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Einleitung 1989

Einleitung 1989
Mark Schiefer und Martin Stief

»Aufbruch ’89« und »Die Zeit ist reif« heißt es auf dem orangen Sticker des »Neuen Forums«, der das Cover dieses ZAIG-Bandes schmückt. Gebastelt hat ihn Mieste Hotopp-Riecke, ein Druckereimitarbeiter der Magdeburger »Volksstimme«, um Reklame für die neue Oppositionsbewegung zu machen. Das Design ist an das Logo der Musikgruppe »Freygang« angelehnt, die mit ihrem Bluesrock trotz Berufsverbots Tausende Fans zu ihren Konzerten in der DDR lockte. Hotopp-Riecke trug seinen Sticker in der politischen Ausnahmezeit des Herbstes 1989 bei vielen Gelegenheiten, auf »Freygang«-Konzerten, auf Magdeburger Montagsdemonstrationen und am Ende auch auf dem Dach der Haftanstalt des MfS am Moritzplatz in Magdeburg-Neustadt. Dort hatte eine Gruppe von Punks und alternativen Jugendlichen Anfang 1990 spontan entschieden, die Räume des Wachpersonals zu besetzen. Mitten im Stasi-Gefängnis sollte ein Begegnungszentrum für Kunst und Musik ins Leben gerufen werden. Dass eine solche Idee tatsächlich Wirklichkeit werden konnte, war der Kreativität und Anarchie des Revolutionsjahres 1989 zu verdanken. Mit Unterstützung der evangelischen Kirche bauten Hotopp-Riecke und seine Freunde das Kinder- und Jugendhaus »KNAST« mit Proberäumen, Konzertbühne und Lesecafé auf, ein noch heute beliebter Treffpunkt für Jugendliche in Magdeburg.

Der Sticker und seine Geschichte stehen symbolisch für das unerwartete Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger im Herbst 1989, für den politischen und gesellschaftlichen Aufbruch, den noch im Frühjahr kaum jemand für möglich gehalten hatte. Denn anders als man oft denkt, begann das Jahr 1989 ziemlich unspektakulär. »Trotz aller Sturmzeichen versprach das Jahr nicht besser und nicht schlechter zu werden als die vielen ereignislosen Jahre vorher«, so Armin Mitter und Stefan Wolle.1 Zwar gab es einige wenige Protestaktionen in Leipzig und Berlin, doch deren Resonanz blieb überschaubar und die Mehrheit der Bürger verhielt sich abwartend, trotz ihres genauen Gespürs für die Tiefe der gesellschaftlichen Krise und die Notwendigkeit grundlegender Reformen.

Das änderte sich im Mai 1989, als die Kritik an der Fälschung der Kommunalwahlen unerwartet heftig ausfiel und sich eine neue Dynamik abzuzeichnen begann. Honeckers fröhliche Stimmabgabe – das zweite Bild auf dem Buchcover – illustriert noch das »Weiter-so« der politischen Führung, ihren festen Glauben an die Stabilität und Legitimität ihrer Herrschaft.

In der Folgezeit entglitt ihr aber zusehends die Kontrolle: Die Flüchtlingszahlen stiegen, die Opposition gewann an Kraft, kirchliche Andachten erhielten nie dagewesenen Zulauf und auf der Straße formierte sich offener Protest. Die Menschen kamen in Bewegung, als Flüchtlinge, Eingabenverfasser, Besucher von Friedensgebeten, Demonstranten oder Parteigründer, eine regelrechte Volkserhebung kam in Gang, an deren Ende die Entmachtung der SED und die Aushandlung einer neuen demokratischen Grundordnung standen.

Die 262 Inlandsberichte des MfS zeigen beides: die »stabile Krise« der DDR zu Beginn und die Revolution am Ende des Jahres 1989. Während es – ähnlich wie in den Vorjahren – zunächst noch um einzelne Fluchtfälle, kleinere Protestaktionen von Ausreiseantragstellern oder Veranstaltungen kirchlicher Basisgruppen geht, stehen ab Sommer plötzlich die Botschaftsbesetzungen in Prag, die Gründung von Oppositionsgruppen wie das »Neue Forum« oder Massendemonstrationen auf dem Leipziger Stadtring im Mittelpunkt.

