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Einleitung 1954

Einleitung 1954
Mark Schiefer und Martin Stief

1. Das Jahr 1954: ein historischer Rückblick

In den meisten Darstellungen zur frühen DDR-Geschichte findet das Jahr 1954 kaum Beachtung. Scheinbar gab es in diesen zwölf Monaten keine herausragenden Ereignisse. Ein Blick in die hier edierten Berichte aber zeigt, dass aus Perspektive von SED und Stasi das Jahr 1954 sehr wohl von Bedeutung war: Ökonomische Herausforderungen und politische Großereignisse gab es in hoher Dichte. Auf die Viermächtekonferenz zu Beginn des Jahres folgten im Frühsommer das II. Deutschlandtreffen, der IV. SED-Parteitag und schließlich im Herbst die Volkskammerwahlen. Hinzu kamen zahlreiche Schauprozesse, unter anderem aus Anlass des ersten Jahrestages des Volksaufstandes. Die Stasi trug zusammen, was die Bevölkerung über all die Entwicklungen und Ereignisse dachte. Am Ende des Jahres hatte sie der SED circa 3 800 Seiten Berichte vorgelegt.1

Um die anhaltende Aufmerksamkeit der Stasi zu verstehen, werden zunächst die wichtigen ökonomischen und politischen Entwicklungen des Jahres 1954 nachgezeichnet und einige zentrale Themen dieses Jahrgangs vorgestellt. Daran anschließend wird aufgezeigt, wie die Stasi ihr erst vor Jahresfrist einsetzendes Berichtswesen an die SED-Führung weiterentwickelte.

1954 war das erste Jahr nach dem Volksaufstand, jener Massenerhebung, die der SED die fehlende Akzeptanz ihrer Herrschaft überdeutlich vor Augen geführt hatte. Die Macht zu konsolidieren und weitere Unruhe zu verhindern, stand deshalb ganz im Zentrum ihrer Politik. Die SED verfolgte eine Doppelstrategie, was sich auch in den hier vorliegenden Berichten eindrucksvoll zeigt: Auf der einen Seite betonte sie die Fortsetzung des »Neues Kurses«, einer im Juni 1953 vollzogenen politischen Kehrtwende, mit der die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft gedrosselt und weniger rücksichtslos gegen Privatbauern und Mittelständler vorgegangen werden sollte, um die Bevölkerung nicht weiter zu verprellen.

Auf der anderen Seite demonstrierte die SED Stärke. Die Stasi überzog das Land mit einer Verhaftungswelle und Schauprozessen, die sich gegen innere und äußere Feinde richteten. Ernst Wollweber, seit Juni 1953 Chef der Staatssicherheit, ließ »konzentrierte Schläge« vor allem gegen Spione westlicher Geheimdienste und antikommunistischer Gruppierungen durchführen. Die dabei verhängten drakonischen Strafen sollten zum einen die DDR-Bevölkerung davon abhalten, sich mit westlichen Geheimdiensten einzulassen. Zum anderen war die Botschaft an jene, die das Regime ablehnten, unmissverständlich: Gegen Feinde ging die SED mit aller Härte vor. Mit Repression allein, das war eine Lehre aus dem Jahr 1953, ließ sich allerdings die Gesellschaft nicht befrieden. Der SED kam es deshalb darauf an, durch aufwendig inszenierte Propagandakampagnen die Zustimmung der Bevölkerung sichtbar zu machen. In der Praxis bedeutete dies eine Dauermobilisierung der DDR-Bürgerinnen und -Bürger durch den Parteiapparat und seiner Vorfeldorganisationen. Mit Spendensammlungen, Selbstverpflichtungen oder Massenkundgebungen zwang der Staat seine Bewohnerinnen und Bewohner, sich wenigstens nach außen politisch zu bekennen. Diese permanente Vereinnahmung wirkte erschöpfend, wie auch die Berichte deutlich zeigen.

Neben der Ermüdung fällt in den Berichten des SfS auch eine gewisse Ungeduld der Bürgerinnen und Bürger auf. Das Versprechen der SED auf ein besseres Leben, wie es die Propaganda und der »Neue Kurs« seit einem Jahr in Aussicht stellten, führte dazu, dass die Bevölkerung die Staatspartei mit Forderungen konfrontierte. Hier spielte die Erfahrung des 17. Juni eine wichtige Rolle. Der Volksaufstand war nicht nur in der Wahrnehmung der SED die Achillesferse des Regimes. Die in den Berichten häufig wiederholte Aussage, am 17. Juni sei nur der Polterabend gewesen, in diesem Jahr werde die Hochzeit sein, illustriert eine tiefsitzende Unzufriedenheit und weist darauf hin, dass die DDR-Bürgerinnen und -Bürger diese Drohung zur Bekräftigung ihrer Forderungen einsetzten. Aussicht auf Erfolg konnte ein erneuter Aufstand freilich nicht haben.

Der Frust der Bevölkerung und die Propaganda-Anstrengungen der SED werden noch verständlicher, wenn eine weitere Entwicklung des Jahres 1954 berücksichtigt wird, die in den täglichen Berichten zu spüren ist: die verschärfte Ost-West-Konfrontation. Die zwölf Monate des Jahres standen im Zeichen zahlreicher internationaler Großereignisse, mit denen ein beschleunigtes Auseinanderdriften der beiden Blöcke verbunden war. In den Köpfen der Menschen besaßen die deutschlandpolitisch verhandelten Themen wie freie Wahlen, Wiedervereinigung oder Bündniszugehörigkeit eine ungebrochen große Bedeutung. Die Erwartungen richteten sich vor allem auf die Viermächtekonferenz in Berlin zu Beginn des Jahres. Nach dem ergebnislosen Ausgang der Beratungen dominierten die Debatten um die Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Westen, die im Herbst 1954 ihren finalen Höhepunkt erreichten. Am Ende des Jahres war die militärische Integration der beiden Teilstaaten im vollen Gange. Deutschlandpolitisch kann das Jahr 1954 deshalb auch als Phase der beschleunigten Teilung bezeichnet werden. Während im Innern der DDR der Versuch unternommen wurde, die kommunistische Herrschaft zu stabilisieren, begann nach außen die letzte Etappe der Teilung Deutschlands und Europas.

1.1 Inszenierte Einheit: der IV. Parteitag der SED

Der Widerhall der Bevölkerung auf die Konsolidierungsbemühungen der SED spiegelt sich in den SfS-Berichten vor allem bei zwei politischen Großereignissen des Jahres 1954: beim IV. Parteitag der SED im Frühjahr und bei den Volkskammerwahlen im Oktober. Beide wurden spektakulär inszeniert, um die Einigkeit der SED und ihre Autorität in der Bevölkerung aller Welt vor Augen zu führen.

Zum IV. Parteitag der SED kamen vom 30. März bis 6. April 1954 Tausende Delegierte in der Werner-Seelenbinder-Halle in Ostberlin zusammen, darunter internationale Ehrengäste wie der Stellvertreter des sowjetischen Ministerrates Anastas Mikojan oder der chinesische Botschafter Ji Pengfei. Im Mittelpunkt standen hier zunächst wirtschaftspolitische Themen, etwa die Beibehaltung der Lebensmittelmarken oder die beabsichtigte Absenkung der Preise des Einzelhandels.2 In seiner mehrstündigen Parteitagsrede verkündete Parteichef Walter Ulbricht außerdem die Durchführung einer Volksbefragung über die EVG im Juni 1954, die eine klar gegen die Bundesrepublik zielende Maßnahme war.3

Ein Signal an die Bevölkerung, dass es die SED mit dem Wirtschaftsaufschwung ernst nahm, war die Zusammensetzung der obersten Parteiführung, des Zentralkomitees und der Zentralen Revisionskommission.4 Neben den üblichen altgedienten Arbeiterfunktionären wurden erstmals vermehrt SED-loyale Kader aus Wirtschaft und Wissenschaft aufgenommen. Damit wollte die Partei auf Anraten der Sowjetunion ihre Kompetenz in Wirtschaftsfragen aufbessern.5 Auch ein Generationswechsel deutete sich an; das neue Politbüro bestand zu einem Drittel aus jüngeren Vertretern der kommunistischen Partei.6

Diese Neubesetzung der Spitzengremien stand in Zusammenhang mit der organisatorischen und personellen Umgestaltung der SED, die bereits mit dem 15. ZK-Plenum im Juli 1953 eingesetzt hatte. Als Reaktion auf den Volksaufstand waren der Apparat des ZK und die Präsenz der Partei in den Betrieben deutlich ausgebaut und zahlreiche Mitglieder – hier vor allem ehemalige Sozialdemokraten – aus den Bezirks- und Kreisleitungen entfernt worden.7 Bis März 1954 mussten über 23 000 Personen die SED verlassen.8 Der IV. Parteitag stand nun am Ende dieser Parteisäuberung und Parteiexpansion und sollte ein abschließendes Zeichen der Geschlossenheit setzen. Hermann Matern, Chef der Zentralen Parteikontrollkommission, ermahnte in seinem Referat die anwesenden Delegierten eindringlich, die »Parteidisziplin« nicht zu vergessen und die »Einheit und Reinheit der Partei« zu wahren.9

Dass die SED als Lehre aus 1953 nicht auf mehr Pluralität und Meinungsvielfalt, sondern ganz auf eine Unterordnung des Parteiapparates unter Walter Ulbricht setzte, machte auch das neue Parteistatut der SED deutlich. Es manifestierte den uneingeschränkten Führungsanspruch des Politbüros sowohl innerhalb der Partei als auch gegenüber allen gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen.10 Parteitage und ZK-Tagungen, die nur noch alle drei bis vier Jahre zusammenkommen sollten, wurden zu bloßen Akklamationsorganen. Mit der Abschaffung der Ämter der Parteivorsitzenden, bislang von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl besetzt, beseitigte das Statut zudem das letzte Relikt der ehemaligen Parität von Kommunisten und Sozialdemokraten in den Führungsgremien der SED.11 Generalsekretär Walter Ulbricht ging damit eindeutig als Sieger aus dem Parteitag hervor.

1.2 Bekenntnisritual: die Volkskammerwahl

Der IV. Parteitag verkündete am Ende auch das zweite politische Großereignis des Jahres 1954: die Volkskammerwahl am 17. Oktober. Schon im Juli begannen die Wahlvorbereitungen mit der sogenannten Rechenschaftslegung der Minister und Volkskammerabgeordneten vor Betriebsbelegschaften und Dorfgemeinschaften. Offiziell als Kontrolle der Mandatsträger gedacht, verteidigten die Funktionäre hier den Kurs der Regierung und forderten von den Zuhörerinnen und Zuhörern ein Bekenntnis zum Staat ein. Jeder Einzelne wurde aufgerufen, die »Kandidaten der Nationalen Front« zu wählen, wozu bereits eine jetzt abzugebende persönliche Erklärung gehörte, den festgelegten Kandidaten bei den Wahlen die Stimme zu geben.

In dieselbe Richtung gingen auch die »Wählerkonferenzen« mit den Kandidaten und Kandidatinnen. Stärker als bei den hochrangigen Ansprachen von Funktionären machten die Bürgerinnen und Bürger hier von der Möglichkeit Gebrauch, Beschwerden zu äußern und eigene Ideen zu formulieren. Die Berichte zeigen, dass dabei auch klare Forderungen und Anliegen vorgebracht wurden, etwa der Wunsch nach einer Baugenehmigung oder eine Unterstützung für Heizkosten. Neben der Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger bot die Vorwahlphase somit auch gewisse Räume für inoffizielle Aushandlungsprozesse.12 Die Staatssicherheit spiegelte diese Erwartungshaltung der Bevölkerung der SED in ihren Berichten. Doch den mitunter scheinbar offenen Diskussionen waren auch klare, wenngleich unsichtbare Grenzen gesetzt: Politische Forderungen oder gar Kritik an der SED waren tabu.

Der Wahltag am 17. Oktober selbst wurde schließlich als Festakt zelebriert: Das Wahllokal war mit Spruchbannern geschmückt, Erstwählerinnen und -wähler bekamen Blumen, Hausgemeinschaften und Betriebskollektive beeilten sich, schon in den Morgenstunden ihre Stimmen abzugeben, und Präsident Wilhelm Pieck rief im »Neuen Deutschland« zu einem »einmütigen Bekenntnis zum Frieden und zur Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands« auf.13

Gewünscht war eine »offene Stimmabgabe«, also das Einwerfen eines gefalteten Stimmzettels, auf dem alle Kandidaten und Kandidatinnen des »Demokratischen Blocks« aufgelistet waren – und zwar möglichst, ohne vorher die Wahlkabine aufzusuchen. Die Auswahl alternativer Parteilisten oder die Zurückweisung der Einheitsliste waren nicht vorgesehen. Um Ablehnung auszudrücken, blieb den Wählenden nur die Möglichkeit, eine abseits stehende Wahlkabine aufzusuchen und die aufgeführten Namen zu streichen. Ein solcher Schritt galt aus Sicht der SED als »undemokratisch«, da man durch das Aufsuchen der eigentlich nicht zur Nutzung vorgesehenen Wahlkabine seine Distanz zum politischen System sichtbar machte und sich einem Bekenntnis für die nationale Einheit verweigerte. Es änderte sich auch nichts am Wahlergebnis: Die Sitzanteile der gemeinsam antretenden Parteien und Massenorganisationen, die zusammen 466 Abgeordnete auf fünf Jahre entsendeten, waren bereits lange vor der Wahl festgelegt.14

Trotz all dieser Vorkehrungen und Vereinnahmungsversuche, auch das zeigen die Berichte an die SED-Führung deutlich, ließ sich Kritik nicht völlig unterdrücken. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger kritisierten den Wahlablauf offen: »Eine einheitliche Liste ist falsch. Es ist derselbe Zustand wie bei Hitler, da gab es auch nur eine Partei«, wird zum Beispiel ein Rentner aus Doberschütz wiedergegeben.15 Dass eine Wahl nach mehreren Parteilisten und verschiedenen Wahlprogrammen verlangte, war für große Teile der Bevölkerung anscheinend immer noch eine Selbstverständlichkeit. »Da kann einer doch sagen was er will, das ist doch gar keine Wahl. Früher, ja da wurde wirklich gewählt, das waren richtige Parteiwahlen«, so ein CDU-Mitglied aus Bernsbach.16

Die Vielzahl der kritischen Stimmen, die in den SfS-Berichten zum Vorschein kommen, verweisen auf das anhaltende Legitimationsdefizit der SED.17 Trotz des »Neuen Kurses« blieb eine breite Akzeptanz ihrer Herrschaft unsicher, auch ein Jahr nach dem Volksaufstand war die Konsolidierung ihrer Herrschaft noch lange nicht abgeschlossen.

1.3 Gescheiterte Wiedervereinigung: beschleunigte Blockbildung

Zu den außenpolitischen Großereignissen des Jahres 1954 zählte die Berliner Außenministerkonferenz: Gleich die ersten beiden Monate des Jahres standen ganz im Zeichen der von Winston Churchill initiierten Viermächtekonferenz in Berlin. Zwischen dem 25. Januar und dem 18. Februar sondierten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion Möglichkeiten, die Teilung Deutschlands zu überwinden. Durch den Tod des sowjetischen Diktators Stalin im März 1953 schien eine Verständigung der Westmächte mit der neuen sowjetischen Führung zwar denkbar, doch realpolitisch waren die Voraussetzungen kaum gegeben: Die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis war weit fortgeschritten und nicht zuletzt im Hinblick auf die Erfahrung des 17. Juni 1953 bestand dort kein Bedürfnis, den erreichten Status quo grundsätzlich zu verändern. Entsprechend waren die Hauptstreitpunkte die Bündniszugehörigkeit eines potenziell wiedervereinigten Deutschlands und der Zeitpunkt freier Wahlen. In einem am 4. Februar vorgestellten Konzeptpapier forderte der sowjetische Außenminister Molotow zum Beispiel als ersten Schritt zur Wiedervereinigung die Bildung einer provisorischen gesamtdeutschen Regierung, deren Mitglieder jeweils zur Hälfte von der Volkskammer und dem Deutschen Bundestag bestimmt werden sollten. Der zweite Schritt sah den Abzug aller Besatzungstruppen und die Aushandlung eines Friedensvertrags unter deutscher Beteiligung vor. Erst ganz zum Schluss sollte es zu freien Wahlen unter bestimmten Voraussetzungen kommen.18 Bei seinem Fahrplan zur Einheit, der sich eng an die Stalin-Note vom März 1952 anlehnte, legte Molotow großen Wert auf eine Verknüpfung der Deutschlandfrage mit der europäischen Sicherheit.19 Als Alternative zu gegensätzlichen Bündnissystemen sprach er häufig über ein System der kollektiven Friedenssicherung – eine Idee, die in der westlichen Öffentlichkeit durchaus Anklang fand und das starke sowjetische Verlangen nach einer Sicherheitsgarantie widerspiegelte.20

Die Westmächte fanden Molotows Ablaufplan völlig inakzeptabel und bestanden in ihren Redebeiträgen auf freie gesamtdeutsche Wahlen als erste Etappe zur Wiedervereinigung. Erst im Anschluss sollten die Ausarbeitung einer Verfassung und die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung als Partner für Friedensvertragsverhandlungen erfolgen.21 Weil beide Seiten unnachgiebig auf ihren Positionen verharrten, zeichnete sich schon nach wenigen Tagen ein Scheitern der Außenministerkonferenz ab. Letzten Endes bestätigte das Viermächtetreffen nur den Status quo. Das Ziel der Alliierten im Jahr 1954 war nicht die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern die abschließende Einbindung des eigenen Teilstaates in die jeweils eigene Einflusssphäre.22

