich die Diskussionen mit innenpolitischen Fragen, wobei sogenannte Erwartungshaltungen weiterhin eine dominierende Rolle spielen.
Erwartet wird, dass
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der X. Parteitag der SED ebenso offen und kritisch wie der XXVI. Parteitag der KPdSU die innen- und außenpolitische Lage analysiert,
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Beschlüsse zur wirksamen Verbesserung der Versorgungslage gefasst werden, vor allem zur Erhöhung des Warenangebotes in den unteren Preisklassen und zur Stabilisierung der Ersatzteillage,
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Festlegungen getroffen würden zur disziplinierteren und qualitätsgerechteren Erfüllung von Teilplänen in der Volkswirtschaft (mittlere Wirtschaftskader verschiedener Betriebszweige sowie des Bauwesens),
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weitere sozialpolitische Maßnahmen in Kraft treten, wie Rentenerhöhungen, Herabsetzung des Rentenalters, Verbesserung der Einkommensverhältnisse, insbesondere in speziellen Berufen (mittleres medizinisches Personal, Apothekenfacharbeiter, kaufmännische Berufe, Pflegepersonal für Feierabend- und Pflegeheime).
Teilweise wird in Diskussionen von Beteiligten selbst geäußert, dass die Erwartungen von Bürgern auf sozialem Gebiet übertriebene Wünsche beinhalten, für deren Realisierung in den nächsten Jahren keine Möglichkeiten bestünden, da sie mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nicht in Einklang zu bringen seien.
Mehrfach wurde auch darauf verwiesen, dass seit dem VIII. Parteitag bereits großzügige sozialpolitische Maßnahmen wirksam geworden seien. Wegen der gestiegenen außenwirtschaftlichen Belastungen und notwendiger höherer Verteidigungsausgaben seien sozialpolitische Vergünstigungen nicht zu erwarten. Partei und Regierung würden Mühe haben, den gegenwärtigen Lebensstandard auch zukünftig zu garantieren.
Abwertende, negative, verleumderische und feindliche Argumente zum X. Parteitag sind nur im geringen Umfang bekannt geworden. Sie werden überwiegend von solchen Personen meist intern geäußert, die in OPK erfasst sind oder vom MfS operativ bearbeitet werden. In diesen Äußerungen, die in der Regel nicht öffentlichkeitswirksam werden, spiegelt sich eindeutig der Einfluss westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen wider. Sie beziehen sich insbesondere auf die Verächtlichmachung der Politik der Partei, hauptsächlich auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Planung und den Erfüllungsstand der Pläne, auf Diskriminierungen der Versorgung und der Preispolitik, auf die Herabwürdigung der Vorbereitung und Durchführung des Parteitages (»Propagandaschau«, finanziell zu aufwendig u. a.).
In Einzelfällen wird von politisch labilen und negativ-feindlichen Personen behauptet, die Lebenshaltungskosten würden sich nach dem X. Parteitag erhöhen und der Lebensstandard werde »weiter absinken«.
In Einzelfällen wurden aus dem Bereich Kunst und Kultur Äußerungen zum X. Parteitag der SED bekannt. So erwarten einige Personen »eine Festschreibung«, wie es in der Kulturpolitik konkret weitergehe (sie verstehen darunter u. a. deutliche Aussagen darüber, nach welchen Kriterien Reisen ins kapitalistische Ausland genehmigt würden).5 Weitere Äußerungen aus diesem Kreis beziehen sich auf angeblich bürokratische Verhaltensweisen von für sie zuständigen übergeordneten Stellen, auf unbeantwortet gebliebene Anträge an übergeordnete Stellen (z. B. zum Delegationsaustausch mit ausländischen Partnerstädten), auf angeblich unzureichende Förderung von Nachwuchskräften sowie der Literaturkritik, auf zu lange Wartezeiten von der Abgabe einer fertigen Arbeit bis zur Veröffentlichung sowie säumige Honorarzahlungen.