Einmalig in ihrer Dichte und sachlichen Genauigkeit zeigen die Berichte der Staatssicherheit anschaulich, wie das MfS die dramatische Entwicklung des Epochenjahres 1989 beobachtete, auf welche Ereignisse es besonders sensibel reagierte und welche Begebenheiten es komplett ignorierte. Gedacht für die Unterrichtung der Führungsebene von MfS und SED legen die »Hinweise« und »Informationen« die Krisenstrategie der Stasi-Offiziere offen und verraten etwas über ihre mal realitätsnahe und mal völlig weltfremde Interpretation der revolutionären Ereignisse.

1. Das Jahr 1989: Ein historischer Überblick

Das Revolutionsjahr 1989 lässt sich in mehrere Etappen unterteilen, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen. Wie oben bereits erwähnt, startete das letzte Jahr der SED-Diktatur eher ruhig, ohne größere politische Zwischenfälle. Trotz aller Unzufriedenheit ging die Mehrheit der Bürger unauffällig ihrem Alltag nach. Schaut man allerdings genauer hin, lassen sich jenseits der großen öffentlichen Bühnen bei kleineren Gesprächskreisen und Diskussionsabenden erstaunlich intensive und breit gefächerte Debatten beobachten. Immer selbstbewusster versuchten vor allem kleinere Oppositionsgruppen, politisch brisante Themen wie Bürgerrechte, Umweltfragen oder Behördenwillkür aufzugreifen und das Sprach- und Deutungsmonopol der SED zu durchbrechen. So initiierte zum Beispiel der »Arbeitskreis Gerechtigkeit« in Leipzig am 15. Januar 1989 anlässlich des Luxemburg-Liebknecht-Gedenktages eine Demonstration mit gut 500 Teilnehmern auf dem Alten Markt in Leipzig, um Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit einzufordern. Einen Monat später diskutierten im Café Schalom in der Friedrichshainer Samariterkirche etwa 100 Bürger über die Einführung einer effektiven Verwaltungsgerichtsbarkeit. Und zur gleichen Zeit gründete der Sozialdiakon Jürgen Krüger in Ostberlin eine »Vereinigung zur Beobachtung und Förderung des KSZE-Gedankens«, um die Umsetzung der Vereinbarung der 3. KSZE-Folgekonferenz in Wien zu überwachen.2

Neben Bürgerrechtsfragen erregten auch Umweltkonflikte die Gemüter der Bürger. So prangerte zum Beispiel der Ökologische Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke den Bau eines Siliziumwerkes für die Produktion von Computer-Schaltkreisen in Dresden-Gittersee an. Umweltaktivisten und Anwohner befürchteten im Havariefall eine akute Gefährdung des gesamten Stadtgebiets. Bei einem Fürbittgottesdienst in der Dresdner Kreuzkirche zu diesem Thema kamen am 16. April 1989 immerhin 4 000 Menschen zusammen.3

Am Beginn des Revolutionsjahres stand also ein neuartiges Bedürfnis nach kritischer Aussprache und Bürgerbeteiligung, das mit Gorbatschows Leitbegriffen »Glasnost« und »Perestroika« umschrieben wurde. Gegenüber dieser neuen Debattenkultur verhielt sich die SED-Führung ausschließlich abwehrend und repressiv. Demonstrationen wie die am 15. Januar in Leipzig wurden von Sicherheitskräften gewaltsam gestoppt, Einzelaktivisten wie Jürgen Krüger umfassend überwacht und die verschiedensten Reformideen ignoriert oder zurückgewiesen. Die Erstarrung der SED-Führung trat sehr anschaulich auf dem IX. Pädagogischen Kongress vom 13. bis 15. Juni in Berlin zutage, auf dem kein Denkanstoß unabhängiger Bürgergruppen für eine Entideologisierung des Bildungswesens aufgegriffen wurde und Margot Honecker stattdessen stolz die »weitsichtige Bildungspolitik der SED« auf der Basis »fester marxistisch-leninistischer Positionen« lobpreiste. Die Jugend müsse bereit sein, diesen Sozialismus »mit der Waffe in der Hand« zu verteidigen.4