Für die Westseite bestand eine solche Einbindung in erster Linie in der Schaffung einer gemeinsamen Armee von Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten.23 Die Debatte um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die Westeuropa einen deutschen Verteidigungsbeitrag und der Bundesrepublik die volle Souveränität gebracht hätte, erreichte in den Monaten nach der Konferenz ihren Höhepunkt: Die Bundesrepublik, die den Vertrag zur Europaarmee bereits ein Jahr zuvor ratifiziert hatte, schuf mit einer Grundgesetzänderung am 26. März 1954 die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eigene Streitkräfte und die Einführung der Wehrpflicht.24 Die DDR-Seite hielt mit einer Volksbefragung dagegen und geißelte das Projekt als »Adenauers Kriegspakt«.25 Flankiert wurde diese Kampagne mit diplomatischen Noten der Sowjetunion, in denen immer wieder die Idee eines Systems der kollektiven Sicherheit ins Spiel gebracht wurde.26

Fast täglich gaben die Stasi-Berichte Meinungen zu diesem Themenkomplex wieder. Besonders aufmerksam wurde dabei das Scheitern der EVG im August 1954 verfolgt, das weniger durch östlichen Gegendruck, sondern vor allem durch die Widerstände in der französischen Nationalversammlung zustande kam. Frankreich fürchtete ein militärisches Übergewicht Deutschlands und war der EVG stets mit großen Vorbehalten begegnet.27 Gaullisten, Kommunisten und Teile der Radikalsozialisten brachten die Nationalversammlung daher Ende August dazu, die Ratifizierung der EVG von der Tagesordnung der Nationalversammlung zu nehmen. Dieser Schritt war mehr als nur eine vorübergehende Aussetzung der Debatte, mit ihm war der militärische Zusammenschluss Westeuropas vorerst gescheitert.28

Politischer Stillstand, auch das spiegeln die Stasi-Berichte, herrschte in den Wochen nach dieser Entscheidung aber keinesfalls. Mit Nachdruck hielten die USA und Großbritannien an einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag fest – wenn nicht im Rahmen der EVG, dann unter dem Dach der NATO. Diesen Ansatz hatte die Bundesregierung trotz ihrer Unterstützung der Europaarmee stets bevorzugt. Frankreich, das eine Isolation im westlichen Lager vermeiden wollte, zeigte sich für diesen Weg letztlich offen. Auf britische Vermittlung wurden auf der Londoner Neunmächtekonferenz vom 28. September bis 3. Oktober 1954 die Weichen für den Aufbau einer westdeutschen Nationalarmee gestellt. Konkretisiert wurde die neue Sicherheitsarchitektur für Deutschland und Europa in den im Anschluss ausgehandelten Pariser Verträgen, die am 23. Oktober 1954 unterzeichnet wurden. Mit diesem Konvolut aus elf Einzelabkommen und Protokollen stand der Entlassung der Bundesrepublik in die Teilsouveränität und der Aufhebung des seit Kriegsende bestehenden Besatzungsrechtes im Mai 1955 nichts mehr im Wege.

Die Sowjetunion war von dieser Entwicklung überrascht und versuchte mit einer letzten Notenoffensive, den NATO-Beitritt der Bundesrepublik zu verhindern,29 indem sie für Ende November erneute Gespräche über die deutsche Frage und die europäische Sicherheit vorschlug. Nachdem dieses Angebot von den drei Westalliierten ausgeschlagen worden war, sah die Kreml-Führung einen letzten Ausweg darin, ein eigenes militärisches Sicherheitssystem als Gegengewicht zu installieren. Vertreter des kommunistischen Blocks kamen auf Einladung der Kreml-Führung vom 29. November bis 2. Dezember 1954 in Moskau zusammen und bekräftigten in einer gemeinsamen Deklaration zunächst die Positionen Molotows auf der Viermächtekonferenz – Einbettung eines neutralen und wiedervereinigten Deutschlands in ein System der kollektiven Sicherheit –, um anschließend überraschend bekanntzugeben, dass »im Falle der Ratifizierung der Pariser Abkommen gemeinsame Maßnahmen bei der Organisation der Streitkräfte und ihres Kommandos« getroffen würden, »die für die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit erforderlich sind«.30 Ministerpräsident Otto Grotewohl, der auch Delegationsleiter der DDR in Moskau war, sprach von einer Notwendigkeit, »nationale Streitkräfte zu schaffen«, falls die Bundesrepublik eine »reguläre Armee« gründe.31 Erstmals wurde hier offiziell eine Aufrüstung des Ostens angekündigt.

In der DDR-Bevölkerung stießen solche Aussagen auf breite Ablehnung, besonders da sich die SED und Moskau bis dahin als konsequente Antimilitaristen inszeniert hatten. Die Stasi-Berichte zeigen eindrucksvoll, wie die dynamische Entwicklung auf internationaler Ebene ein vielfältiges und gegensätzliches Echo in der DDR-Bevölkerung bezüglich einer Wiederbewaffnung hervorrief. »Die ganzen Jahre hat man jetzt gepredigt, dass kein Militär wieder aufgestellt werden soll und jetzt sprechen sie von der Aufstellung nationaler Streitkräfte«, soll sich zum Beispiel eine Landarbeiterin aus Staßfurt beschwert haben.32 Schnell wurde deutlich, dass sich die sicherheitspolitischen Gegenmaßnahmen des Ostblocks nur schwer mit der jahrelangen pazifistischen Agitation der SED-Führung gegen die EVG vereinbaren ließen.

Der Ratifizierungsprozess für die Pariser Verträge wurde durch die Noten und Konferenzen der Sowjetunion allerdings wenig durcheinandergebracht. Nach Zustimmung aller Parlamente der Signatarstaaten konnte das Vertragswerk am 5. Mai 1955 in Kraft treten. Am Ende des Jahres 1954 standen sich zwei in gegensätzliche Lager integrierte, auf beiden Seiten für teilsouverän erklärte deutsche Teilstaaten gegenüber.

1.4 Flugblätter, Sabotage, Schauprozesse: 1954 als heiße Phase des Kalten Krieges

Neben den dramatischen Vorgängen auf internationaler Ebene kommen in den Berichten der Staatssicherheit auch die vielfältigen Auseinandersetzungen im Rahmen des deutsch-deutschen Systemkonflikts zum Vorschein.

Der SED und der Staatssicherheit war die anhaltende westliche Propaganda ein besonderer Dorn im Auge. Dazu gehörten beispielsweise von westlichen Medien verbreitete Gerüchte über Streiks und Unruhen in DDR-Betrieben.33 Besonders gehäuft traten diese Meldungen zur Zeit der Viermächtekonferenz im Januar und Februar 1954 auf. Mit Werksbesuchen für Journalisten und eilig anberaumten Pressekonferenzen versuchte die SED-Führung, gegen solche »Lügenkampagnen« vorzugehen und die Einmütigkeit mit der Arbeiterschaft herauszustellen.34

Wichtiges Propagandamittel neben Rundfunksendungen und geschmuggelten Zeitungen waren Flugblätter, die mithilfe von Gasballons und Kurieren in die DDR geschleust wurden. Die Staatssicherheit registrierte akribisch Anzahl, Verteilungsorte und Inhalt dieser Schriftstücke. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1954 sollen es über 6 Millionen Stück gewesen sein.35 Die sogenannten Hetzschriften waren mitunter gut getarnt. Sie glichen in ihrer Aufmachung oft offiziellen DDR-Presseorganen, riefen aber dazu auf, SED-Zeitungen abzubestellen, Privatunternehmen zu unterstützen oder enteignete Betriebe und Geschäfte zurückzuverlangen.36 Unterschrieben wurden sie mit immer neuen Namen wie »Komitee 17. Juni« oder »Freiheitskomitee Bismarck«. Dahinter standen in der Regel große Organisationen wie die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) oder der »Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen« (UFJ).37 In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre gab es unzählige solcher Gruppierungen, die der Stasi als »Feindzentralen« galten. In den Berichten an die SED-Führung werden unter anderem die antikommunistische Vereinigung »NTS«38 oder die Ostbüros von SPD, CDU und FDP aufgeführt.39 Sie wirkten nicht nur mit Propagandakampagnen auf die DDR-Bevölkerung ein, sie unterhielten auch geheime Netzwerke politischer Anhängerinnen und Anhänger, die nicht selten auch als Informationsbeschaffer für westliche Geheimdienste zum Einsatz kamen.

Die Staatssicherheit tat mit den bereits Ende 1953 begonnenen »Konzentrierten Schlägen« alles, um solche Aktivitäten zu unterbinden. Dabei griff sie auch zu Entführungen. Die Verschleppung des Leiters der Westberliner Dependance des NTS Alexander Truschnowitsch im Frühjahr 1954 beschäftigte monatelang die bundesdeutsche und internationale Öffentlichkeit und nimmt auch in den hier edierten Dokumenten einen größeren Raum ein.40

Im Auftrag des sowjetischen und ostdeutschen Geheimdienstes hatte Heinz Gläske am 13. April Truschnowitsch in seiner Westberliner Wohnung überfallen und in die DDR verschleppt. Gläske, der für die Organisation Gehlen tätig war und Truschnowitsch aus dem Westberliner Geheimdienstmilieu kannte, hatte sich vom KGB anwerben lassen und die Entführung organisiert.41 Die SED machte aus dem Vorfall einen Propagandacoup. Eine vorgefertigte, vermutlich von der Stasi verfasste Erklärung Truschnowitschs, die das »Neue Deutschland« am 21. April abdruckte, stellte seine angebliche Flucht als Protest gegen den Einsatz von NTS-Angehörigen für Diversionsakte, Spionage und Terror gegen die DDR dar.42 Zu diesem Zeitpunkt war Truschnowitsch aller Wahrscheinlichkeit nach bereits auf dem Weg in ein geheimes Straflager ums Leben gekommen. Offiziell wurde sein Tod erst 1992 durch die russischen Behörden eingeräumt.43

Nebenbei sorgten diese Geschehnisse bei der Westberliner Bevölkerung für Verunsicherung. Von der SED einkalkuliert, hinterließ der Menschenraub ein Bedrohungsgefühl, welches das Vertrauen in die öffentliche Sicherheit und damit die Westberliner Behörden sowie nicht zuletzt die Westalliierten untergraben sollte. Die Stasi berichtete über solche Stimmungen, so zum Beispiel von einer Kundgebung des NTS am Berliner Funkturm mit über 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, auf welcher Spitzenpolitiker wie Willy Brandt, Ernst Lemmer oder Carl-Hubert Schwennicke die Westberliner Polizei kritisierten und eine bessere Sicherung der Sektorengrenze forderten.44

Das Hauptaugenmerk der »Konzentrierten Schläge« lag jedoch auf den westlichen Geheimdiensten. Die Stasi führte im Laufe des Jahres mehrere groß angelegte Verhaftungskampagnen durch. Allein im August 1954 wurden binnen weniger Tage mehr als 500 Personen in Untersuchungshaft genommen.45 Die Stasi war dabei bemüht, diese Zugriffe in der Öffentlichkeit als notwendig und keineswegs willkürlich erscheinen zu lassen. Begleitet wurden die »Aktionen« deshalb von einer aufwendigen Öffentlichkeitsarbeit: Stasi-Offiziere sprachen auf Betriebsversammlungen über den Erfolg ihrer Abwehrarbeit und präsentierten sichergestelltes Beweismaterial, das die Inhaftierten der Planung von Anschlägen oder der Spionage überführen sollte.46

Tatsächlich erwies sich die Spionageabwehr der Stasi als erfolgreich: Alle westlichen Geheimdienste, insbesondere aber der BND-Vorläufer, die Organisation Gehlen, mussten empfindliche Verluste durch Verhaftungen ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hinnehmen. In Schauprozessen ließ die SED einige der Verhafteten zur Abschreckung aburteilen. Den Höhepunkt bildete 1954 der Schauprozess gegen sieben Gehlen-Agenten im November. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, militärisch wichtige Informationen weitergeleitet sowie Brücken, Depots und Weichen der Deutschen Reichsbahn beschädigt zu haben. Zwei der Angeklagten waren zudem als Funker ausgebildet worden und sollten im Falle eines Krieges Informationen aus dem Rücken der Front in den Westen übermitteln. Das Gericht und zahlreiche östliche Zeitungskommentatoren waren sich einig, dass es sich hierbei um direkte Kriegsvorbereitungen auf deutschem Boden gehandelt hatte.47 Verlauf und Urteil des Verfahrens vor dem Obersten Gericht standen im Voraus fest, Stasi und DDR-Justiz inszenierten hier eine Bühne, um die Gefährlichkeit des Feindes und die eigene Überlegenheit gleichermaßen unter Beweis zu stellen.48 Auch die Berichte der Staatssicherheit gehen auf diesen Prozess ein. Zwischen dem 1. und 8. November wurden für jeden Verhandlungstag die Reaktionen der Bevölkerung in gesonderten Anhängen aufgelistet.49

Das Urteil für die sieben Angeklagten fiel drakonisch aus: Erstmals ließ die SED im Rahmen der Kampagne Todesurteile verhängen. Die beiden Hauptangeklagten Karli Bandelow und Ewald Misera wurden noch in der Nacht vom 10. auf den 11. November in der Untersuchungshaftanstalt Dresden hingerichtet. Die fünf anderen Angeklagten erhielten langjährige Zuchthausstrafen.50

Schauprozesse, Sabotageakte, Zwangsverschleppungen – die Berichte des Jahres 1954 zeigen das ganze Ausmaß des Geheimdienstkrieges in Ostdeutschland. Die SED-Führung konnte in diesem Zusammenhang aus zwei Ereignissen besonderes politisches Kapital schlagen. Mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Otto John und dem CDU-Politiker Karlfranz Schmidt-Wittmack traten 1954 zwei ranghohe Vertreter der Bundesrepublik in die DDR über. Im Fall Otto John muss an dieser Stelle offenbleiben, was ihn zu seinem Seitenwechsel im Sommer 1954 veranlasste. Die SED-Propaganda führte den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten am 15. August 1954 vor die Weltpresse und ließ durch ihn bestätigen, was die offizielle Propaganda ohnehin immer wieder verkündet hatte: dass in der Bundesrepublik alte Nationalsozialisten insbesondere in Sicherheitskreisen das Sagen hatten und den Frieden und die Stabilität in der DDR gefährdeten. Im Kern waren diese Anwürfe nicht falsch, was das politische Erdbeben, das der Fall John in Westdeutschland auslöste, nur zusätzlich bestärkte.51 Zugleich täuschte der Vorgang aber darüber hinweg, dass umgekehrt auch die Bundesrepublik von östlichen Geheimdiensten bedroht wurde. Beim Übertritt des CDU-Politikers und Bundestagsabgeordneten Karlfranz Schmidt-Wittmack, der aller Wahrscheinlichkeit nach seit 1948 unter anderem für die Stasi spioniert hatte, wurden diese Zusammenhänge in der SED-Propaganda verschwiegen. Ähnlich wie John nutzte die SED den Vorgang neuerlich, um auf die von Westdeutschland ausgehende »Kriegsgefahr« zu verweisen.

1.5 Neuer Kurs ohne Kompass: die Wirtschaftspolitik im Jahr 1954

Die oben geschilderten Auseinandersetzungen verdeutlichen, dass sich die SED-Führung im Jahr 1954 zahlreichen politischen Herausforderungen stellen musste, zentral war hierbei die Wirtschaftspolitik. Das ökonomische Handeln der SED in diesem Jahr lässt sich als ambivalent charakterisieren und mit den gegensätzlichen Begriffen »Konzession« und »Leistungsdruck« zusammenfassen.