Entsprechend vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt Berlin haben Diskussionen zur Lage in der VR Polen in den letzten Tagen vom Umfang und der Intensität her wieder zugenommen, und aus einer Reihe territorialer Bereiche wird eingeschätzt, dass Quote und Spektrum dieser Meinungsäußerungen gegenwärtig als umfassender einzuschätzen sind als individuelle Gespräche zum X. Parteitag.
Übereinstimmend beinhalten die Aussagen, dass insbesondere nach den Ereignissen in Bydgoszcz6 und der von konterrevolutionären Kräften provozierten gegenwärtigen Situation unter allen Bevölkerungskreisen Besorgnis und Unverständnis wachsen. Teilweise wurden Äußerungen von Arbeitern u. a. bekannt, nach dem bisherigen Stand der Ereignisse bestehe zur Aufrechterhaltung einer sozialistischen Entwicklung in Polen lediglich noch die Möglichkeit einer Lösung mit militärischen Kräften. In diesem Zusammenhang wird mit größter Besorgnis eine »militärische Ausweitung des Konflikts« befürchtet, wobei davon ausgegangen wird, die DDR würde in diesen Konflikt unweigerlich einbezogen.7
Vorherrschend sind folgende Argumente und Haltungen:
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immer breiteres Erkennen des konterrevolutionären Charakters von »Solidarność« (Verurteilung der feindlichen Bestrebungen durch solche Personen, die vor einigen Monaten teilweise Sympathien gegenüber »Solidarność« zum Ausdruck gebracht hatten);
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fehlendes Verständnis für weitergehende Verhandlungen der PVAP und der polnischen Regierung mit »Solidarność« und für die erfolgten Zugeständnisse;
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Enttäuschung und Unverständnis hinsichtlich fehlender erkennbarer Ergebnisse des 9. Plenums des ZK der PVAP (das nach vorliegenden Hinweisen stark beachtet und z. T. im Detail verfolgt wurde);
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Fragen, inwieweit unter den gegebenen Bedingungen überhaupt noch von einem sozialistischen Polen gesprochen werden könne; wichtige Positionen seien bereits vom Gegner besetzt;
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Fragen, inwieweit die Einheitlichkeit der Parteiführung noch gewährleistet sei und ob die Führung der PVAP überhaupt Ratschläge der Bruderparteien annehme und befolge;
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Unklarheiten im Zusammenhang mit der Veränderung der Wahlordnung in Vorbereitung des IX. Parteitages der PVAP und Fragen, inwieweit die Einberufung des IX. Parteitages überhaupt berechtigt bzw. zweckmäßig sei;8
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Besorgnis, wie lange es bei weiterer Zulassung von konterrevolutionären Umtrieben noch dauern könnte, bis tätlich gegen aufrechte Kommunisten in Polen vorgegangen werde;
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Fragen nach der Rolle von Verteidigungsminister Jaruzelski, der nach seiner Berufung zum Ministerpräsidenten keine Aktivitäten zur Stärkung der sozialistischen Staatsmacht in Polen gezeigt habe;
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in einigen Fällen wird Unverständnis über die Beendigung der Kommando-Stabsübung »Sojus 81« geäußert, da diese die Gelegenheit zur Konzentration von militärischen Einheiten gewährleistet hätte.
Aus zahlreichen Argumentationen ist sichtbar, dass zu diesem Problem ausführlich westliche Rundfunk- und Fernsehanstalten abgeschöpft werden. Vielfach sind dadurch offensichtlich nur aus diesen Quellen stammende Detailangaben bekannt, die in Diskussionen weitergegeben werden.
In zunehmendem Maße werden gegenwärtig Stimmen laut, wonach eine ablehnende Haltung gegenüber Solidaritätsspenden und jeglicher materieller Hilfe für Polen zum Ausdruck kommt, da hierdurch letztlich nur die Streiks in der VR Polen »unterstützt« würden.