Im Frühling 1989 setzte die zweite Phase des Revolutionsjahres ein, in der die Opposition begann, nicht nur neue Themen zu setzen, sondern auch schlagkräftigere Strukturen aufzubauen und ihre Aktionen stärker in den öffentlichen Raum zu verlagern. Auslöser der neuen Dynamik war die Kommunalwahl am 7. Mai 1989, die intensiver als jemals zuvor beobachtet und ausgewertet wurde. Bürgerrechtsgruppen wie die »Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« oder der »Arbeitskreis Solidarische Kirche« unternahmen den Versuch, unabhängige Kandidaten auf den Einheitslisten zu platzieren und die Auszählung zu kontrollieren. Besonders aktiv trat dabei der »Weißenseer Friedenskreis« um den Sozialdiakon Mario Schatta auf. In den Ostberliner Wahllokalen in Friedrichshain und Prenzlauer Berg konnten seine Wahlbeobachter feststellen, dass die Wahlzettel ohne eindeutige Vorgaben bewertet und offenkundige Ablehnungen der Einheitslisten ignoriert wurden. In einigen Wahllokalen waren die Nein-Stimmen um bis zu 20 Prozent vermindert worden.5 Als trotz solcher Unregelmäßigkeiten der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Egon Krenz am Wahlabend eine Zustimmungsrate zur Einheitsliste von 98,85 Prozent verkündete, regte sich überall im Land Protest. Zunächst beschritten viele Bürger den legalen Weg in Form von Eingaben, Strafanzeigen und Beschwerdebriefen. Ab Juni 1989 wagten sich einzelne Aktivisten aber auch verstärkt auf die Straße. Am 7. Juni 1989 organisierte zum Beispiel der Diakon Schatta eine Mahnwache auf dem Alexanderplatz, die er an jedem 7. eines Monats wiederholen wollte. Am selben Tag versammelten sich etwa 200 Personen vor dem Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin mit dem Ziel, mit einem »Schweigemarsch« zum Staatsratsgebäude zu ziehen und eine Eingabe gegen die massive Wahlfälschung zu überreichen. Einen Tag später verteilten Oppositionsgruppen in der überfüllten Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg die Dokumentation »Wahlfall 89« mit detaillierten Analysen und Erlebnisberichten zum Wahlverlauf.6

Die SED-Führung tat alles, um solche Aktionen schon im Ansatz zu unterbinden. Der Schweigemarsch vor dem Konsistorium wurde zum Beispiel durch einen Polizeikessel mit mehr als 950 Polizisten aufgehalten und etwa 40 Bürger bereits auf dem Weg zum Treffpunkt festgenommen. Auf Vermittlung der Kirchenleitung zogen sich die Protestierenden daraufhin zu einer »Informationsandacht« in die Sophienkirche in Berlin-Mitte zurück, um über einen abgeschwächten Eingabetext zu beraten. Als nach kontroverser Debatte erneut etwa 200 Personen zum Staatsratsgebäude aufbrechen wollten, reagierten Staatssicherheit und Polizei mit ungezügelter Gewalt. Sie trieben fast alle Teilnehmer in zwei bereitstehende Busse und brachten sie vorübergehend in MfS-Haftanstalten.7

Wie rigoros die Parteiführung vor allem in Berlin gegen jede öffentliche Aktion vorging, zeigt auch die Reaktion auf Schattas Mahnwachen auf dem Alexanderplatz. Als sich am 7. Juli 1989 etwa 90 Aktivisten für einen Sitzstreik an der Weltzeituhr bereit machten, ließ sie Zufahrtsstraßen und U-Bahnstation sperren, über 1 000 SED-Genossen und Kampfgruppenmitglieder in Zivil auf dem Platz einsetzen und 30 Personen im Vorfeld festnehmen. Mit Nachdruck wurde die Kirchenleitung in Berlin aufgefordert, die Mitglieder des »Weißenseer Friedenskreises« stärker zu disziplinieren.8