Erleichterte Arbeitsbedingungen, ein gehobener Lebensstandard, aber auch eine höhere Produktivität der Arbeiter- und Bauernschaft – diese nur schwer zu vereinbarenden Ziele standen für die Parteiführung im Zentrum, um eine langfristige Stabilisierung der politischen Ordnung und eine Befriedung der Gesellschaft zu erreichen. Gelingen sollte das mit der Fortsetzung des bereits Anfang Juni 1953 eingeleiteten »Neuen Kurses«. Auf der einen Seite hieß das, Beschäftigte sowie Verbraucherinnen und Verbraucher stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Die Wirtschaftsverwaltung verzichtete auf die Anhebung von Arbeits- und Ablieferungsnormen, erhöhte dafür die Löhne und zeigte sich bei der Gewährung von Prämien großzügig, um den sozialen Frieden in den Betrieben des Landes wiederherzustellen. Makroökonomisch wurde der bis 1953 forcierte Aufbau der Schwerindustrie zurückgestellt und die Konsum- und Leichtgüterproduktion gefördert, was die Versorgungslage in der DDR stabilisieren sollte. Dafür nahm die SED vom exzessiven Wirtschaftswachstum der zurückliegenden Jahre Abstand. Die mittlere jährliche Zuwachsrate fiel von 20 Prozent im Jahr 1952 auf etwa 8 Prozent im Jahr 1954.52 Das Eisenhüttenkombinat bei Fürstenberg, das größte Investitionsprojekt des Jahres 1954, bekam diese neue Linie deutlich zu spüren: Es musste auf vier geplante Hochöfen und ein komplettes Stahlwerk verzichten.53

Zugleich wurde auch der seit 1952 erhöhte Druck auf private Unternehmen und landwirtschaftliche Betriebe vermindert. Der Staat reduzierte die steuerliche Belastung, gewährte wieder Kredite und milderte die Strafen für Ablieferungs- und Zahlungsausfälle. Selbst die Verstaatlichung wurde weitgehend abgestoppt. Einige aus der DDR geflohene Bauern und Bäuerinnen oder Gewerbetreibende kehrten zurück und erhielten in Einzelfällen sogar ihr Eigentum zurück.54 Selbst die Agitation gegenüber »Großbauern«, nach SED-Definition Landwirte mit mehr als 20 Hektar Ackerfläche, die bis zum Volksaufstand im Fokus der SED-Propaganda gestanden hatten, wurde zurückgefahren. Um ihre Erfahrung und Wirtschaftskraft zu nutzen, gestattete die SED-Führung auch deren Eintritt in eine LPG.55

Die binnenwirtschaftlichen Maßnahmen reichten aber am Ende nicht aus, um die ökonomische Lage zu stabilisieren. Entscheidend waren wirtschaftliche Entlastungen durch die Sowjetunion: Als direkte Folge des Volksaufstands reduzierte Moskau die Besatzungskosten von 2 auf 1,6 Milliarden DM-Ost, verzichtete auf 3 Milliarden Dollar Reparationszahlungen und übertrug 33 SAG-Betriebe mit einem Wert von gut 3 Milliarden DM-Ost an die DDR.56 Obendrein wandelte die sowjetische Regierung das Bergbauunternehmen Wismut in eine deutsch-sowjetische Mischgesellschaft um, woraus sich weitere finanzielle Erleichterungen für die DDR ergaben.57

Ein Blick in die Stasi-Berichte verrät, dass sich trotz dieser umfassenden Unterstützung die beiden Kernziele der SED – eine höhere Rentabilität und Produktivität der Betriebe sowie ein steigender Lebensstandard der Bevölkerung – nur schwer erreichen ließen. Die Wirtschaftsprobleme waren zu grundlegend, als dass sie in kurzer Zeit zu beheben waren. Dazu zählten Organisationsprobleme in den Industrie- und Landwirtschaftsbetrieben, die gleichermaßen Ursache und Folge der ökonomischen Leistungsschwächen waren: Aus den VEB berichteten Stasi-Offiziere zum Beispiel über häufige Stillstandzeiten, fehlende Fachkräfte und wiederkehrende Abstimmungsprobleme zwischen Zulieferern und Produzenten. An vielen Stellen wird ein chronischer Mangel an Materialien, Rohstoffen und Ersatzteilen sichtbar, der einem kontinuierlichen Produktionsprozess im Wege stand. Es wird über Schuhfabriken ohne Leder, Brauereien ohne Malz und Karosseriewerke ohne Fahrgestelle informiert. Fast jeder Bericht zählt etwa 20 Betriebe mit Materialengpässen auf, zum Beispiel das Reichsbahnausbesserungswerk Malchin, in dem im Juni 1954 »Radsätze, Puffer, Kupplungen, Zugstangen und Sicherungsbleche für Hähne« fehlten. »Außerdem können vier Wagen nicht herausgehen, weil keine Achsen vorhanden sind«, so die Stasi.58

Ähnliche Zustände wurden aus dem Agrarsektor gemeldet. Hier berichteten die Rapporte über schlecht gewartete Pflüge und Traktoren, verdorbene Lebensmittel in Lagerhallen und eine chronische Unterversorgung der Höfe mit Futter-, Saat- und Düngemitteln. Nicht selten wurden die LPG erst dann beliefert, wenn die Viehbestände bereits stark unterernährt und die Aussaat- und Wachstumsphasen bereits vorbei waren.

Hauptgrund für all diese chaotischen Zustände, das scheint auch in den Berichten immer wieder durch, war die Überregulierung der Bauernhöfe und Fabriken mit unrealistischen Preisvorgaben, hohen Zwangsablieferungen sowie starren Produktions-, Anbau- und Viehhalteplänen, die auch im Zuge des »Neuen Kurses« nicht gelockert wurden.59 In der Landwirtschaft kam die oft unzureichende Qualifikation und Arbeitsdisziplin der Neubauern und Neubäuerinnen hinzu. Theresia Bauer spricht in diesem Zusammenhang von einer »Entprofessionalisierung der Agrarwirtschaft« als Nebenerscheinung der ab 1952 vorangetriebenen Kollektivierung.60

Für die Versorgungslage konnten diese strukturellen Probleme freilich nicht folgenlos bleiben: In den Berichten ist von fehlenden Verbrauchsgütern wie Kleidung, Schuhen und Möbeln, Engpässen bei Lebensmitteln wie Fleisch, Fisch und Butter, knappem Wohnraum und häufigen Unterbrechungen der Strom- und Wärmeversorgung zu lesen – Entbehrungen, die im Jahr 1954 weiterhin zum Alltag gehörten. Eine Hausfrau aus Dresden soll die Situation wie folgt kommentiert haben: »Bei uns ist alles wie ausgekehrt. Keine Wurst, kein Fleisch, kein Kaffee, keine Butter, Margarine nur ab und zu mal und dies schon seit ein paar Wochen. Die Bevölkerung meutert schon ganz schön. Vielleicht kommt wieder ein neuer 17. Juni.«61

Wie groß die Unzufriedenheit blieb, zeigt der Hinweis auf das Symboldatum des Volksaufstands. Eine Ursache dafür war auch, dass viele Menschen ihre Arbeits- und Lebenswelt nicht mehr nur mit der Vorkriegszeit, sondern zunehmend auch mit der Bundesrepublik verglichen, die mittlerweile ein rasantes Wirtschaftswachstum erlebte.62 Die Frustration, die aus dieser Referenz resultierte, fand in vielen Formen Ausdruck, etwa in den zum Teil deftigen Kommentaren in den Stasi-Berichten, in den zahlreichen Protestlosungen und Drohbriefen zu größeren politischen Ereignissen, aber auch in der Flucht vieler Arbeitskräfte in die Bundesrepublik – die Nettoabwanderung lag 1954 bei über 145 000 Personen.63 Dass die Fluchtbewegung in den Berichten überhaupt problematisiert wurde, ist bemerkenswert. Bis 1953 hatte die SED die Abwanderung in den Westen überhaupt nicht als Problem wahrgenommen und reagierte mit dem »Neuen Kurs« erst auf Anstoß Moskaus überhaupt das erste und einzige Mal mit einer politischen Richtungsänderung.64 Zu leiden hatten darunter vor allem die ländlichen Regionen, da ein Drittel aller Flüchtlinge aus den agrarisch geprägten Gebieten Mecklenburgs, Vorpommerns und Brandenburgs stammte, nicht selten junge und gut qualifizierte Fachleute.65 Aussaat, Ackerpflege, Ernte – der gesamte Jahreszyklus der Landwirtschaft – wurde dadurch nachhaltig beeinträchtigt. Zwischen 1953 und 1957 wurden gut 70 000 Höfe durch Westflucht aufgegeben, im Frühjahr 1954 lagen 13 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der DDR brach.66 Um diese verlassenen Äcker wenigstens notdürftig zu bestellen, wurden im September 1953 die »Örtlichen Landwirtschaftlichen Betriebe« (ÖLB) als neue Organisationsform ins Leben gerufen.67 Diese von den Räten der Kreise geführten Lohnarbeiterbetriebe sollten im Laufe des Jahres 1954 schrittweise in die bestehenden LPG überführt werden, was deren ohnehin schwache Rentabilität weiter schmälerte.68

Weil die eingeleiteten Maßnahmen keine grundlegende Verbesserung brachten, unternahm die SED weitere Schritte. Es wurde ein Maßnahmenpaket geschnürt, das aus drei Elementen bestand: Agitation, Aufsicht und Anreizen. Zunächst wurde die Kampagnenarbeit in den Agrar- und Industriebetrieben intensiviert: Zu Neujahr 1954 rief der ZK-Sekretär Gerhart Ziller das »Jahr der großen Initiative« aus, um von jedem Bauern und Arbeiter, jeder Bäuerin und Arbeiterin »Selbstverpflichtungen« für eine höhere Arbeitsleistung einzufordern.69 Es folgten regelmäßige Aufrufe zur Produktionssteigerung, etwa zum 1. Mai, zum IV. Parteitag, zur Volkskammerwahl oder zum Nationalfeiertag. Mit Beginn des Frühjahrs zogen Agitationsbrigaden in die Dörfer, um an sogenannten Landsonntagen zu mehr Engagement bei der Frühjahrsbestellung oder beim Ernteeinsatz aufzurufen.70 Parallel dazu versuchte die Aktion Industriearbeiter aufs Land, in Not geratenen Wirtschaften mit Arbeitskräften auszuhelfen. Auf diese Weise sollte die gravierende Landflucht wenigstens teilweise abgemildert werden.71

Neben diesen Kampagnen und Appellen war die SED-Führung ebenso an einer Stärkung der Parteikontrolle in den Betrieben interessiert. Das neue SED-Statut sah dafür erweiterte Parteiorganisationen in den größeren Kombinaten vor. Hinter dieser Maßnahme stand die Überzeugung, dass nicht die zentralen Parteibeschlüsse, sondern deren schleppende Umsetzung an der Basis die Wirtschaftsprobleme verursacht hatte.72

Die SED vertraute aber nicht nur auf Druck und Kontrolle, sondern servierte den »Werktätigen« in der zweiten Hälfte des Jahres auch noch ein kleines »Zuckerbrot«: Nach mehrfachen Ankündigungen senkte der Ministerrat im Juni und September 1954 die Preise für einige Genuss- und Lebensmittel, darunter Margarine, Zigaretten und Süßwaren.73 Gleichzeitig achtete die Regierung darauf, die Reallöhne nicht weiter absinken zu lassen. Die SED reagierte damit auf die Erfahrungen vom Juni 1953, als Lohnfragen entscheidend zum Protestgeschehen beigetragen hatten. Ausbleibende Normerhöhungen, höhere Lohnabschlüsse in der Privatwirtschaft und niedrigere Verbrauchspreise führten dazu, dass das Lohnniveau in der ersten Hälfte des Jahres 1954 um durchschnittlich 12 Prozent über dem Wert des Vorjahres lag.74

Unter dem Strich war der »Neue Kurs« im Jahr 1954 eine Mischung scharfer Agitation gegenüber der Industriearbeiter- und Bauernschaft, betriebswirtschaftlichen Konzessionen gegenüber privaten Landwirtschaften und Unternehmen sowie Anreizen für Verbraucher und Beschäftigte. Das Ergebnis war zwiespältig: Auf der einen Seite konnte sich der Privatsektor tatsächlich konsolidieren. Die Erlöse privater Bauernhöfe stiegen zwischen 1953 und 1955 um immerhin 38 Prozent.75 Auf der anderen Seite blieb die Rentabilität staatlicher Betriebe schwach. Ihnen gelang trotz aller Wettbewerbe kein effizienter Einsatz von Material und Arbeitskräften. Darüber hinaus führte die Lohn- und Preispolitik zu einer Verschuldung des Staates und zu einem Kaufkraftüberhang bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern – einem volleren Portemonnaie stand kein ausreichendes Angebot gegenüber.76 Die Stimmung in der Bevölkerung blieb dementsprechend schlecht. Das Kernziel des »Neuen Kurses« – die innere Stabilisierung durch Leistungssteigerung und höheren Wohlstand – konnte trotz einiger Verbesserungen im Jahr 1954 nicht erreicht werden.

2. Ausgewählte Themenfelder der Berichte

2.1 Innenpolitik: SED-Parteitag und Volkskammerwahl

Auf dem weiten Feld der Innenpolitik erhob die Stasi Meinungen schwerpunktmäßig zu wichtigen offiziellen Anlässen wie der Volkskammerwahl, dem Deutschlandtreffen der Jugend, den Staatsbesuchen der sowjetischen Regierungsvertreter Molotow und Mikojan oder zur Eröffnung der Leipziger Messe. Immer wieder tauchen dabei einzelne Aspekte auf, die – glaubt man den Berichten – die Menschen besonders aufzuwühlen und zu zahlreichen Äußerungen zu veranlassen schienen. Im Zusammenhang mit dem IV. Parteitag der SED wurde ausweislich der Berichte zum Beispiel nur am Rande über das neue Parteistatut oder die Neuaufstellung des ZK gesprochen – eigentlich die beiden wichtigsten Beschlüsse des Gremiums. Im Mittelpunkt der Diskussion stand vielmehr die Entscheidung der Parteiführung, die Lebensmittelmarken beizubehalten. Die Berichte vermitteln ein geteiltes Echo auf die Entscheidung der SED, an der Rationierung festzuhalten: Es werden zahlreiche Äußerungen präsentiert, welche die Beibehaltung des Markensystems guthießen, um Engpässe und Preiserhöhungen zu vermeiden. Ganz im Sinne der SED soll zum Beispiel ein Arbeiter aus Radegast gesagt haben: »Ich begrüße es, dass die Lebensmittelkarten noch nicht abgeschafft werden, denn man kann nicht die Karten wegfallen lassen, wenn die Sicherheit der Versorgung nicht gewährleistet ist.«77 Auf der anderen Seite präsentieren die Berichte aber auch zahlreiche Stimmen, die sich enttäuscht über diesen Schritt zeigten, immerhin hatte Ulbricht die Abschaffung der Marken bereits mehrfach versprochen und zuletzt im September 1953 für das Jahr 1954 in Aussicht gestellt. Ein Müller aus Colditz bei Leipzig soll seine Verärgerung mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht haben: »Im vergangenen Jahr hat man von der Aufhebung des Kartensystems gesprochen […] und jetzt ist wieder nichts. Man soll doch mit solchen Versprechungen aufhören, da kann doch kein Vertrauen zur Regierung entstehen.«78 Das Thema hatte für die SED eine besondere Brisanz, da immer wieder Vergleiche mit der Bundesrepublik gezogen wurden, wo die Lebensmittelkarten bereits 1950 abgeschafft worden waren. Ein Mitarbeiter eines thüringischen Wasserwerks wurde dazu wie folgt wiedergegeben: »Im vorigen Jahr war schon mal die Rede von der Abschaffung der Karten. Und jetzt will man dies nicht machen. Wenn man dagegen sieht, was es in Westdeutschland alles gibt, merkt man, wie weit wir zurückliegen.«79

Laut den Berichten liefen die Meinungsäußerungen während des IV. Parteitages immer wieder auf das Thema Lebensmittelkarten zu und der Stasi gelang es kaum, zu anderen Themen Meinungen einzuholen. Insgesamt fiel das Interesse am Parteitag augenscheinlich recht gering aus, obwohl alle Reden und Beschlüsse in den Zeitungen und Betrieben mit aufwendiger Propaganda begleitet wurden. Verbreitete Auffassung war, dass solche Versammlungen überhaupt nichts brächten und die »Bonzen« nur zum »Saufen und Fressen« kämen.80 Am Ende stand für die Bevölkerung die Versorgungsfrage im Mittelpunkt, die im Jahr 1954 alle Berichte dominierte.

Das zweite innenpolitische Großereignis des Jahres war die Volkskammerwahl am 17. Oktober 1954. Zu allen Etappen der Wahlinszenierung geben die Informationsdienste Stimmen aus der Bevölkerung wieder, von der Rechenschaftslegung der Abgeordneten über die Wählerkonferenzen der Kandidaten bis zum eigentlichen Wahlakt im Wahllokal. Besonders ins Auge fallen dabei die heftigen Debatten um die Einheitsliste. In den Berichten kommen zunächst zahlreiche Verfechter der Einheitsliste zu Wort, wie ein Arbeiter aus Karl-Marx-Stadt: »Ich kann nur begrüßen, dass man zur Volkskammerwahl im Oktober 1954 eine einheitliche Kandidatenliste aufstellt, wo alle Blockparteien und antifaschistischen Massenorganisationen verankert sind, denn wie war es denn während der Weimarer Republik, da bekämpfte eine Arbeiterpartei die andere und wo das hingeführt hat, das haben wir alle 1933 und in den weiteren Kriegsjahren erlebt.«81

Mit solchen und ähnlichen Äußerungen greifen die Stasi-Berichte die SED-Propaganda auf, indem sie die Argumente der SED übernehmen. Dazu zählt u. a. eine Negierung des westlichen Parlamentarismus, der durch Uneinigkeit, Zersplitterung und zerstörerische Partikularinteressen gekennzeichnet sei und die Instabilität der Vorkriegszeit in Erinnerung rufen sollte. Wer mehrere Parteien mit je eigenen Listen antreten lasse, so die Botschaft, zerstöre die Einheit der Nation. Die gemeinsame Liste der Nationalen Front wurde hingegen als echte Demokratie präsentiert, als gemeinsames Agieren aller progressiven Kräfte und als Symbol für Frieden und nationale Zusammengehörigkeit.

Daneben wird allerdings auch deutlich, dass das Wahlsystem auf vehemente Ablehnung stieß. Als Meinung einer Betriebsbelegschaft in Freiberg gab die Stasi wieder: »Wir wollen eine Parteiwahl und keine ›Ja- oder Nein-Wahl‹«. Und ein Schlosser aus Zittau wird ergänzend angeführt: »Ich verstehe unter freien Wahlen, dass man jede Partei wählen kann und jede Partei ein Programm aufstellt.«82 Je näher der Wahltag rückte, desto kritischer wurden die Kommentare. Die Argumente reichten von der Feststellung, die anderen Parteien seien im Block gefangen oder die SED habe Angst, mit einer eigenen Liste anzutreten, bis zur Äußerung, die Wahl ändere ohnehin nichts, da alle Sitze schon im Voraus vergeben seien.

Die Form der Stimmabgabe am Wahltag sorgte laut den Berichten für weitere Empörung. So scheinen der Wahlzettel, der keine Ja-/Nein-Optionen enthielt, sowie die stets weit abseits stehenden Wahlkabinen teils heftige Entrüstung hervorgerufen zu haben. »Ich bin viel gewöhnt, aber diesmal hat es mir die Sprache verschlagen«, wird ein Geschäftsmann aus Karl-Marx-Stadt wiedergegeben. »Ich bin gewiss nicht ängstlich, aber als man mir den Wahlschein in die Hand drückte, sind mir beide Arme heruntergefallen. Man war einfach nicht in der Lage, mit ›Nein‹ zu stimmen, denn vor der Kabine stand eine Frau wie ein Wachposten. Das war keine Wahl, sondern eine Zettelabgabe.«83 Auch dass in den Wahllokalen keine Stifte zum Ankreuzen vorhanden waren, sei spöttisch angemerkt worden. »Das ist ja eine schöne Wahl. […] Nicht einmal ein Bleistift war in der Kabine, um einige Kandidaten auszustreichen. Mit Demokratie hat dies nichts mehr zu tun«, so ein von der Stasi zitierter Mitarbeiter aus dem VEB Kraftwerk in Leipzig.84 In den Berichten zu den Volkskammerwahlen finden sich immer wieder auch sarkastische und wütende Äußerungen, welche die Abstimmung ganz grundsätzlich infrage stellen und als »Farce«, »Viehzählung«, »Kasperltheater«, »Handzettelverteilung« oder »größten Wahlschwindel seit den Hitlerwahlen« bezeichnen. »Einen schlimmeren Betrug wie diese Wahlen kann man sich kaum vorstellen«, wird ein Angestellter aus Hohenstein-Ernstthal angeführt. »Ich habe vieles erwartet, was man uns aber damit vorgesetzt hat, stellt alles Bisherige in den Schatten.«85

Die in den Informationsdiensten aufgeführten Kritiken verweisen auf ein gewisses Demokratieverständnis in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung. Sowohl die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit als auch die Wahlen in der Bundesrepublik dürften als Vergleichsfolie gedient haben, wie echte Wahlen auszusehen hatten. Am 20. Oktober kam auch die Stasi nicht umhin einzuräumen, dass eine breite Mehrheit über den Ablauf der Wahl empört war: »Solche Äußerungen, dass es nicht richtig war, dass keine Bleistifte in den Wahlkabinen zur Verfügung standen oder dass von einer Wahl gar nicht gesprochen werden könnte, da es nichts anzukreuzen gab, stammen aus allen Schichten der übrigen Bevölkerung, ja selbst von Genossen unserer Partei.«86 Der Versuch, die Bürgerinnen und Bürger zu einem Bekenntnis zum Staat aufzurufen und die Verbundenheit von Volk und Nation zu zelebrieren, war gescheitert. Anders als beabsichtigt, hatte das Wahlprozedere das ungebrochene Legitimationsdefizit der SED-Herrschaft erneut bestätigt.

2.2 Außenpolitik: Viermächtekonferenz, EVG und Wiederaufrüstung

Neben Reaktionen auf innenpolitische Themen kommen in den Berichten auch Reaktionen zu den zahlreichen außenpolitischen Ereignissen des Jahres 1954 zur Sprache. Gleich zu Jahresbeginn wurde die Informationstätigkeit der Stasi von der Viermächtekonferenz in Berlin dominiert. Zwischen dem 25. Januar und dem 18. Februar referierten die Informationsgruppen in zwei Berichten pro Tag Reaktionen zu allen Details des Außenministertreffens, zum Beispiel zur Tagesordnung der Verhandlungen, den Anfahrtswegen der Delegationen, dem Werben der DDR-Regierung für eine Teilnahme deutscher Vertreter oder die vielen Paraden, Aufrufe und Unterschriftenaktionen, von denen die Konferenz flankiert wurde.87 Im Rahmen der geheimpolizeilichen Überwachungsaktion »Frühling« sendete die zentrale Informationsgruppe in Berlin in regelmäßigen Abständen Beobachtungsaufträge an die Bezirksverwaltungen.88 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen die Reaktionen auf das Handeln der östlichen Seite, also die Positionen der sowjetischen Delegation und der DDR-Regierung. Vor allem die Auftritte des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow wurden minutiös verfolgt, hier besonders sein Redebeitrag vom 4. Februar, in dem er seinen Plan für die Wiedervereinigung Deutschlands vorstellte. An dieser Stelle ist gut zu erkennen, dass sich die Informationserhebung bzw. die Darstellung von Reaktionen durch die Stasi an der SED-Propaganda zur Konferenz orientierte. Meinungen wurden hauptsächlich zu den Auftritten und Forderungen der sowjetischen Delegation eingeholt, also jenen Vorgängen, die auch in Leitartikeln und auf Kundgebungen intensiv propagiert wurden.

Deutlich wird in den Berichten auch, dass die einseitige Vermittlung der Konferenz in den DDR-Medien kritische Stimmen hervorrief. Der Hinweis, dass für eine ausgewogene Einschätzung auch die Vorschläge und Reden der westlichen Seite veröffentlicht werden müssten, taucht in fast allen Tagesberichten dieser Zeit auf. »Man soll in Radio und Zeitungen nicht nur die Reden von Molotow bringen, sondern auch die der anderen Außenminister«, wird eine Beschäftigte des VEB Saxonia in Sebnitz wiedergegeben.89 Ein Mitarbeiter des Köpenicker Kabelwerks habe geäußert, dass man die wörtliche Wiedergabe bewusst vermeide – »sonst könnten wir vielleicht von dem überzeugt werden, was die anderen sagen«.90 Für das SfS handelte es sich bei solchen Äußerungen um »negative objektivistische Tendenzen«.91

Der Unmut über die eindimensionale Berichterstattung kann u. a. darauf zurückgeführt werden, dass zahlreiche Bürgerinnen und Bürger die Viermächtekonferenz aufmerksam verfolgten. Denn hier sollte auch über die in Deutschland populäre Wiedervereinigung verhandelt werden.92 Die Reaktionen zu einem wiedervereinigten Deutschland bilden in den Berichten ebenso einen Schwerpunkt wie die Meinungsäußerungen über die von Molotow vorgetragene Idee eines europäischen Systems der kollektiven Sicherheit. Nicht zuletzt geben die Rapporte auch zahlreiche Stimmen wieder, die mit der Außenministerkonferenz die Hoffnung verbanden, dass Deutschland seine ehemaligen Ostgebiete zurückerhalten oder es eine Rückkehrmöglichkeit in die alte Heimat geben würde. An mehreren Stellen heißt es, dass die Oder-Neiße-Grenze jetzt schleunigst »revidiert« oder »beseitigt« werden müsse.93 Mit ihrem vorverurteilenden Duktus qualifizierte die Staatssicherheit solche Aussagen reflexhaft als reaktionäre Ansichten von »Großbauern« oder »kleinbürgerlichen Kreisen« ab.

Zu einem Thema wurden besonders viele Meinungsäußerungen geliefert: die Frage nach den freien Wahlen. Vor allem der Vorschlag des britischen Außenministers Anthony Eden, an den Anfang aller Verhandlungen freie Wahlen zu stellen, hatte ausweislich der Berichte eine starke Wirkung auf die DDR-Bevölkerung entfaltet.94 Immer wieder konstatierte die Stasi, dass »Diskussionen über freie Wahlen im westlichen Sinne anhalten«.95 Ein Arbeiter aus Stolzenhagen bei Bernau wurde exemplarisch mit den Worten wiedergegeben: »In den Versammlungen traut sich keiner zu diskutieren, aber in den Arbeiterzügen nach Berlin wird rege diskutiert. […] Die häufigste Diskussion tritt über die freien Wahlen auf. Oft wird geäußert, dass die SED ruhig freie Wahlen durchführen kann, dann könne sie mit ihrer Regierung nach Hause gehen.«96

Einheit, Grenze, freie Wahlen – die drei Punkte verweisen auf eine aufgewühlte und erwartungsvolle Sicht der Bevölkerung auf die Viermächtekonferenz. Euphorie, das geht aus den Berichten allerdings ebenso hervor, stellte sich dabei kaum ein. Vielmehr lässt sich aus vielen Aussagen eine realistische Zurückhaltung gegenüber den Verhandlungen herauslesen: Die Gegensätze seien zu groß, jeder beharre auf seinem Standpunkt und das Ganze sei eine große Geldverschwendung, so zahlreiche Äußerungen. Das einem Tischler aus Wiedersberg zugeschriebene Statement fasst eine in den Berichten häufig wiedergegebene Meinung zusammen: »Die Konferenz wird so verlaufen, wie sie vorgesehen war, nämlich dass sie sich nicht einigen. Die Konferenz kostet den Staat nur einen Haufen Geld und nichts kommt dabei heraus.«97

Der ergebnislose Ausgang der Verhandlungen bestätigte solche Vorbehalte. Die hoffnungsvollen Erwartungen wurden nicht erfüllt, Ungeduld und Ärger prägten die letzten Tage der Konferenz.98 Beispielhaft für diese Haltung wurde eine Äußerung eines Bauern aus Parey im Bezirk Magdeburg niedergeschrieben: »In Berlin ist nun praktisch drei Wochen verhandelt worden, aber Ergebnisse sind nicht erzielt. Da hat bald die ganze Arbeit keinen Zweck mehr. Ich bin der Meinung, wenn die Deutschen nicht bald selbst die Schlagbäume beseitigen und die Einheit herstellen, ist alle Arbeit vergebens.«99

Die im Zuge der Berichterstattung über die Konferenz angesprochenen Themen blieben unter anderen Vorzeichen auch im weiteren Verlauf des Jahres relevant, zum Beispiel die Thematik der freien Wahlen ganz besonders im Rahmen der Volkskammerwahlen im Oktober 1954. Außerdem wurden die Positionen der Sowjetunion – zur Wiedervereinigung, einem Friedensvertrag und der kollektiven Friedenssicherung – immer wieder herausgestellt und propagiert, sei es bei einer der vielen diplomatischen Noten der SU oder in Hinblick auf größere internationale Ereignisse wie der Genfer Konferenz von April bis Juli 1954. Die SED rückte dabei ein Vorhaben in den Mittelpunkt ihrer außenpolitischen Kampagnen, das sie mit viel agitatorischem Aufwand als Gegenstück zu »Einheit« und »kollektiver Friedenssicherung« geißelte: die Pläne der westlichen Staaten zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Das gesamte Jahr 1954 prangerte die SED den »Kriegspakt« des Westens als größte Bedrohung des deutschen Volkes an. Die Stasi-Berichte deuten an, dass dieses Narrativ in der ostdeutschen Bevölkerung durchaus verfing bzw. eine auch in Westdeutschland anzutreffende pazifistische Grundeinstellung vieler Deutscher nicht einmal zehn Jahre nach dem Krieg traf. Unter Berufung auf einen Bauern aus Flöha hielt die Stasi fest: Die Westmächte wollten »aus Westdeutschland ein neues Rüstungszentrum machen und Westdeutschland als Absprungbasis für einen neuen Krieg benutzen«.100

Besonders während der sogenannten Volksbefragung vom 27. bis 29. Juni 1954 lieferte die Stasi unzählige Stimmen, die den Aufruf der SED, sich gegen Krieg und »fünfzigjährige Besatzung« sowie für einen Friedensvertrag auszusprechen, unterstützten. Ganz im Sinne der Partei soll eine Rentnerin aus Sonneberg erklärt haben: »Ich bin eine alte Frau, habe zwei Weltkriege erlebt und einen Sohn verloren. Ich will deshalb in meinen alten Tagen im Frieden leben, darum gebe ich meine Stimme für einen Friedensvertrag ab.«101 In den Informationsdiensten lassen sich eine Vielzahl solcher parteiloyaler Aussagen finden. Mal werden die Westverträge als »Verewigung der Spaltung Deutschlands« und mal als »Verrat am deutschen Volk« verurteilt. Solche Meinungen sollten veranschaulichen, wie wirkungsvoll es der SED-Kampagne gelang, die verbreitete Angst vor einer militärischen Konfrontation mit den tiefsitzenden Ressentiments gegenüber dem Westen und der Sehnsucht nach der nationalen Einheit zu verknüpfen. Die Inhaberin eines Milchgeschäftes in Eichwalde bei Berlin wird zum Beispiel mit den Worten zitiert: »Ich verstehe gar nicht, dass es noch Leute gibt, die gegen die Volksbefragung agitieren, denn jedem Deutschen muss doch wohl die Einheit unseres Vaterlandes am Herzen liegen.«102 In welchem Maße die Stasi hier tatsächlich die Wirkung der Kampagne dokumentierte, muss offen bleiben. Zumindest erscheint es plausibel, dass pazifistische Grundeinstellungen kaum zehn Jahre nach Kriegsende dies- und jenseits des Eisernen Vorhanges noch stark verbreitet waren.

Ausweislich der Stasi-Berichte deutet sich dieser in der DDR-Bevölkerung verbreitete Pazifismus auch im Herbst 1954 an, als die Auseinandersetzung um die militärische Westintegration der Bundesrepublik ihren Höhepunkt erreichte. Ende August hatte die französische Nationalversammlung dem EVG-Vertragswerk eine Absage erteilt. Daraufhin sprachen sich die beteiligten Staaten schnell für einen NATO-Beitritt der Bundesrepublik aus und bündelten alle dafür notwendigen Modalitäten in den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten reagierten darauf mit der »Moskauer Erklärung«, in der sie den Ausbau militärischer Kapazitäten in Aussicht stellten, falls die NATO-Lösung umgesetzt werden würde. Delegationsleiter Grotewohl sprach in diesem Fall von der Notwendigkeit, »nationale Streitkräfte zu schaffen«.103

Die Wirkung dieser Ankündigung, das mussten die Informationsgruppen der Stasi feststellen, war verheerend. Zwar gelang es, einige unterstützende Aussagen zu sammeln: »wenn die im Westen eine aggressive Armee aufbauen, dann müssen wir auch etwas tun«.104 Ansonsten aber hagelte es vorwiegend Kritik. »Ich bin nicht für die Moskauer Deklaration und nehme auch kein Gewehr in die Hand. […] Mit der Aufstellung Nationaler Streitkräfte bin ich nicht einverstanden. Westdeutschland rüstet auch nur zur Verteidigung«, heißt es von einem Arbeiter von der Peene-Werft in Wolgast.105 Ähnlich entschieden wird ein Arbeiter aus Leipzig wiedergegeben: »Ich bin vollkommen gegen das Militär. Lasst doch die im Westen so viel rüsten, wie sie wollen. Wenn wir nicht schießen, wird von drüben auch nicht geschossen.«106

Die Stasi war von der Heftigkeit dieser Diskussion einigermaßen beeindruckt, wie die Stimmungsberichte zeigen. »Man spricht, als ob die Aufstellung nationaler Streitkräfte unmittelbar bevorstünde«, klagte sie am 9. Dezember.107 Die präsentierten Aussagen der Bürgerinnen und Bürger verweisen auf den offenkundigen Widerspruch zwischen dem jahrelang propagierten Antimilitarismus und der tatsächlich praktizierten Sicherheitspolitik als Ursache der teils vehementen Reaktionen: »Erst heißt es, wer ein Gewehr in die Hand nimmt, ist ein Kriegsverbrecher. Jetzt machen sie es selbst so. Denen ihre Politik ist doch Mist, sie widersprechen sich dauernd, sie sollen ihren Dreck selber machen, wir kämpfen nicht gegen unsere Brüder«.108

Dass die Empörung weite Teile der Gesellschaft erfasst haben musste, lässt sich aus den Berichten zweifellos ableiten. Die Stasi berichtete von Jugendlichen, die verkündeten, die baldigen Gestellungsbefehle zu zerreißen, von Landwirten, die sich weigerten, Resolutionen mit Bezug zur Moskauer Konferenz zu unterzeichnen, oder von Vorträgen in Industriebetrieben, in denen Referenten für die Deklaration warben, die immer wieder unterbrochen wurden. Ohne dass die SED bewusst darauf abgezielt hätte, entwickelte sich die Ankündigung, eine eigene Armee aufzustellen, zum alles beherrschenden Thema am Ende des Jahres.

Trotz der Breite und Vehemenz der Kritik finden sich in den Stasi-Berichten keine Wertungen solcher Einschätzungen als politische Fehleinstellungen. Stattdessen suchten die Berichterstatter anderweitige Erklärungen für die unerwartet harsche Ablehnung der Bevölkerung. So seien die Menschen »noch viel zu wenig über den aggressiven Charakter des amerikanischen und westdeutschen Imperialismus aufgeklärt« und es bestünden noch große »Unklarheiten« über Unterschiede zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg.109 Nur in wenigen Fällen enthalten die Berichte auch Hinweise, dass die SED-Organe und Massenorganisationen die Regierungspolitik vor Ort besser hätten vermitteln müssen: »Es bedarf deshalb noch einer großen Aufklärung, um vor allem die stark pazifistischen Auffassungen zu überwinden«, so in einem Informationsdienst vom 10. Dezember.110

2.3 Kalter Bürgerkrieg

Neben den hier geschilderten teils dramatischen Stimmungen zu großen innen- und außenpolitischen Ereignissen gab es ein drittes Themenbündel, das in den Informationsdiensten einen großen Raum einnahm, nämlich all die Begebenheiten, die im Rahmen der Systemkonfrontation zu verorten sind: Entführungen, Massenverhaftungen, Republikfluchten oder Propagandakampagnen. Im Fokus der Stasi-Berichte stand dabei der »Geheimdienstkrieg«.111 Unter der Rubrik »organisierte Feindtätigkeit« listeten die Berichte täglich die Aktivitäten antikommunistischer Gruppierungen auf, darunter die Sicherstellung von Flugblättern, Schmierereien oder Drohbriefen. Aus einigen der »Hetzschriften« gaben die Berichte längere Auszüge wieder. Diese veranschaulichen, was einzelne Organisationen – hier vor allem die KgU und der UFJ – unternahmen, um die Verwaltungs- und Wirtschaftsorgane der DDR zu destabilisieren: Sie sendeten gefälschte Regierungsanordnungen, setzten Gerüchte über Streiks in Umlauf, forderten Landwirtschaften auf, ihr Ablieferungssoll einzubehalten oder ermutigten Eisenbahner, Zugverspätungen zu initiieren. Somit spiegeln die Quellen die Intensität der westlichen Bemühungen, die DDR im Inneren zu destabilisieren.