Die unterdrückten Wahldemonstrationen, die als Vorboten der späteren Massendemonstrationen gedeutet werden können, verdeutlichen eine neue Bereitschaft engagierter Bürger, nicht nur zu diskutieren, sondern auch im öffentlichen Raum Gesicht zu zeigen. Was allerdings fehlte, war eine konzise Agenda und ein nennenswerter politischer Einfluss der verschiedenen oppositionellen Gruppen. Langjährige Aktivisten wie Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley, Edelbert Richter oder Ulrike Poppe entwickelten daher seit Sommer 1989 Pläne, sich als Opposition neu aufzustellen. Ziel war es, mit einer neuen Organisationsform die SED-Führung endlich dazu zu bewegen, einen Dialog mit der Bevölkerung über grundlegende Reformen einzugehen. Nach mehreren erfolglosen Anläufen kam es im September und Oktober 1989 zur Gründung der Bürgerinitiativen »Neues Forum« (10.9.) und »Demokratie Jetzt« (12.9.), der »Sozialdemokratischen Partei in der DDR« (7.10.) und des »Demokratischen Aufbruchs« (29.10.). Diese Parteien und Sammlungsbewegungen stellten eine neue Qualität der zivilgesellschaftlichen Gegenbewegung zum SED-Staat dar und ersetzten die bisherigen oppositionellen Netzwerke wie »Frieden konkret« oder »Kirche von Unten«. Sie lösten sich von kirchlichen Themen und Ausdrucksweisen und formulierten erstmals konkrete politische Forderungen wie freie und geheime Wahlen unter UN-Kontrolle, die Öffnung der Grenzen, die Pluralisierung des Medienwesens oder die Einführung rechtsstaatlicher Verfahren.9 Zu Recht erkannte die SED darin einen fundamentalen Angriff auf die sozialistische Grundordnung und ihren darin verankerten Führungsanspruch. Mit Telefonsperren, Drohungen, gezielten Fehlinformationen, Vorladungen, polizeilichen Abriegelungen und Festnahmen versuchte sie, die praktische Arbeit der neuen politischen Akteure so stark wie möglich einzuschränken. Das MfS setzte dabei vor allem auf den destruktiven Einfluss von inoffiziellen Mitarbeitern auf der Leitungsebene der Bürgerbewegungen. Um die veränderte politische Lage besser überblicken zu können, richtete die Geheimpolizei Ende Juli die »Soforteinsatzgruppe operative Beobachtung« mit Offizieren aus allen geheimpolizeilich aktiven Hauptabteilungen ein.10

Dass sich die Opposition im Spätsommer 1989 trotz der zahlreichen Störaktionen so erfolgreich neu formieren konnte, lässt sich nur verstehen, wenn drei wichtige Einflussfaktoren dieser Zeit berücksichtigt werden: die demokratischen Umbrüche in Polen und Ungarn, die damit zusammenhängende Fluchtbewegung aus der DDR und die erstaunliche politische Unbeweglichkeit der SED.

Zunächst brachte Gorbatschows Rücknahme des imperialen Anspruchs der Sowjetunion einen zügigen Prozess der Demokratisierung in Polen und Ungarn in Gang. So wurde in Warschau nach langjährigen Auseinandersetzungen am 6. Februar 1989 ein Runder Tisch mit Repräsentanten der kommunistischen Regierung und Vertretern der Opposition eingerichtet, der Mitte Juni in halbfreie Parlamentswahlen mündete, aus denen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność als überragende Siegerin hervorging. Am 24. August 1989 wählte der Sejm den Bürgerrechtler und Publizisten Tadeusz Mazowiecki zum neuen Ministerpräsidenten.

Deutlich fortgeschrittener als in der DDR war der politische Umbruch auch in Budapest. Nachdem der Generalsekretär der herrschenden kommunistischen MSZMP János Kádár bereits seit den 1970er Jahren begrenzte kulturelle und ökonomische Freiheiten akzeptiert hatte, drängte der Reformflügel der Partei ab November 1988 unter Führung des neuen Ministerpräsidenten Miklós Németh auf eine weitere innere Liberalisierung. Symbolisch für den demokratischen Neuanfang stand die Rehabilitierung der Anführer des ungarischen Aufstands von 1956 mit einer Trauerfeier für Imre Nagy und seine Weggefährten am 16. Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz.11

Entscheidend für die DDR war, dass diese innere Neuausrichtung Ungarns auch mit einer demonstrativen Hinwendung zum Westen einherging, die sich ganz konkret in der Entfernung der Überwachungsanlagen an der Grenze zu Österreich Anfang Mai 1989 manifestierte. Am 27. Juni 1989 öffneten die beiden Außenminister Alois Mock und Gyula Horn symbolisch die Grenze bei Sopron. Auch wenn damit für DDR-Bürger noch keine reguläre Ausreise nach Österreich möglich war, zeichnete sich doch ein Ende der Abriegelung des kommunistischen Blocks ab. Das Grundprinzip der Abgrenzung wurde fundamental infrage gestellt, was massive Auswirkungen auf die innere Entwicklung der DDR haben sollte.12