Die »konzentrierten Schläge«, mit denen die Stasi diesen Angriffen begegnete, schlagen sich ebenfalls in den Berichten nieder. Zwar finden sich nur selten Reaktionen auf die Massenverhaftungen im Rahmen der Aktion »Pfeil« im August sowie die zahlreichen Referate von Stasi-Offizieren vor Bauernkollektiven und Industriebelegschaften.112 Doch Stimmen zu den Schauprozessen, die den öffentlichen Teil dieser Kampagnen bildeten, wurden ausgiebig gesammelt und präsentiert wie zum Strafverfahren gegen sieben Agenten der Organisation Gehlen zwischen dem 1. und 8. November vor dem Obersten Gericht der DDR. Zahlreiche Meinungsäußerungen wurden zu diesem aufwendig inszenierten Schauprozess zusammengetragen, für jeden Verhandlungstag gab es dafür einen eigenen Anhang zum Informationsdienst. Bemerkenswert ist, dass die meisten der aufgelisteten Aussagen ganz im Sinne der Anklage ausfielen und einige sogar noch weit darüber hinausgingen. In Betriebsversammlungen, so die Berichte, seien die Beschuldigten als »größte Feinde der Arbeiterklasse« bezeichnet und ihre »restlose Vernichtung« gefordert worden.113 Der Prozess, heißt es in anderen Kommentaren, decke die verbrecherische Rolle der Amerikaner auf und mache deutlich, mit welchen Methoden versucht werde, »gegen unsere DDR vorzugehen«.114 Auffallend häufig finden sich in den Stasi-Berichten Forderungen nach der Todesstrafe, ein Strafmaß, das bei den ursprünglichen Planungen des Strafverfahrens nicht vorgesehen war, am Ende aber auf Druck der SED-Führung trotzdem gegen die beiden Hauptangeklagten Misera und Bandelow verhängt wurde. Die Angestellten des VEB Kammgarnspinnerei in Schmalkalden werden zum Beispiel mit den Worten wiedergegeben: »Der Prozess gegen die sieben Gehlen-Agenten zeigt deutlich die Mordabsichten des westlichen Imperialismus gegen das deutsche Volk und gegen die Volksdemokratien. Wer zum Krieg schürt und Vorbereitungen trifft, dem muss man hart auf die Finger schlagen. Wir fordern für diese Verbrecher der Gehlen-Organisation die Todesstrafe.«115

Zweifelnde Stimmen zu diesem Gerichtsspektakel tauchen hingegen nur am Rande auf. Ein Kohlenförderer aus Freital soll zum Beispiel ausgeführt haben, dass der Gehlen-Prozess »eine aufgezogene Sache« sei und man dadurch nur den »Hass gegen Westdeutschland schüren« wolle.116 Solche Meinungen bleiben in den Berichten in der Minderheit. Wie bei allen anderen Themenfeldern bleibt die Frage nach Repräsentativität. Dass die Stasi gerade bei den Schauprozessen die Zustimmung hervorkehrte, könnte nicht zuletzt einem institutionellen Eigeninteresse geschuldet sein. Die Herausstellung der eigenen Abwehrerfolge im Zusammenhang mit den »konzentrierten Schlägen« gegen die Organisation Gehlen und ihr vermeintlich positiver Widerhall waren jedenfalls geeignet, das Ansehen des angeschlagenen Apparates in der SED-Führung wieder zu heben.

Ein Paukenschlag im Kalten Krieg, dem die Informationsdienste große Aufmerksamkeit schenkten, war der überraschende Übertritt des Verfassungsschutzpräsidenten Otto John am 20. Juli 1954 nach Ostberlin. Der Vorfall sorgte international für einiges Aufsehen und wurde von der SED im Systemwettstreit propagandistisch ausgeschlachtet. Heinz Tilch, seit August 1953 Leiter des Informationswesen der Staatssicherheit, forderte die Informationsgruppen auf, die Reaktionen der Bevölkerung genau zu protokollieren, nachdem Johns Schritt in einer Presseerklärung vom 23. Juli bekannt gemacht worden war.117 Die Berichte geben daraufhin ab dem 27. Juli erste Meinungsäußerungen wieder, die vor allem großes Erstaunen ausdrückten. Ein Arbeiter aus Frankfurt/Oder wurde mit den Worten zitiert: »Ich habe mich über den Übertritt des Dr. John sehr gewundert. Es muss doch etwas sehr Schwerwiegendes vorliegen, wenn eine solche Persönlichkeit aus Westdeutschland flüchtet.«118 Wie bereits beim Gehlen-Prozess fallen auch hier die meisten Aussagen durch ihre Nähe zur offiziellen SED-Erzählung auf: John habe erkannt, dass der »Faschismus in der Bonner Regierung« um sich greife, sein Übertritt lege die »Schwäche des Adenauer-Regimes« offen und könne als Anfang vom Ende der EVG interpretiert werden, hieß es.119 Auch einige skeptische Aussagen, die zum Beispiel das freiwillige Handeln Johns in Zweifel zogen, wurden eingestreut. So wurde ein Planungsleiter aus dem VEB Kalichemie Berlin mit den Worten zitiert: »Ich möchte gern das Geld haben, was die ›Stasi‹ dem Dr. John für seinen Verrat gezahlt hat.«120

Außergewöhnlich bei dieser Angelegenheit war, dass die Informationsgruppen nicht nur auf die Stimmung in der DDR, sondern auch auf die in Westberlin eingingen. In mehreren Anlagen konstatierte die Stasi eine angespannte Lage in Westberlin. Unter anderem wurde ein DDR-Bürger nach einem Aufenthalt im Westteil der Stadt mit den Worten wiedergegeben, dass kein anderes Ereignis die Leute mehr interessiere und die Stimmung einer »kollektiven Psychose« gleiche. »Während sich die Zeitungen überschlagen, alle möglichen Sensationen und Varianten darüber verbreiten, bilden sich vor allen Zeitungsständen und Kiosken Diskussionsgruppen von Menschen aller Bevölkerungsschichten.«121 In zahlreichen weiteren Beschreibungen wurde eine ähnliche Hysterie in der Stadt geschildert und um Einlassungen und Bewertungen ergänzt. Der Tenor, der sich in den Berichten niederschlug, war eindeutig: Die Flucht markiere eine schwere Schlappe des Westens und sei ein Totalversagen der Bundesregierung. Ein Angestellter aus Hamburg habe ausgeführt: »Die Affäre John ist ja gerade zum Lachen. Einige Leute haben jetzt starke Kopfschmerzen, andere Nervenzusammenbrüche. […] Wenn der Sicherheitschef, der so vieles wusste, durchbrennt, dann muss es mies aussehen.«122 Die Berichterstattung über die Stimmungslage in Westberlin blieb jedoch eine Ausnahme, abgesehen vom Fall John und einigen Anlagen zur Viermächtekonferenz stand in den Stasi-Berichten stets die DDR-Bevölkerung im Mittelpunkt.

2.4 Wirtschaft und Versorgung

Die Lage in Industrie und Landwirtschaft beschäftigte die Staatssicherheit wie in allen noch folgenden Jahren besonders stark. Das zeigt sich 1954 schon daran, dass selbst in Berichten, die von politischen Fragen dominiert waren, diese Themen immer wieder angeschnitten wurden. In den täglichen Informationsdiensten werden vor allem zahlreiche Zwischenfälle im Bereich Produktion, Transport und Landwirtschaft aufgelistet. Sie reichen von größeren Havarien wie einer schweren Explosion in der Brikettfabrik Großkayna im Januar 1954 bis zu kleineren technischen Defekten wie einer gerissenen Kolbenstange im Braunkohlenwerk Deuben.123 Darüber hinaus werden in den Berichten auch grundsätzliche Organisationsprobleme thematisiert und als Ursachen von Produktionsstörungen und Planrückständen benannt, etwa die häufige Unterbrechung der Strom- und Wasserversorgung, der chronische Mangel an Material, Rohstoffen und Arbeitskräften oder die Transportprobleme der Deutschen Reichsbahn. Die Berichte lassen erkennen, dass solche Störfaktoren die Arbeitsmoral der Beschäftigten dämpfte. Ein Elektriker aus Rostock habe dazu gesagt: »Ich werfe bald alles hin, ich habe keine Lust mehr. Einmal ist kein Material da, dann wieder keine Arbeit. Man müsste sich hinsetzen und solange nichts tun, bis es endlich besser ist.«124

Ähnlich gelagerte Probleme und Frustrationen wurden auch für andere Agrar- und Industriebetriebe geschildert. Ursache hierfür waren nicht nur Struktur- und Managementprobleme, sondern auch die als ungerecht wahrgenommene Verteilung von Löhnen und Prämien – ein klassischer Konflikt, der sich in fast allen Berichten findet. In den Berichten ist häufig von Beschäftigten die Rede, welche meinten, dass Prämien entweder zu spät oder zu wenig oder an die falschen Personen gezahlt würden. Vor allem die Einkommensunterschiede zwischen einfachen »Werktätigen« und leitenden Angestellten lösten den Berichten zufolge immer wieder Verärgerung aus, zum Beispiel im VEB Waggonbau Bautzen im Februar 1954. Einem Dreher zufolge rief hier die »Prämienverteilung in dieser Form […] überall böses Blut hervor. Niemand hätte etwas gesagt, wenn man die Arbeiter mitprämiert hätte.«125 Ergänzend habe sein Kollege hinzugefügt: »Die Prämienzahlung für unsere Herren ist eine tolle Sache. Die Arbeiter werden dabei vergessen. […] Wenn sich der 17. Juni wiederholt, kommt es anders, denn die haben aus den Fehlern nichts gelernt.«126

Neben dem Unmut über Prämien- und Lohnfragen benennen die Berichte zahlreiche Probleme in den staatlichen Agrargenossenschaften. Die Informationsdienste zeichnen hier ein besonders dramatisches Bild: Die in der Regel noch jungen LPG litten unter Dünger- und Saatgutmangel, hohen Ablieferungspflichten und häufigen Tierseuchen, hier besonders der Schweinepest. Das Herzstück der LPG, die Maschinen-Traktoren-Station (MTS), war fast nicht zu gebrauchen; viele Bauern beklagten, dass für die Landmaschinen selbst die einfachsten Dinge wie Reifen, Werkzeuge oder Ersatzteile fehlten. Besonders prekär war die Situation in der Viehzucht. Zahlreiche Berichte weisen darauf hin, dass Futtermittel und Stallkapazitäten bei Weitem nicht für die Einhaltung der Viehhaltepläne ausreichten. So heißt es zum Beispiel am 4. Mai, dass die Tiere eines Bauern aus Tornitz derart abgemagert seien, dass sie sich »bald nicht mehr auf den Beinen halten können«. Hilfe aus der Gemeinde sei jedoch kaum zu erwarten, »da der Vorrat an Futter bei allen Bauern sehr knapp« sei.127 Aus anderen Landgemeinden wurden ähnliche Zustände gemeldet.

Dass sich diese Probleme unmittelbar auf den Lebensstandard auswirken mussten, spiegelt sich ebenfalls in den Informationsdiensten wider. Die schlechte Versorgungslage bei Lebensmitteln und Konsumgütern zählte zu den Standardthemen der Berichte. Typisch ist eine Information aus dem Bezirk Gera, wonach ein Mangel an »billigen Zigaretten, Graupen, Süßwaren, Dauerbackwaren, Stärkeerzeugnissen und Käse« herrsche. »Außerdem fehlt es an Verpackungspapier, besonders in den Verkaufsstellen des Privathandels«.128 Zwischen April und Juni registrierte die Stasi besonders viel Kritik bezüglich der Versorgung, denn in diesem Zeitraum waren Fleisch- und Wurstwaren absolute Mangelware. In diesem Zusammenhang führen die Berichte zahlreiche Bürgerinnen und Bürger auf, welche die Fleischknappheit auf das Deutschlandtreffen der Jugend vom 5. bis 7. Juni 1954 zurückführten. »Bei uns hier ist es wieder mal trostlos«, habe zum Beispiel ein Arbeiter aus Dresden geklagt. »Die Läden sehen so leer aus. Es heißt, es geht alles nach Berlin wegen dem Jugendtreffen.«129 Ähnlich soll sich eine Hausfrau aus Görlitz geäußert haben: »Rindfleisch gibt es nicht, Kalbfleisch sehr wenig und ebenfalls HO-Wurst nur gering. Auch gibt es seit Wochen keine HO-Butter mehr. Aber bei den Großveranstaltungen in Berlin zeigt man den Wohlstand und Überfluss.«130

Wut und Resignation sprechen aus diesen Kommentaren; gemischte Gefühle, die in vielen Informationsdiensten durchscheinen. Wenn es das Ziel der Berichte war, die grundlegende Bevölkerungsstimmung zu erfassen, so war das Ergebnis eindeutig – eine verbreitete Unzufriedenheit, die sich aus Ärger über fehlende Lebensmittel, Frust über Chaos am Arbeitsplatz oder Angst vor dem Verfehlen von Arbeitsnormen und Ablieferungspflichten speiste. Die Berichte zeigen damit auch, dass die Strategie des »Neuen Kurses«, das Vertrauen in die SED-Herrschaft durch bessere Bedingungen für Konsumierende und Produzierende zu stärken, weitgehend gescheitert war. Ein Indikator für die atmosphärische Krise war das Symboldatum 17. Juni, das maximale Ablehnung ausdrückte und immer häufiger genannt wurde. Ein Taxifahrer aus Görlitz wurde mit der pointierten Aussage wiedergegeben: »Bei uns ist es wieder soweit, dass es gar nichts mehr gibt, keine Wurst, kein Fleisch, keine Ersatzteile und von Bereifung gar nicht zu reden. […] Die sollen nur so weitermachen, da wird es nicht mehr lange dauern und ein zweiter 17. Juni ist da. Die Zeit für diese Brüder ist bald abgelaufen.«131

3. Das Berichtswesen im Jahr 1954

3.1 Entstehung der »geheimen Berichte« an die SED-Führung

Die ökonomischen und politischen Entwicklungen des Jahres 1954 verweisen auf die thematischen Schwerpunkte der hier edierten Berichte. Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, warum es diese Rapporte überhaupt gab.

Die Geheimpolizei fertigte bereits wenige Monate nach ihrer Gründung, spätestens ab 1951 erste Stimmungs- und Lageberichte an. Über Zweck und Verteiler dieser Ausarbeitung ist aufgrund der Aktenlage wenig bekannt. Vermutlich handelte es sich zunächst um interne Ausarbeitungen. Ein systematisches Berichtswesen an externe Empfänger gab es zu dieser Zeit noch nicht. Erst am Abend des 17. Juni 1953 nahm die Stasi eine regelmäßige Informationstätigkeit an die Partei- und Staatsführung auf. Somit erfolgte erst nach dem Volksaufstand die Einrichtung von Informationsgruppen. Diese Neuerungen waren auch eine Folge der Kritik von Walter Ulbricht am Verhalten der Geheimpolizei im Vorfeld der Unruhen. Die Staatssicherheit, so der zentrale Vorwurf der SED-Führung auf dem 15. ZK-Plenum im Juli 1953, hätte in der Vergangenheit eine zu große Distanz gegenüber der SED erkennen lassen. »Tendenzen der Überheblichkeit« hätten die Geheimpolizei blind für die Gefahren eines »faschistischen Putsches« gemacht, so die Schlussfolgerung des Generalsekretärs.132

Ernst Wollweber, seit Juli 1953 neuer Chef der Staatssicherheit, hatte die deutlichen Worte des Parteichefs verstanden und machte eine engere Anbindung der Stasi an die Parteiführung zur Chefsache. Ein Mittel dafür sollte eine bessere Versorgung des Politbüros mit aktuellen Informationen über die Stimmung im Lande sein. Im August 1953 befahl Wollweber daher, in der Zentrale und in jeder Bezirksverwaltung »Informationsgruppen« einzurichten, um auf der Grundlage geheimdienstlicher Quellen tägliche Lagebilder zu erstellen: Welche besonderen Vorkommnisse gab es? Wie reagierte die Bevölkerung darauf? Und welche allgemeine Stimmung ließ sich daraus ableiten? Antworten auf diese Fragen sollten helfen, Anzeichen für eine erneute Aufstandsgefahr frühzeitig zu erkennen.

Nachdem bereits seit dem 17. Juni 1953 eine tägliche Berichterstattung in unterschiedlichen Formaten begonnen hatte, erschien am 6. Oktober 1953 zum ersten Mal der reguläre »Informationsdienst« mit gedrucktem Vorblatt und fester Gliederung.133 Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein hierarchisch geordnetes Berichtswesen von der Berliner Zentrale bis zu den Kreisdienststellen in den Regionen etabliert – der Ursprung der späteren ZAIG –, an dessen Spitze Heinz Tilch, bislang Stellvertreter Operativ der BV Dresden, berufen wurde.

Der Chef des Berichtswesens hatte genaue Vorstellungen, wie Struktur und Inhalt der täglichen »Informationsdienste« auszusehen hatten.134 Jeder Bericht sollte zunächst folgende sechs Gliederungspunkte aufweisen:

  • Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft,

  • Stimmung der übrigen Bevölkerung,

  • Ereignisse von besonderer Bedeutung,

  • Feindtätigkeit,

  • Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland,

  • Einschätzung der Situation.