Die sichtbarste und gravierendste Folge war eine im Sommer 1989 einsetzende Flucht- und Ausreisewelle von DDR-Bürgern, die die SED-Führung zwar befürchtet, in ihrer politischen Sprengkraft aber unterschätzt hatte. Ermuntert von den Neuigkeiten aus Ungarn zog es zu Beginn der Sommerferien Tausende Ostdeutsche nach Budapest und an den Balaton, um auf eine Fluchtmöglichkeit zu warten. Im August 1989 gelangten etwa 21 000 Menschen über die grüne Grenze nach Westen, während 13 000 Personen die DDR offiziell über einen Ausreiseantrag verlassen durften.13 Im September zählte die Regierung 25 200 Flüchtlinge und 17 600 Ausreisende.14 Als die ungarische Regierung am 11. September 1989 den legalen Grenzübertritt für DDR-Bürger nach Österreich ermöglichte, machten in den folgenden drei Tagen mehr als 15 000 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Von Anfang Januar bis Ende September 1989 hatten etwa 116 000 Personen mittels Flucht und Ausreise der DDR den Rücken zugekehrt.15

Zu wichtigen Zentren der Fluchtbewegung entwickelten sich vor allem die bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Budapest und Prag. Von Jahresbeginn an hatten DDR-Bürger immer wieder versucht, ihre Ausreise durch Besetzungen diplomatischer Vertretungen zu erzwingen. Vor allem in Prag spitzte sich die Lage gefährlich zu, nachdem das Politbüro am 12. September 1989 verkündet hatte, für »gefährdete Bürger« keine weiteren Reisen nach Ungarn genehmigen zu wollen. Seitdem versuchten täglich Hunderte von Ausreisewilligen auf das Gelände der westdeutschen Botschaft zu gelangen; bis Anfang Oktober hatten sich hier mehr als 4 500 Personen versammelt, was über kurz oder lang zu einer humanitären Krise führen musste. Um die Feierlichkeiten des 40. Jahrestages der DDR nicht mit negativen Schlagzeilen aus Prag zu beeinträchtigen, stimmte die DDR-Regierung Ende September einer einmaligen Ausreise der Botschaftsbesetzer zu. Die eingesetzten Sonderzüge sollten allerdings über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik fahren, um mit dem Einsammeln der Pässe eine Identifizierung und formelle Ausbürgerung der Ausreisewilligen sicherzustellen. Als der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher diese Abmachung am 30. September 1989 vom Balkon der Prager Botschaft verkündete, ging seine Stimme in den Jubelschreien der Menschenmenge unter.16

Die Massenflucht stärkte die neu formierte Opposition erheblich, war sie doch der dramatischste Beweis für die Notwendigkeit ihrer Reformforderungen. Im Kontrast dazu zeigte sich die SED-Führung in einem erstaunlichen Maße unfähig und unwillig, die angespannte Stimmung durch attraktive Angebote zu entschärfen. All ihre Entscheidungen im Sommer 1989 – die Absage an eine Untersuchung der Kommunalwahl, der demonstrative Schulterschluss mit der chinesischen Führung nach der gewaltsamen Niederschlagung der Studentenproteste in Peking, das Verbot sowjetischer Filme und Zeitungen, die Diffamierung von Flüchtlingen im »Neuen Deutschland« oder die Weigerung, die neuen Parteien und Sammlungsbewegungen offiziell anzuerkennen – machten deutlich, dass sie selbst zu kleineren Zugeständnissen im Innern, und sei es nur bei der politischen Rhetorik, nicht imstande war. In der Bevölkerung führte diese Blockadehaltung zu verbreiteter Wut und Resignation, die sich ab Ende September in einem nie gekannten Zulauf zu öffentlichen Demonstrationen niederschlug. Zum Brennpunkt des Aufstandes entwickelte sich dabei schnell die Messestadt Leipzig, da sie über eine gut vernetzte und sehr aktionsfreudige oppositionelle Gruppenszene, engagierte Kirchenleute und zahlreiche internationale Kontakte verfügte. Ab dem 4. September 1989 kam es hier jeden Montag zu Friedensgebeten mit anschließenden Protestkundgebungen vor der Nikolaikirche, zu Beginn mit etwa 1 000 Bürgern, am 25. September bereits mit über 5 000, am 2. Oktober mit gut 20 000 und am 16. Oktober sogar mit mehr als 160 000 Teilnehmern. Federführend bei der praktischen Vorbereitung und inhaltlichen Ausgestaltung der Massenproteste waren die alten und neuen Oppositionsgruppen. Mit ihren Problemkatalogen und Gründungsaufrufen versorgten sie die Straße mit politischen Programmen, zunehmend unterstützt von Künstlern, Schriftstellern und Theaterleuten. Die einst machtlosen und marginalisierten SED-Kritiker hatten sich bis Anfang Oktober zu einflussreichen Agenda-Settern entwickelt.17