Zu diesen sechs Themenblöcken waren die Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit aufgefordert, aktuelle Aussagen der Bevölkerung zu sammeln. Vor allem bei konkreten Ereignissen, wie einer Rede des Ministerpräsidenten oder bei akuten Versorgungsausfällen, sollten möglichst zeitnah viele Kommentare aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung zusammengetragen und diese einzelnen beruflichen und sozialen Gruppen wie »Arbeitern«, »Intelligenzlern« oder »Geschäftsleuten« zugeordnet werden.135 Ließ sich eine schlechte Stimmung beobachten, verlangte Tilch nach Erklärungen. »Nicht einfach schreiben, die Arbeiter drohen mit Streiks, wenn wieder höhere Arbeitsnormen eingeführt werden«, mahnte der Leiter der Informationsgruppe zum Beispiel in einem Schreiben an alle Bezirksverwaltungen im September 1953. »Man muss erläutern, warum sie gegen die Erhöhung der Normen sind – entweder sind die Voraussetzungen nicht vorhanden, oder sie stehen unter feindlichen Einflüssen.«136 Dabei sollte besonders auf die Veränderungen von Stimmungslagen und auf die Reichweite »feindlicher« oder »parteilicher« Argumente geachtet werden. Verzichten sollten die Verfasser hingegen auf die einfache Behauptung eines Phänomens – etwa Unruhe in den Betrieben oder Versorgungsengpässe in der Gemeinde. »Es müssen Beispiele gebracht werden, mit denen diese Behauptung bewiesen wird«, so Tilch.137

Mit diesen Vorgaben glich die tägliche Stimmungsschau einer Art Krisenberichterstattung. Sie war als Frühwarnsystem für das Erkennen herrschaftsgefährdender Grundstimmungen gedacht und damit eindeutig auf die Vorgänge innerhalb der DDR und auf Reaktionen breiter Bevölkerungskreise ausgerichtet.138 Unterstrichen wird diese Schwerpunktsetzung mit der Entscheidung der Informationsgruppe, den Deckblatttitel »Informationsdienst zur Beurteilung der Situation« ab dem 7. Oktober 1954 mit dem Zusatz »in der DDR« zu ergänzen.139 Die Rubrik »Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland« spielte im Laufe des Jahres 1954 immer weniger eine Rolle. Ab Januar 1955 wurde sie sogar ganz weggelassen.140

Im Unterschied zu anderen Informationssystemen dieser Zeit, wie dem der SED oder der Volkspolizei, zeigte sich das Stasi-Berichtswesen in seiner Frühphase nur wenig ausdifferenziert. Zur einzigen Berichtsserie gehörte im Jahr 1954 der »Informationsdienst«, der dafür aber gleich täglich, zur Zeit der Viermächtekonferenz sogar zweimal pro Tag, mit 8 bis 15 Seiten erschien. Mit insgesamt 335 Einzelberichten und ca. 3 800 Einzelblättern summieren sich die Berichte dieser Serie im Jahr 1954 zum umfangreichsten Jahrgang der ZAIG-Edition. Hinzu kamen zwei Sonderformen: die Sammlungen von Meldungen und Aussagen zu speziellen Themen wie der »Unzufriedenheit von Arbeitern in ausgewählten Betrieben« oder der »Stimmung zur Außenministerkonferenz«, die in Form von Anlagen den Informationsdiensten beigefügt waren. Und die »Analysen«, in denen alle 14 Tage eine Auswahl von bereits in den Informationsdiensten genannten Meldungen noch einmal in neuer Reihenfolge zusammengestellt wurden. Womöglich aufgrund seiner mangelnden analytischen Aussagekraft wurde dieser Berichtstyp im Juli 1954 eingestellt und erst im Jahr 1956 wieder aufgenommen.

Um den täglichen Informationsdienst mit genügend Inhalt zu füllen, griffen die Informationsgruppen der Bezirksverwaltungen auf operative Mitarbeiter der Kreisdienststellen und ihre »Geheimen Informatoren«, »Geheimen Mitarbeiter« und »Kontaktpersonen« in Betrieben, Gemeinderäten, Ministerien oder auf Bauernhöfen zurück.141 Neben diesen konspirativen Zuträgern stellten auch die staatlichen Institutionen auf der Bezirksebene eine wichtige Informationsquelle dar: beim Thema »Landwirtschaft« zum Beispiel die Abteilung Erfassung und Aufkauf beim Rat des Bezirks oder beim Thema »Versorgung« die Bezirksleitungen der Handelsorganisation.142 Wichtige Hinweise zu Zwischenfällen oder Straftaten entnahmen die Bearbeiter auch den Tagesrapporten der Bezirksdirektionen der Volkspolizei.143

3.2 Zur Genese der Informationsdienste

Liest man die aus diesen Einzelinformationen zusammengestellten Berichte, fallen einige charakteristische Merkmale auf, die im Folgenden etwas näher betrachtet werden sollen. Ins Auge springt zunächst ein eigentümliches Nebeneinander von banalen Alltagsproblemen und großen politischen Ereignissen. Diskussionen über Kohlemangel oder Ferienplätze wurden unmittelbar neben Aussagen zu den Pariser Verträgen oder zur Rede des sowjetischen Außenministers Molotow auf der Berliner Außenministerkonferenz platziert. Als Leser oder Leserin fragt man sich, warum sich die Beschäftigten der Agrar- und Industriebetriebe bei all ihren Alltagssorgen so intensiv mit den großen politischen Themen auseinandergesetzt haben sollen. Verständlich wird das, wenn man berücksichtigt, dass die Stasi nicht unvoreingenommen in das Arbeits- und Alltagsleben der Bürgerinnen und Bürger hineinhorchte, sondern gezielt Reaktionen auf bestimmte Themen abfragte. Die Stasi-Unterlagen zeigen zum Beispiel, dass die Geheimen Informatoren vor Ort den konkreten Auftrag erhielten, darauf zu achten, wie »die Arbeiter, Angestellten und die Intelligenz über die Wiederwahl von Wilhelm Pieck als Präsident der DDR« diskutierten oder wie sie »über die neue Note der Sowjetunion« dachten.144 Zwei Vorgaben bestimmten dabei den Fokus der Beobachtungsaufträge: Einmal orientierten sich die Offiziere der Informationsgruppen ganz allgemein an jenen Themen, die von der SED-Führung auf die Agenda gesetzt und in Betrieben, auf Marktplätzen oder in LPG mithilfe umfangreicher Kampagnen »popularisiert« wurden. Darüber hinaus gab Tilch weitere, aus seiner Sicht besonders relevante Themen per Fernschreiben aus Berlin vor. In einem Telegramm vom 4. August 1954 an alle Bezirksverwaltungen heißt es zum Beispiel: »Sie werden gebeten, Berichte über die Stimmung der Bevölkerung zur Regierungserklärung des Genossen Otto Grotewohl vor der Volkskammer […] anfertigen zu lassen.«145 In weiteren Fernschreiben forderte er die Informationsgruppen auf, die Stimmung der Jugendlichen während des II. Deutschlandtreffens, die Reaktionen auf den Übertritt Otto Johns oder die Meinungen zur Ablehnung des EVG-Vertrags durch die französische Nationalversammlung festzuhalten.146 Vor allem im Rahmen spezieller Überwachungsaktionen der Staatssicherheit – wie der Aktion »Frühling« zur Absicherung der Viermächtekonferenz oder der Aktion »Bollwerk« zur Überwachung der Volkskammerwahlen – sendete die Berliner Informationsgruppe sehr detaillierte Beobachtungsaufträge an die unteren Diensteinheiten. In der Regel lagen nach etwa drei bis vier Tagen die angeforderten Materialien in der Berliner Zentrale vor.

Berücksichtigt man diese Anweisungen, wird deutlich, dass die Berichte der Stasi nicht unbedingt die wirkliche Stimmung zu bestimmten Themen vor Ort reflektierten, sondern in erster Linie die Wirkung der Propaganda vor Ort zu den von der SED-Führung festgelegten Ereignissen protokollierten. Geprüft wurde, ob die offizielle Lesart oder gegensätzliche Meinungen geäußert wurden. Das Reagieren auf eine staatlich inszenierte Öffentlichkeit wurde dann als »Stimmung in der Bevölkerung« oder »Lage in der Industrie« wiedergegeben.

Was die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich dachten, was vor Ort zu den eigentlichen »Aufregern« zählte, kommt in den Tagesinformationen allerdings trotzdem zum Vorschein, zwar eher beiläufig, aber dennoch unübersehbar, wie etwa die grassierende Schweinepest in den LPG, die ungerechte Prämienverteilung im Betrieb oder die aus Sicht vieler Leserinnen und Leser unangebrachte Kommentierung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft in der DDR-Presse. Es ist den Berichten anzumerken, dass solche Alltagsprobleme die Menschen deutlich mehr bewegten als die offiziell gesetzten Themen. Letztere werden häufig nur zum Anlass genommen, um über die eigentlichen Sorgen zu sprechen. Ein Beispiel für dieses Muster ist die Aussage eines Bauern aus Dettmannsdorf über die Viermächtekonferenz: »Die Durchführung der Konferenz ist schön und gut, ich erkenne auch deren Beschlüsse an, aber was nützt uns das, wenn wir keinen Regen bekommen und das Korn nicht wächst. Die Folge davon ist, dass im Winter und im Frühjahr zu wenig Stroh vorhanden ist, und die Bauern sind gezwungen Laub als Streu zu nehmen. Dadurch wird dann wieder die Schweinepest verbreitet.«147

Trotz solcher authentischen und eigentlich auch recht nützlichen Rückmeldungen hielt die Stasi an der Schwerpunktsetzung fest und fragte jeden Tag die gleichen offiziellen Anlässe ab, selbst wenn offenkundig war, dass sie vor Ort keine größere Rolle spielten. Als Tilch zum Beispiel am 4. August 1954 Stimmen zur Regierungserklärung Grotewohls einforderte, heißt es im Informationsdienst fünf Tage später, dass nur »wenige Einzelstimmen bekannt« seien und viele Werktätige die Erklärung nicht gelesen hätten.148 Ähnlich verhielt es sich bei anderen Großereignissen: Ob Volkskammerwahl, IV. Parteitag oder die sowjetische Notenpolitik – häufig gab es nur »vereinzelte Stellungnahmen«, »mangelndes Interesse« oder Diskussionen »im geringen Umfang«.149 Zwei Dinge werden hier deutlich: Erstens, dass die Staatssicherheit die Prioritäten der Parteiführung anscheinend wichtiger nahm als die realen Probleme vor Ort. Und zweitens, dass die Bevölkerung der Dauerpolitisierung überdrüssig war und den immer neuen Kundgebungen, Paraden und Aufrufen mit großer Distanz und Lustlosigkeit begegnete.

Neben den inhaltlichen Schwerpunkten gab Tilch für die Berichterstattung noch weitere Zielrichtungen vor: Zunächst fordert er die Bezirksverwaltungen in verschiedenen Fernschreiben auf, jeweils bestimmte Regionen, Betriebe und Personenkreise in den Blick zu nehmen. Mal sollten die »ganz großen Betriebe« im Bezirk Magdeburg und mal die »Arbeiter, Angestellten und Intelligenz im Kunstseidenwerk Friedrich Engels in Rathenow« im Mittelpunkt stehen.150 Wenige Tage nach Eingang dieser Fernschreiben tauchten diese Produktionsstätten tatsächlich in den Informationsdiensten auf.

Auffällig ist, dass die Offiziere für ihre Stimmungsberichte nicht nur auf die von Tilch vorgegebenen Personengruppen und VEB achteten, sondern mit jedem Bericht neue Kreise, Ortschaften, Industriestandorte und Milieus in den Blick nahmen. Eine genaue Systematik, wie diese ausgesucht wurden, ist aus den Quellen nicht erkennbar. Fest steht nur, dass die Informationsgruppen sich nicht auf eine feststehende, repräsentative Auswahl von Orten und Personengruppen beschränkten, sondern an einem möglichst breiten Stimmungsbild interessiert und anscheinend in der Lage waren, auch in sehr kleinen Betrieben und in entlegenen Regionen auf Zuträger und Zuträgerinnen zurückzugreifen.

Über den thematischen und geografischen Fokus hinaus legte Tilch auch eine genaue Argumentationsstruktur für die Berichte fest. In einem Schreiben an alle Bezirksverwaltungen vom 28. September 1953 schlug er vor, an den Anfang eines neuen Abschnitts zunächst in prägnanter Form eine bestimmte Behauptung zu stellen – zum Beispiel: »Die Mehrheit der Arbeiter in den Schwerpunktbetrieben stimmen dem neuen Kurs der Partei und Regierung zu und unterstützen ihn.« Anschließend sollten die Verfasser »zwei bis drei charakteristische Beispiele anführen, aus denen diese Zustimmung hervorgeht«. Nachdem so »an 1. Stelle das Positive behauptet und durch Beispiele bewiesen wurde«, so Tilch weiter, »kommt an 2. Stelle das Negative in der gleichen Form«. Abschließend verlangte er, »bei der Zusammenfassung des Negativen« stets die konkreten Ursachen anzugeben.151

Tilch forderte also keine unvoreingenommene Dokumentation der Stimmung, sondern eine normative Einordnung der Vorkommnisse und Kommentare in die Kategorien »positiv« und »negativ« im Sinne der Interessen der SED. Dabei sei auf die richtige Gewichtung der »guten« und »schlechten« Aussagen zu achten, was gar keine einfache Aufgabe darstellte. Verlangt wurde nämlich eine eindeutige Herausarbeitung der vorherrschenden Stimmung, ohne einfach eine gleiche Anzahl von »positiven« und »negativen« Äußerungen aufzulisten, was als »unparteiisch« oder »objektivistisch« kritisiert worden wäre. In der Regel vermieden es die Berichterstatter, die Reaktionen auf ein bestimmtes Ereignis zu negativ darzustellen und gaben kritische Positionen als Minderheitenmeinungen aus. Doch manchmal stieß auch diese Vorgehensweise auf Kritik. Anlässlich des Abschlusses der Viermächtekonferenz in Berlin forderte Tilch zum Beispiel die Informationsgruppen in den Bezirken auf, »etwas weniger positive Beispiele, dafür mehr negative Beispiele« für die Einschätzung der Stimmungslage zu liefern.152

Eine weitere Auffälligkeit der Berichte ist, dass die angeführten Zitate nicht nur permanent vorbewertet und gewichtet werden, sondern häufig auch mit bestimmten, ideologisch aufgeladenen Personenkategorien korrespondieren. So werden Angehörige marginalisierter Gruppen wie »Privatunternehmer«, »Großbauern«, »Pfarrer« oder »ehemalige NSDAP-Mitglieder« auffallend oft mit »negativen« Aussagen zitiert, während Personen aus den »fortschrittlichen Kreisen« wie »Genossenschaftsbauern«, »Arbeiter«, »Brigadiere« oder »VP-Angehörige« mit »positiven« Aussagen aufgeführt werden. Es deutet sich an, dass die Informationsgruppen damit die Vorgabe Tilchs beachteten, die Stimmung der Bevölkerung möglichst differenziert abzubilden. Dennoch entsteht der Eindruck, dass stets die Botschaft vermittelt werden sollte, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter der Regierungspolitik. Damit führte auch das Berichtswesen der Staatssicherheit, wie Uta Stolle es beschreibt, ein »soziales Klassentheater« auf, welches sich ähnlich in vielen anderen DDR-Quellen zur Bevölkerungsstimmung wiederfinden lässt.153

Den Umstand, dass trotz der angeblich fortschrittlichen Mehrheit immer noch zahlreiche distanzierte oder gar abwertende Äußerungen zu hören waren, erklärten die Verfasser der Berichte mit zwei unterschiedlichen Ansätzen: Entweder lag für sie eine »reaktionäre Gesinnung« oder ein »Feindeinfluss« vor – dann war von »kleinbürgerlichen Elementen«, »Rias-Parolen«,154 »Hetze« oder »Positionen des Gegners« die Rede. Oder sie verwiesen auf eine mangelhafte »Aufklärung der Werktätigen«. Dann wurde ein unzureichendes Engagement der Parteiorganisationen in den Betrieben angemerkt. Anlässlich des IV. Parteitages wurde zum Beispiel ein Arbeiter mit den Worten wiedergegeben: »Leider muss ich feststellen, dass vonseiten der Partei und BGL [Betriebsgewerkschaftsleitung] keine Aufklärungs- und Kurzversammlungen […] abgehalten wurden.«155 Erwähnenswert ist, dass in den Stasi-Berichten eine solche parteikritische Anmerkung nur selten auftaucht und wenn, dann meist verpackt als Beschwerde eines Bürgers bzw. einer Bürgerin, wie das Beispiel zeigt. Erklären lässt sich diese Zurückhaltung mit der Befangenheit der Stasi gegenüber der SED-Führung. Kein Stasi-Offizier hatte Ulbrichts Abrechnung auf dem 15. ZK-Plenum vergessen, als er eine Distanz der Staatssicherheit zur Partei als Ursache für die politische Krise im Juni 1953 ausgemacht hatte. Um das Verhältnis zwischen Partei und Geheimpolizei nicht unnötig zu strapazieren, durften die Berichte keinesfalls wie Belehrungen gegenüber dem Politbüro klingen. Das Informationssystem war nicht als Korrektiv, sondern als Unterstützung der Parteiführung gedacht. Aus Sicht der Stasi war es daher angebracht, negative Meinungsäußerungen von Bürgerinnen und Bürgern nicht auf eine fehlerhafte Parteiarbeit, sondern auf das Wirken innerer und äußerer »Feinde« zurückzuführen. Damit lagen die Informationsgruppen auch ganz auf der Linie Wollwebers, der die Staatssicherheit auf das offensive Bekämpfen von inneren und äußeren Regimegegnern ausgerichtet hatte. Wollte man eine deutlichere Kritik an der Kampagnenarbeit der SED lesen, musste man auf die wöchentlichen Parteiinformationen zurückgreifen, die u. a. angefertigt wurden, um Arbeitsstil und Personalfragen der unteren Parteiorgane zu beleuchten.