Dass neben den klassischen Bürgerrechtsthemen immer stärker die Gewaltfrage in den Mittelpunkt rückte, lag an der Art und Weise, wie die SED-Führung auf die zunehmende Aufbruchstimmung reagierte. Sie versuchte nicht nur mithilfe der Kirchenleitungen, die Andachten und Friedensgebete zu entpolitisieren oder ganz einzustellen, sondern veranlasste immer öfter auch Verhaftungen und den Einsatz von Polizeikesseln und Schlagstöcken. So kam es, dass Anfang Oktober die Phase der Massenmobilisierung in eine kurze Phase der gewaltsamen Eskalation überging.

Im Zentrum standen hier besonders Dresden und Berlin. Als zwischen dem 30. September und 8. Oktober 1989 insgesamt 19 Sonderzüge aus Prag über Dresden in die Bundesrepublik fuhren, kam es entlang der Gleise zu schweren Zusammenstößen. Vor allem nach der Entscheidung der Regierung am 3. Oktober, den pass- und visafreien Verkehr in die Tschechoslowakei auszusetzen, versammelten sich am Abend des 4. Oktober bis zu 20 000 Ausreisewillige, Protestierende und von den Grenzen zurückgewiesene Personen am Dresdner Hauptbahnhof, um Bahnsteige zu blockieren und das Recht auf sofortige Ausreise einzufordern. Mehrmals mussten Volkspolizisten, Kampfgruppen, Kräfte des MfS und Sondereinsatztruppen der NVA das Bahnhofsgebäude räumen. Sie setzten Tränengas und Wasserwerfer ein und nahmen mindestens 224 Personen fest.18 Ähnlich hart gingen die Sicherheitskräfte auch in Berlin vor. Während des Festaktes zum 40. Jahrestag am 7. Oktober 1989 zogen etwa 7 000 Demonstranten vom Palast der Republik zur Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg. Polizei und MfS riegelten daraufhin weite Teile des Stadtviertels ab und nahmen mehr als 1 000 Personen fest. Am nächsten Tag wiederholte sich das Szenario. Später berichteten Augenzeugen, dass es an den Zuführungspunkten zu regelrechten Gewaltexzessen durch Polizisten und Soldaten gekommen war.19

Der Abbruch der Gewaltphase und der Umschwung zum friedlichen Protest setzten zunächst in Dresden ein, als es am Abend des 8. Oktober einer Gruppe von 20 Bürgern gelang, aus einem Polizeikessel heraus das Gespräch mit Vertretern des Staates aufzunehmen. Damit begann erstmals ein offizieller Dialog über grundsätzliche Fragen wie das Reisegesetz oder die Zulassung des »Neuen Forums«, der in den folgenden Tagen zum Grundmodell für viele andere Kommunen werden sollte.20 Dass Dresden keine Ausnahme blieb, konnte man einen Tag später in Leipzig beobachten, wo unmittelbar nach den Friedensgebeten, die aufgrund der hohen Nachfrage gleich in vier Kirchen abgehalten wurden, über 70 000 Menschen friedlich über den Innenstadtring zogen. Die SED-Bezirksleitung hatte sich im Vorfeld entschieden, die in großer Zahl zusammengezogenen Einsatzkräfte von MfS, Polizei und NVA im Hintergrund zu halten und zusammen mit dem Dirigenten Kurt Masur, dem Theologen Peter Zimmermann und dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange zur Besonnenheit aufzurufen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte die politische Führung ihr Ziel aufgegeben, die DDR-weiten Bewegungen auf der Straße gewaltsam zu stoppen.21

Was nun folgte, war eine Phase des rasanten Umbruchs in den politischen Strukturen und der politischen Kultur der DDR: Am 18. Oktober 1989 trat Erich Honecker als Generalsekretär der SED zurück und übergab das Amt an Egon Krenz. Es folgte die Demission und Neubesetzung des Ministerrates am 7. und des Politbüros am 8. November. Zum neuen Regierungschef wurde am 13. November 1989 der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden Hans Modrow gewählt. Krenz und Modrow taten alles, um mithilfe von Dialogangeboten und Reformversprechen dem Aufstand die Dynamik zu nehmen und auf diese Weise die sozialistische Grundordnung und die darin verankerte Herrschaftsposition der SED zu retten. Sie duldeten Demonstrationen, amnestierten Flüchtlinge, modifizierten die Berichterstattung in den Medien und suchten mit einzelnen Protagonisten der Opposition das Gespräch.