Gab es bei einer politischen Veranstaltung wie dem IV. Parteitag nicht die gewünschte Resonanz, wurde in den Parteiinformationen mit deutlichen Worten die unzureichende Agitation der regionalen Parteiorgane oder die fehlende »innere Überzeugung« der Parteimitglieder angesprochen.156 Markanter als in den Stasi-Berichten kommen dabei auch die vielen Parteiaktivitäten in den Betrieben, LPG und Kulturhäusern zum Vorschein wie etwa Unterschriftensammlungen, Kundgebungen oder Ansprachen. Mit ihnen wurden die offiziellen politischen Großthemen wie ein Staatsbesuch oder eine Ulbricht-Rede »popularisiert«. Solche Aktionen waren für die Geheimen Informatoren der Stasi ideale Gelegenheiten, Meinungsäußerungen aufzufangen, die dann in die Informationsdienste einfließen konnten. Unter welchen Umständen diese Aussagen zustande kamen, bleibt in den Stasi-Berichten allerdings häufig unerwähnt. Oft heißt es lediglich, eine Erklärung der Regierung werde begrüßt oder einem Vorschlag des sowjetischen Außenministers zugestimmt, ohne dass der genaue Anlass solcher Äußerungen genannt wird. Da die Parteiinformationen der SED hier deutlicher werden und auf die konkrete Agitationsarbeit der Partei vor Ort eingehen, können sie als wichtige Ergänzung der Stasi-Berichte verstanden werden.

Die Vorgaben für die Abfassung des Informationsdienstes zeigen deutlich, wie die Stasi die vermeintliche Stimmungslage im Land konstruierte: Wie bei einem Baukasten setzten die Verfasser vorgegebene Einzelteile zusammen, um ein aktuelles Lagebild zu erschaffen – einige »Vorkommnisse« aus den Rubriken Industrie, Handel und Landwirtschaft, drei bis vier Themen von der offiziellen SED-Linie, dazu »negative« und »positive« Aussagen, möglichst im richtigen Verhältnis, verbunden mit »fortschrittlichen« und »feindlichen« Bevölkerungsgruppen sowie einer Auswahl größerer und kleinerer Betriebe und Ortschaften. Die Staatssicherheit bildete damit keine authentische Atmosphäre ab, sondern konstruierte eine Stimmungslage nach einem schematischen Raster. Die Berichte geben die Meinungen zu einigen ausgewählten Ereignissen einer bereits inszenierten Öffentlichkeit wieder, und das in stark voreingenommener Art und Weise. Dass die Stasi-Berichte trotz ihrer feststehenden Struktur auch realitätsnahe Einblicke in die damalige Gemütslage und Alltagsproblematik der frühen 1950er-Jahre erlauben, liegt paradoxerweise an ihrer Unbeholfenheit und geringen Professionalität, auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll.

3.3 Charakteristik und Quellenwert der Informationsdienste

Betrachtet man die stilistischen Eigenschaften der Informationsdienste, fällt zunächst auf, dass die Verfasser eine Fülle von Aussagen zu einem Themenfeld anführen, ohne dabei Relevantes von Nebensächlichem zu trennen. Alles erscheint ihnen erst einmal wichtig, von antikommunistischen Schmierereien bis zu schweren Havarien in einem Betrieb. Es kommt mitunter vor, dass technische Defekte einer Maschine bis ins Detail erläutert werden. Trotz der strengen Gliederungsvorgaben verlieren Leser und Leserinnen dadurch schnell den Überblick. Eine konzise Zusammenfassung der Stimmungslage am Ende jedes Berichts fehlt in der Regel, obwohl dafür eigentlich der Gliederungspunkt »Einschätzung der Situation« vorgesehen war.

Verstärkt wird die Unübersichtlichkeit durch die enorme Redundanz der Berichte – ein und dieselbe Meinung wird mit immer neuen Zitaten dargestellt und die Berichte eines bestimmten Zeitabschnittes handeln die immer gleichen Großthemen ab, zum Teil mit identischen Satzbausteinen. Hinzu kommt das niedrige sprachliche Niveau der Texte. Sie sind nicht nur ausschweifend und langatmig, sondern durchsetzt mit Stilblüten, Grammatikfehlern und fragwürdigen Satzkonstruktionen. Ortschaften, Betriebe und Personen werden falsch geschrieben oder unverständlich abgekürzt sowie Satzzeichen fehlerhaft und uneinheitlich eingefügt.

Neben der stilistischen Schwäche muss ebenfalls auf die »additive« Art und Weise der Berichterstattung hingewiesen werden.157 Bei den Informationsdiensten aus dem Jahr 1954 handelt es sich eigentlich nicht um zusammenhängende Texte, sondern um telegrammartige Aneinanderreihungen von Einzelzitaten, Ereignissen und Regierungsmaßnahmen. Zu einem bestimmten Thema wird eine Liste von Aussagen von unterschiedlichen Personen im Originalton präsentiert, ohne deren Zustandekommen und Zusammenhang näher zu erläutern. Ein solches Rohmaterial wirkt zwar recht authentisch, besitzt aber keinerlei analytische Tiefe. Eine genaue Einordnung und eine Erklärung der Aussagen fehlen fast völlig. Die Berichte nennen zwar eine Reihe konkreter Probleme wie die Futtermittelknappheit vieler Bauernhöfe oder die Unzuverlässigkeit vieler Zulieferbetriebe, sparen aber eine Erläuterung der tieferliegenden Ursachen aus, obwohl Tilch diese in seinen Schreiben an die Bezirksverwaltungen immer wieder gefordert hatte.158 Die 14-täglichen »Analysen« sind auch nicht aussagekräftiger, da sie keine wirklichen Analysen darstellen, sondern die Einzelaussagen der regulären Informationsdienste lediglich in neuer Abfolge wiederholen.

Zwei weitere Merkmale sind charakteristisch für die Berichte: Zum einen gibt es keine Richtigstellungen offenkundiger Falschaussagen wie Gerüchte über die Einführung einer bundesdeutschen Wehrpflicht oder Behauptungen über eine sowjetische Staatsbürgerschaft Walter Ulbrichts. Zum anderen erwähnen die Dokumente einen bestimmten Vorfall oder Missstand in einem Betrieb oder einer Ortschaft meist nur ein einziges Mal, ohne die Angelegenheit über einen längeren Zeitraum weiterzuverfolgen. Während einzelne politische Großthemen mehrere Wochen im Mittelpunkt standen, führen die Berichte täglich neue Betriebe, LPG und Ortschaften mit immer neuen Vorfällen ins Feld. Kleinteilige Einzelfälle und permanente Wiederholungen standen damit eigenartig nebeneinander.

Schließlich fehlt noch ein letztes Kennzeichen, das sich in allen Berichten des Jahres 1954 wiederfinden lässt: ein eigentümlicher Kontrast zwischen authentisch-schnörkellosen und stark ideologischen, beinahe propagandistischen Kommentaren. Während einige Abschnitte ein vergleichsweise ungeschminkt wirkendes Bild von den Alltagsproblemen und Stimmungen zeichnen, lesen sich andere wie Auszüge aus dem »Neuen Deutschland«, in denen mit pathetischen und phrasenhaften Sätzen die gewünschte Sicht der SED-Führung wiedergegeben wird. Ein Beispiel für den »ND-Jargon«, also die Verlautbarungssprache der Parteipresse, sind die Aussagen westdeutscher Besucher in der DDR im September 1954, die sich laut Bericht »überrascht« von den »wahren Verhältnissen« in der DDR zeigten: Gepriesen werden die »guten sozialen und hygienischen Einrichtungen«, die »Verbundenheit zwischen Abgeordneten und Bevölkerung« und die »Überlegenheit der Industrie«. Ein Arbeiter sagte laut Stasi: »Wir sind gekommen, um uns von der Richtigkeit der Politik der DDR und dem Stand der Wirtschaft zu überzeugen. Ich bin sehr stark beeindruckt von den sozialen und kulturellen Einrichtungen in den Schuhfabriken, auch von der Zusammenarbeit zwischen Arbeitern, der Betriebsleitung und den staatlichen Organen.«159 Ähnlich euphorisch lesen sich die Kommentare zu anderen Großereignissen, etwa zur Premiere des Thälmann-Films »Sohn seiner Klasse«, zum Staatsbesuch des chinesischen Ministerpräsidenten Tschu En Lai oder zur Eröffnung der Leipziger Herbstmesse. Natürlich war es den Zuträgern der Staatssicherheit ein Leichtes, bei solchen offiziellen Veranstaltungen politisch korrekte Äußerungen einzufangen. Ihre häufige Wiedergabe in den Berichten erstaunt aber dennoch, waren die Informationsdienste doch dafür gedacht, einen Blick hinter die Kulissen der Dauerpropaganda zu werfen und die realen Probleme und Stimmungen an der Basis offenzulegen. Doch vermutlich nahmen die Offiziere innerhalb ihrer eigenen antagonistischen Sprach- und Denkwelt den aus heutiger Sicht auffälligen Sprachkontrast nicht als sonderbaren, sondern als selbstverständlichen Gegensatz zwischen »fortschrittlichen« und »feindlichen« Meinungsäußerungen wahr.

Woher kamen die hier beschriebenen Schwächen der Berichte – das niedrige sprachliche und analytische Niveau, die Abfolge von Zitaten mit teils stark konstruierten Aussagen, die mangelnde Übersichtlichkeit und ständigen Wiederholungen? Zwei besondere Umstände des Jahres 1954 können hier als Erklärung dienen: Zum einen befand sich das Berichtswesen noch in der Anfangsphase, das hauptamtliche Personal und die Zuträger in den Kreis- und Objektdienststellen hatten wenig Erfahrung mit dem Verfassen von Texten und zeigten sich mit den Termin- und Themenvorgaben der Zentrale überfordert. Besonders während der Viermächtekonferenz kamen viele Geheime Informatoren mit dem Einholen von Reaktionen zu einer Fülle von Detailfragen gar nicht hinterher. Oft blieb nur eine schnelle Auflistung von Aussagen ohne nähere Einordnung. Klagen vieler Sachbearbeiter über eine unverhältnismäßige Zusatzbelastung zeigen, dass die Berichtsarbeit noch nicht mit der regulären geheimpolizeilichen Arbeit in Einklang gebracht worden war.160

Zum anderen wirkte sich die oben bereits erwähnte Befangenheit der Staatssicherheit gegenüber der SED negativ auf die Aussagekraft der Berichte aus. Die Informationsgruppen scheuten davor zurück, Parteibeschlüsse zu kritisieren oder Strukturprobleme offen anzusprechen – was für eine tiefergehende Ursachenanalyse allerdings notwendig gewesen wäre. Sie beschränkten sich auf die Lieferung von Reaktionen und überließen Bewertungen und Schlussfolgerungen der SED-Führung. Dass der ursprünglich geplante Gliederungspunkt »Kritik und Vorschläge« keinen Eingang in die Berichte fand, veranschaulicht diese Grundeinstellung.161

Den Leitern der Informationsgruppen in den Bezirksverwaltungen blieb die mangelhafte Qualität der Berichte nicht verborgen. Interne Schreiben zeigen, dass sie sich über zahlreiche Dinge ärgerten, darunter unzulässige Verallgemeinerungen, fehlende Überprüfungen der Quellen, unverständliche Abkürzungen und unklare Gewichtungen der Stimmungen.162 Der Leiter der Informationsgruppe der BV Potsdam Oberstleutnant Theunert bemängelte zum Beispiel eine isolierte Wiedergabe von Stimmen zu Einzelthemen, ohne die tatsächlichen »Kollektivstimmungen« herauszuarbeiten. Lagebilder aus einzelnen Betrieben und Kreisen würden nicht ausreichend miteinander verglichen. Darüber hinaus vermisste er die Angabe von Hintergründen für bestimmte Phänomene. »Über die Lage in der Industrie wird meistens nur berichtet: ›die Produktion läuft normal‹«, so Theunert in einem Schreiben an die Zentrale Informationsgruppe. Die Berichte gingen nicht darauf ein, »wie es möglich war, die Produktion zu erhöhen und welche Schichten versuchen, die Belegschaft […] negativ zu beeinflussen«. Bei »Missständen und negativen Stimmungen«, so Theunert weiter, »versäumen die Dienststellen oft noch, die Ursachen mitzuteilen und wie dies behoben werden könnte«. Viele Berichte, so sein Fazit, seien »fast nicht zu gebrauchen«.163

Die Leitung der Informationsgruppe in Berlin versuchte mit einer Reihe von Maßnahmen, das analytische und sprachliche Niveau ihrer Rapporte zu heben, unter anderem mit Fachschulungen und Leseaufgaben für ihre Mitarbeiter.164 Im November 1954 legte Tilch zum Beispiel den Aufsatz »Wer führen will, muss informiert sein« als Pflichtlektüre fest. Darin geht der Autor Hans Kühnel, ein Instrukteur aus dem Sektor Parteiinformation beim ZK, auf eine Reihe von Schwächen der Parteiinformationen ein, die Tilch auch bei den Informationsdiensten entdeckt hatte, darunter »objektivistische« Darstellungen und fehlende Verständlichkeit.165 An einer Stelle heißt es, dass es viele Formulierungen gebe, »die entweder nichtssagend sind, falsche Auslegungen zulassen oder die deutsche Sprache verschandeln«.166 Bemerkenswert ist, dass Kühnel ein solch hartes Urteil für die Parteiinformationen fällte, die den Informationsdiensten der Stasi sprachlich und analytisch deutlich überlegen waren.167

Als Lehre aus all den kritischen Hinweisen wies Wollweber Anfang 1955 eine Modifizierung des Berichtswesens an: Der Umfang sollte auf zwei Informationsdienste pro Woche reduziert und die Rubriken »Stimmen aus Westberlin« und »Feindtätigkeit« gestrichen werden.168 Mit dieser Änderung sollten die Mitarbeiter in die Lage versetzt werden, gründlicher zu recherchieren, die Quellen besser zu prüfen und die Berichte ganz auf die Stimmung im Innern auszurichten. Um Doppelungen zu vermeiden, entfiel der Gliederungspunkt »Stimmung der übrigen Bevölkerung«, an seine Stelle traten jeweils eigene Abschnitte über die Lage in den Bereichen Industrie, Handel, Versorgung und Landwirtschaft.169

Das Berichtswesen befand sich im Jahr 1954 in seiner formativen Phase, das zeigen die oben beschriebenen Kritiken und Verbesserungsversuche. Die Texte, die in dieser Zeit entstanden, besaßen aus Sicht der Staatssicherheit nur eingeschränkte Aussagekraft. Anders blickt die heutige Forschung auf diese Quellen. Sie schätzt ihren Wert hoch ein – nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer mangelnden Professionalität. Drei Vorteile springen dabei ins Auge: erstens die Authentizität vieler in den Berichten angeführter Aussagen. Sie geben oft ungefiltert die Meinung der Bevölkerung wieder. Ein Arbeiter soll sich zum Beispiel zur Beibehaltung der Lebensmittelkarten mit folgenden Worten geäußert haben: »Nun haben wir es ja gehört, erst haben sie die große Fresse, dass die Lebensmittelkarten wegfallen und jetzt können sie ihr Wort nicht halten. Die Arbeiter sind genug belogen worden. Man soll ihnen endlich die Wahrheit sagen.«170 Auch zu anderen Themen wie dem Scheitern der Viermächtekonferenz oder dem Futtermangel in der Landwirtschaft gab es ähnlich unmissverständliche Meinungsäußerungen, frei von Phrasen und umständlichen Relativierungen. In den Berichten späterer Jahrgänge tauchen solche scharfen Töne nicht mehr auf, kritische Haltungen werden dann nur noch gedämpft wiedergegeben, meist eingebunden in »systemkonforme Argumentationsmuster«.171

Ein zweiter Vorteil der Stasi-Berichte ergibt sich aus der Tatsache, dass die aufgelisteten Äußerungen in der Regel durch geheimdienstliche Methoden eingefangen wurden. Dabei handelte es sich nicht selten um spontane, unbedachte Äußerungen aus dem Alltagsleben der Bevölkerung – Sätze, die im Bus, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder beim Einkauf gesprochen wurden. Es gibt nur wenige Quellen zur Frühphase der DDR, die einen ähnlich umfassenden Einblick in diese »kleine Öffentlichkeit« an der Basis der Gesellschaft gewähren.172

Die ungeschliffenen, oft chaotisch wirkenden Berichte weisen schließlich noch einen dritten Vorteil auf: die enorme Bandbreite an Themen, von defekten Traktoren, über verdorbene Lebensmittel bis zu Schießereien am Rande der Viermächtekonferenz. Zur Sprache kommen Details, die in späteren Berichten sicherlich ausgesondert worden wären, darunter auch viele Beispiele für nonkonformes oder gar widerständiges Verhalten, wie Drohbriefe an Parteifunktionäre, das Abreißen von Wahlplakaten oder Gewaltanwendungen gegen Polizisten und Volkskammerabgeordnete.173 Damit entwerfen die Berichte nicht nur ein vielschichtiges Bild von den vorherrschenden Einstellungen in der Bevölkerung, sondern vermitteln auch einen plastischen Eindruck von der ungeduldigen Grundstimmung im Jahr 1954.