Klar war der neuen Führung, dass sie für ein Mindestmaß an Kontrolle dringend die Reisefrage klären musste. Vor allem die ČSSR fühlte sich von fliehenden Ostdeutschen regelrecht überflutet, nach Aufhebung der Reisebeschränkung in das Nachbarland am 1. November hatten binnen einer Woche mehr als 48 000 Bürger die Grenze überquert. Das Politbüro ließ daher ein neues Reisegesetz ausarbeiten und beschloss auf der 10. Tagung des ZK am 8./9. November, den entscheidenden Passus zu Besuchs- und ständigen Ausreisen bereits vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens in Kraft treten zu lassen. Als Günter Schabowski diese Übergangsregelung am späten Nachmittag des 9. Novembers vor internationalen Pressevertretern verkündete, unterließ er die Klarstellung, dass die Regierung noch keine abschließende Entscheidung getroffen und noch keine konkreten Ausführungsbestimmungen für die Beantragung einer Auslandsreise erarbeitet hatte. Auf Nachfrage von Journalisten sagte er stattdessen, dass diese Regelung unmittelbar für alle Übergangsstellen inklusive Westberlin in Kraft trete. Berühmt wurde sein unvollständiger Satz: »Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.« Die Bekanntmachung einer vorgezogenen Reiseregelung führte damit völlig unbeabsichtigt zum Fall der Berliner Mauer. Bereits um 19.00 Uhr verbreiteten die ersten Nachrichtenagenturen die Neuigkeit von der Grenzöffnung. Als sich im Laufe des Abends immer mehr Menschen an den Grenzübergängen in der Friedrich-, Bornholmer oder Invalidenstraße einfanden, sahen sich die völlig überforderten Grenztruppen gezwungen, die Schlagbäume zu öffnen.22

Die plötzliche Freizügigkeit und die anhaltenden Massendemonstrationen brachten eine weitere Beschleunigung der revolutionären Umwälzungen in Gang. Zunächst setzte der Zerfall der SED ein: Ab Mitte November kam es erstmals zu massenhaften Austritten und Demonstrationen einfacher Parteimitglieder. Am 3. Dezember trat die gesamte Parteiführung auf der letzten ZK-Tagung zurück, am 6. Dezember verzichtete Krenz auf das Amt des Staatsratsvorsitzenden. Auf Druck der Basis folgte am 8./9. und 16./17. Dezember ein Sonderparteitag, auf dem die Delegierten nach kontroverser Debatte statt einer Selbstauflösung der Partei ein neues Statut vereinbarten, den Namen SED-PDS annahmen und als neuen Parteichef den Rechtsanwalt Gregor Gysi wählten. Das Treffen markiert den endgültigen Machtverlust der bisherigen SED-Führung, die es nicht mehr geschafft hatte, ihre Herrschaft durch Integration gesellschaftlicher Gruppen und begrenzte Reformen aufrechtzuhalten.23

Der Schwäche der SED war es zu verdanken, dass parallel ein Prozess der schrittweisen Demokratisierung beginnen konnte. Auf Drängen oppositioneller Gruppen und auf Vermittlung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR kamen ab dem 7. Dezember 1989 Vertreter der Regierung und der Opposition zu einem sogenannten Runden Tisch zusammen. Die Institution nach polnischem Vorbild wollte weder Ersatzexekutive noch Nebenparlament sein, sondern auf dem Verhandlungsweg eine geordnete Übergabe der Macht an demokratisch legitimierte Institutionen ermöglichen. Am Ende sollte eine frei gewählte Volkskammer als Ausgangspunkt einer umfassenden Verfassungsreform stehen.