4. Kommunikation und Rezeption

Wie aufgezeigt wurde, fertigte die Stasi im Jahr 1954 zahlreiche Berichte, in denen vielfältige, größere und kleinere Probleme und Ereignisse geschildert werden. Ziel war es, die Partei- und Staatsführung rechtzeitig über sicherheitsrelevante Vorgänge zu informieren. Doch wer genau gehörte im Jahr 1954 zu dieser Führungsebene? Die Frage nach den Adressaten der Stasi-Berichte lässt sich für die erste Hälfte der 1950er-Jahre aufgrund der schwierigen Quellenlage nur ungenau beantworten. Auf den Deckblättern der Informationsdienste des Jahres 1954 gibt es bis auf wenige, schwer entschlüsselbare Kürzel keinerlei Hinweise. Auch die Postausgangsbücher der Informationsgruppe helfen für diesen Zeitabschnitt nicht weiter. Roger Engelmann vermutet, dass die internen und externen Empfänger ab September 1953 in einem gesonderten Dokument aufgelistet wurden. Bislang konnte dieses Schriftstück jedoch nicht aufgefunden werden.174

Dass von einem recht umfangreichen Adressatenkreis ausgegangen werden kann, verraten unter anderem die Deckblätter der Informationsdienste, die angeben, dass im Jahr 1954 von jedem einzelnen Informationsdienst bis zu 22 Exemplare angefertigt wurden. Nach gegenwärtiger Aktenlage wurde in den gesamten 1950er-Jahren nie eindeutig geregelt, wer genau diese erhalten sollte. Mithilfe einzelner Dokumente der Stasi-Überlieferungen lässt sich die Leserschaft der Berichte aber zumindest in Teilen rekonstruieren.

Einen ersten konkreten Hinweis gibt der Befehl 279/53 des Staatssekretärs für Staatssicherheit zur Bildung von Informationsgruppen vom 7. August 1953, der die Lieferung der Informationen an die Mitglieder des Politbüros, den Ministerpräsidenten, den Minister des Innern sowie an den Staatssekretär für Staatssicherheit samt seiner Stellvertreter festschreibt.175 Auch wenn die tatsächliche Umsetzung dieser Adressatenregelung nicht belegt ist, können diese Personen durchaus als Empfänger der Berichte angenommen werden, da sie zweifelsohne zur obersten Partei- und Staatsspitze zählten und für alle zentralen Sicherheitsfragen zuständig waren. Bezüglich des Politbüros ist allerdings auch denkbar, dass nicht jedes Mitglied einen eigenen Bericht erhielt, sondern das gesamte Gremium mit der Unterrichtung Ulbrichts als informiert angesehen wurde. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die Mitglieder der Sicherheitskommission des ZK, die Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen und die Sekretäre des ZK bei der Verteilung der Berichte berücksichtigt wurden. Das deutet zumindest das Protokoll einer Sitzung des MfS-Kollegiums vom 25. Januar 1957 an, auf der über diese Personen als Adressaten der Stasi-Informationen diskutiert wurde.176

Aus einem der wenigen überlieferten Verteiler aus der Anfangszeit des Berichtswesens geht hervor, dass zu den internen Empfängern neben dem Staatssekretär für Staatssicherheit und seinen Stellvertretern auch der 1. Sekretär der SED-Parteiorganisation in der Staatssicherheit zählte.177 Darüber hinaus gingen die Informationsdienste mit Sicherheit auch an die Chefs der Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit sowie an die Leiter der beiden Verwaltungen Wismut und Groß-Berlin.178 Ein Schreiben Tilchs belegt zumindest, dass diesen Leitern auch die bis Juli 1954 angefertigten 14-täglichen Analysen zugestellt wurden.179 Auf den Deckblättern von sechs Informationsdiensten im Oktober 1954 ist zudem die Bemerkung »HA III erled[igt] weiter an HA XIII« zu lesen, sodass auch diese beiden Hauptabteilungen der Staatssicherheit für Wirtschaft und Verkehrswesen in den Empfängerkreis aufgenommen werden können.180

Aus einem Schreiben des Leiters des Sekretariats des Staatssekretärs Fritz Schulze geht hervor, dass die Berichte auch dem Chef der Deutschen Volkspolizei Karl Maron zugesendet wurden – einer der wenigen Hinweise auf die Zusammensetzung der externen Verteilerliste.181 Weitere solche Schreiben über die Zusendung von Informationen an externe Adressaten konnten bislang nicht aufgefunden werden.

Bleibt noch eine Person, die auf jeden Fall zu den Lesern der Informationen zählte, auch wenn sie in den Dokumenten nirgendwo schriftlich aufgeführt wird: der Bevollmächtigte des sowjetischen Innenministeriums in der DDR Jewgeni Pitowranow. Als Chefaufseher der Staatssicherheit war er den ostdeutschen Geheimdienstmitarbeitern gegenüber weisungsbefugt. Aufgrund dieser dominanten Rolle kann davon ausgegangen werden, dass der KGB die Berichte erhielt.182

Noch schwieriger als der Verteilerkreis ist die konkrete Wirkung der Berichte auf die Empfänger zu rekonstruieren. War die Staatssicherheit in der Lage, mithilfe ihrer Informationen das Handeln der Staats- und Parteiführung nennenswert zu beeinflussen? Insbesondere für die Frühzeit lässt sich diese Frage bislang nicht befriedigend beantworten, einige Annäherungen an eine Einschätzung des Einflusses der Stasi-Berichte sind aber dennoch möglich: Auf der einen Seite warten die Informationsdienste mit einer enormen Fülle an Fakten und Meinungsäußerungen auf, die sich an den Schwerpunkten der SED orientierten. Umfangreiche Unterstreichungen und zahlreiche Anmerkungen, die leider nicht bestimmten Personen zugeordnet werden können, belegen bei einigen Berichtsexemplaren eine gründliche Lektüre und lassen darauf schließen, dass die Staatssicherheit ein Gespür dafür entwickelte, für welche Vorgänge sich die Parteiführung interessierte. Es kann daher durchaus angenommen werden, dass diese Informationen auch Eingang in die Entscheidungsfindung an höchster Stelle fanden, insbesondere bei sicherheitspolitischen Fragen.

Auf der anderen Seite handelte es sich hierbei um Berichte, über die offiziell nicht gesprochen werden durfte. Für alle Empfänger der Informationsdienste bestand strikte Geheimhaltungs- und Rückgabepflicht, die Stasi achtete darauf, ihre Informationen nur für kurze Zeit an ausgewählte Personen »zur Kenntnisnahme« zu übermitteln. Diese eingeschränkte Kommunizierbarkeit schwächte die Wirkung des Berichtswesens deutlich ab.183 Am Ende stellten die Berichte nur eine Art Hintergrundwissen der Entscheidungsträger dar, ohne dass deren Inhalt unmittelbar zum Gegenstand der Auseinandersetzungen in den Partei- und Staatsorganen werden konnte.

Eine weitere Begrenzung des politischen Einflusses des Stasi-Berichtswesens ergab sich aus der Tatsache, dass es in der DDR zahlreiche weitere Informationssysteme gab, die schon länger existierten, nahezu die gleichen Sachverhalte transportierten und zumindest in den frühen 1950er-Jahren den Informationsdiensten sprachlich und analytisch deutlich überlegen waren. Dazu zählten zum Beispiel die regelmäßigen Informationen der SED, des FDGB, der Volkspolizei oder einiger Ministerien. Gerade die Wochen- und Sonderberichte des Sektors Parteiinformationen des ZK, die bereits seit 1950 angefertigt wurden, machten trotz ihrer chaotischen Grundstruktur einen deutlich professionelleren Eindruck als die Informationsdienste der Stasi.184 Zum Teil werden hier sicherheitspolitisch hochrelevante Begebenheiten geschildert, die man eigentlich in einem Geheimbericht der Staatssicherheit erwarten dürfte, dort aber vergebens sucht wie die wiederholten Unruhen von Großbauern in der brandenburgischen Gemeinde Zitz Mitte Juni 1954.185 Jens Gieseke kommt zusammenfassend zu dem Schluss, dass der Stellenwert der Stasi-Berichte je nach Politikfeld bewertet werden muss: Während bei Wirtschaftsfragen keine größere Wirkung erwartet werden sollte, kann auf dem Feld der »Feindtätigkeit« aufgrund des Detailreichtums und der Aktualität der Berichte durchaus von einem signifikanten Einfluss auf die Politikentwicklung der SED ausgegangen werden.186

5. Druckauswahl und Formalia

Die Berichte des Jahres 1954 bilden mit etwa 4 500 Aktenblättern den umfangreichsten Jahresbestand der ZAIG-Edition. In der Buchausgabe findet sich eine Auswahl der edierten Dokumente, die einen Eindruck von der enormen Bandbreite der politischen und ökonomischen Themen des Jahres 1954 vermitteln sollen. Die aussagekräftigen Einzelberichte sind in der Lage, einige der oben beschriebenen Besonderheiten der Berichterstattung zu illustrieren, etwa die dichte Dokumentation der Stimmung während der Viermächtekonferenz im Februar, die Wiedergabe der scharfen Kritiken am Wahlprozedere im Oktober oder die Debatte um die Aufstellung einer eigenen Armee im November.

Abgedruckt werden sowohl standardmäßige Berichte mit klassischen Themen und regulärer Gliederung als auch Ausnahmeberichte mit besonderen inhaltlichen und formalen Auffälligkeiten, etwa der erstaunlich kurze Bericht vom 20. Januar 1954 mit nur zwei Seiten. Ein Beispiel für die alle zwei Wochen erscheinenden »Analysen« ist ebenso Bestandteil der hier vorliegenden Quellensammlung.

Bezüglich der Gesamtedition muss noch auf einige formale Auffälligkeiten hingewiesen werden: Zunächst werden alle Anlagen, die keinerlei Bezug zur DDR aufweisen, aus dem Quellenkorpus herausgenommen.187 Darüber hinaus tauchen bei der Nummerierung der Informationsdienste einige Unregelmäßigkeiten auf. Zum einen wurden die Nummern 2138 und 2139 doppelt für jeweils zwei Berichte am 23. und am 24. Februar vergeben. Zum anderen wurden die Nummern 2094, 2167 und 2216 nicht vergeben. Da die Berichte an diesen Stellen keine zeitlichen Unterbrechungen aufweisen, muss von einer fehlerhaften Nummerierung ausgegangen werden. Bei den ebenfalls fehlenden Nummern 2220 (29.5.1954), 2243 (24.6.1954), 2260 (14.7.1954), 2291 (19.8.1954), 2292 (20.8.1954) und 2334 (8.10.1954) handelt es sich dagegen mit großer Sicherheit um Überlieferungslücken, denn die fehlenden Tagesberichte fallen weder auf einen Sonntag noch auf einen Feiertag. Auffällig ist, dass nach dem 19. und 20. August, als beide Male keine Berichte versendet wurden, der Informationsdienst vom 23. August mit gleich sechs Anlagen erschien, sodass hier die ausgebliebenen Informationen vermutlich nachgeliefert wurden.

Ein besonderes Augenmerk muss ebenso auf die Datierung von Anlagen und Analysen gelegt werden: Während für den Berichtszeitraum 1954 keine undatierten Informationsdienste zu finden sind, kommen bei den zahlreichen Anlagen der Berichte fehlende oder schwer lesbare Datumsangaben durchaus vor. Solche Fälle werden in den Dokumentenköpfen vermerkt. Die Reihe der Analysen, die bis Juni 1954 alle zwei Wochen versendet wurden und die Stimmungen und Ereignisse eines halben Monats zusammenfassen, wurden von den Bearbeitern auf der Grundlage von Fernschreiben der Informationsgruppen selbst datiert und nummeriert. In der Regel erschienen sie circa sieben Tage nach Ablauf des letzten Analysezeitraums. Obwohl sie den Informationsdiensten ursprünglich nicht beigefügt waren und eine gesonderte Ablage erhielten, werden sie in der Edition trotzdem für den Zeitpunkt ihrer Herausgabe in die Dokumentenabfolge eingeordnet. Die Analyse für die zweite Januarhälfte ist leider nicht überliefert.

Erwähnt werden muss auch der Umgang der Edition mit der oben erwähnten Fülle an stilistischen, orthografischen und grammatikalischen Mängeln der Originalberichte: Während kleinere Tipp- und Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert wurden, blieben größere Grammatikfehler aus Gründen der Quellenauthentizität unverändert. Auf besonders auffällige Falschschreibungen wird gegebenenfalls mit einem »[sic!]« aufmerksam gemacht. Ungewöhnliche Abkürzungen wurden stillschweigend in übliche umgewandelt oder aufgelöst.

Eine besondere Herausforderung der Berichte sind die oft fehlerhaften Angaben bei Personen-, Orts- und Betriebsnamen. Auch diese wurden von den Bearbeitern korrigiert, bei geringfügigen Fehlern stillschweigend, bei erheblichen Abweichungen mit einem Fußnotenkommentar. Nicht selten lassen sich die Namen aufgrund grober Falschschreibung nicht mit letzter Sicherheit ermitteln. In diesen Fällen sind die Editoren bemüht, mögliche Auflösungen in einem Kommentar anzubieten. Aus rechtlichen Gründen ist es notwendig, einige Personennamen zu anonymisieren. Die Aussagekraft der Quellen wird dadurch aber in keiner Weise beeinträchtigt.

Bleibt noch ein letzter Hinweis auf die bei einigen Exemplaren gehäuft auftretenden vertikalen und horizontalen Unterstreichungen. Betreffen sie einen Großteil des Textes, ohne einzelne Abschnitte besonders hervorzuheben, werden sie lediglich im Dokumentenkopf erwähnt. Lässt sich dagegen eine besondere Markierung einzelner Wörter oder Sätze feststellen, wird darauf in einem eigenen Fußnotenkommentar aufmerksam gemacht. Dies gilt auch für Randvermerke und Einkreisungen einzelner Wörter.

6. Schlussbemerkungen

Das Jahr eins nach dem Volksaufstand stand ganz im Zeichen der Herrschaftssicherung der SED. 1954 setzte die Partei fort, was sie im zweiten Halbjahr 1953 begonnen hatte: Die multiplen Krisen in der DDR zu entschärfen, im besten Fall zu beenden, um erneute Unruhen im Lande zu verhindern. Die Herausforderungen dabei waren vielfältig und immens. Mit Zuckerbrot und Peitsche sollte der verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung begegnet werden, die sich teilweise bis zum offenen Widerstand auswuchs. Zu den Konzessionen zählte u. a. die Neuordnung von Handel und Wirtschaft im Zuge des »Neuen Kurses« mit dem Ziel, die angespannte Versorgungslage zu verbessern. Die repressive Seite des Konsolidierungskurses bestand in einem groß angelegten Vorgehen gegen innere Feinde. Mit »konzentrierten Schlägen« der Staatssicherheit vornehmlich gegen Spione westlicher Geheimdienste und antikommunistischer Gruppierungen, die von groß aufgezogenen Schauprozessen samt teils drakonischer Strafen und einer regelrechten Propagandakampagne flankiert waren, versetzte man nicht nur den westlichen Diensten einen herben Schlag, auch der DDR-Bevölkerung wurde unmissverständlich klargemacht, dass Spionage und Widerstand mit harten Maßnahmen bekämpft werden. Die von der SED 1953 angezählte Geheimpolizei konnte sich mit den »konzentrierten Schlägen« einigermaßen rehabilitieren und Stasi-Chef Ernst Wollweber auf dem IV. SED-Parteitag 1954 verkünden, die Staatssicherheit sei das »scharfe Schwert der Partei, mit dem der Feind unerbittlich geschlagen« werde.188

Auch hinter den Kulissen arbeitete die Geheimpolizei mit Eifer daran, die herrschaftsstabilisierenden Maßnahmen der SED abzusichern. Fast täglich erstellte die im August 1953 eingerichtete Informationsgruppe einen Rapport, die sogenannten Informationsdienste. Im Fokus dieser »geheimen Berichte« standen die Reaktionen der Bevölkerung auf politische Maßnahmen, besondere Vorkommnisse und Ereignisse sowie Missstände und Probleme. Die Stasi sammelte Eindrücke zu allen größeren und kleineren Entwicklungen, welche aus ihrer Sicht destabilisierend auf die Herrschaft der SED wirken konnten. Dabei legten die Informationsgruppen eine ungeheure Sammelwut an den Tag, wie die insgesamt 335 Informationsdienste mit einem Umfang von über 3 800 Seiten eindrucksvoll bezeugen. Die großen politischen Vorgänge wie die Behandlung der Deutschlandfrage auf der Viermächtekonferenz, die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO, der IV. SED-Parteitag und die Volkskammerwahlen oder auch der Übertritt des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes Otto John in die DDR kommen darin ebenso zur Sprache wie die ungezählten vielfältigen Herausforderungen, die den Alltag der Menschen in den frühen 1950er-Jahren prägten: fehlende Lebensmittel, chaotische Zustände in den Fabriken und Landwirtschaftsbetrieben, Ärger über Prämien und Normen sowie nicht zuletzt Unzufriedenheit mit der Regierung.

Niemals wieder war die Berichterstattung der Stasi so nah am Volk, wie im Jahr eins nach dem Volksaufstand. Niemals wieder hat sie eine solche Fülle an (aktuellen) Informationen zur Lage im Land zusammengetragen wie 1954. Die »geheimen Berichte« zeichnen ein schillerndes Bild des Geheimdienstkrieges in Ostdeutschland, sie werfen zahlreiche Schlaglichter auf den Herrschaftsalltag in der SED-Diktatur und vermitteln aufgrund ihrer »unbeholfene[n] Authentizität« einen plastischen Eindruck von den Grundstimmungen der Bevölkerung. Für die zeitgeschichtliche Forschung werden sich die hier vorgelegten Dokumente als Quellen von herausgehobenem Wert erweisen.