Bis dahin bemühten sich die Runden Tische auf lokaler und zentraler Ebene, Staat, Gesellschaft und SED so weit wie möglich zu entflechten, von der Justiz über das Bildungswesen bis zur Armee.24 Die größte Herausforderung war dabei die kontrollierte Auflösung der Staatssicherheit. Als Gerüchte über eine wilde Aktenvernichtung in den Dienststellen der Geheimpolizei die Runde machten, riefen Oppositionsgruppen zur Besetzung von MfS-Kreis- und Bezirksämtern auf. Den Auftakt machten am 4. Dezember zwei Frauengruppen aus Erfurt, gefolgt von Bürgerkomitees in der gesamten DDR von Greifswald über Weißwasser bis Jena. Eine detaillierte Stasi-Information über die Besetzungen, die eher Objektbegehungen von Bürgern mit Vertretern der lokalen Staatsanwaltschaft und Volkspolizei waren, zählt zu den letzten Berichten des MfS an die SED-Führung.25

Die Diskussion über die Auflösung des MfS und die Verwendung seiner Hinterlassenschaft beschäftigte den Runden Tisch noch bis zu seiner letzten Sitzung am 12. März 1990. Modrow glaubte, das wichtigste Machtinstrument der SED mit einem Personalwechsel an der Spitze und einer Umbenennung in »Amt für Nationale Sicherheit« vor einer kompletten Zerschlagung bewahren zu können. Erst nach massiven Protesten der Opposition, unter anderem mit einer dramatischen Erstürmung der MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg am 15. Januar 1990, konnte der zentrale Pfeiler der SED-Herrschaft beseitigt werden.26

Mit der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 endete die revolutionäre Ausnahmezeit. Was zu Beginn des Jahres 1989 mit einer neuartigen Debattenvielfalt begonnen hatte und im Spätsommer in eine zunehmende Mobilisierung der Bürger in Form von Fluchten und Demonstrationen übergegangen war, endete schließlich nach einer kurzen Phase der Gewalt im Oktober in einer Entmachtung der bisherigen Eliten und einem Aufbrechen sämtlicher politischer Strukturen. Binnen eines Jahres hatte sich die festgefahrene SED-Diktatur in eine zwar noch unfertige, aber dafür hochdynamische, von einer aufgewühlten Bürgerschaft getragene Demokratie verwandelt.

2. Ausgewählte Themenfelder der Berichte

2.1 Blick auf die Leitungsebene der Evangelischen Kirche

Das folgende Kapitel erörtert die thematischen Schwerpunkte der ZAIG-Berichte: Was rückte die Geheimpolizei besonders in den Mittelpunkt und in welcher Art und Weise berichtete sie darüber? Von der nationalen Gesundheitskonferenz im April bis zum Streit um ein Siliziumwerk in Dresden tauchen in den 262 Inlandsberichten des Jahres 1989 ganz unterschiedliche Ereignisse auf. Bemerkenswert ist, dass dabei die leitenden Gremien der Evangelischen Kirche wie die Landes- und Bundessynoden oder die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) als Exekutive des Evangelischen Kirchenbundes (BEK) eine besonders große Aufmerksamkeit erfahren. 35 der 209 »Informationen« – der Hauptreihe des ZAIG-Berichtswesens27 – beschäftigen sich mit kirchlichen Veranstaltungen; besonders ausführlich werden die Debatten auf allen acht KKL-Tagungen im Jahr 1989 wiedergegeben. Diese Fokussierung auf die evangelische Amtskirche erstaunt zunächst, da sich viele politisch relevante Vorgänge im Revolutionsjahr 1989 in unabhängigen Bürgerinitiativen, kirchlichen Basisgruppen und am Ende vor allem auf der Straße abspielten. Um diese Schwerpunktsetzung verstehen zu können, müssen drei Dinge berücksichtigt werden: Erstens stellte die evangelische Kirche eine der letzten autonomen und stark ausdifferenzierten Großorganisationen in der DDR dar. Bis zuletzt war es ein zentrales Anliegen der inoffiziellen Kirchenpolitik der SED, dieses Subsystem innerhalb der sozialistischen Herrschaftsordnung mit einer eigenen Sprache, Rechtstradition, Öffentlichkeit und Kultur zu überwachen und von innen zu steuern. Verantwortlich war dafür in erster Linie die kirchenpolitische Abteilung der Staatssicherheit.28

Die Kirche dominierte auch deshalb die Berichterstattung der Staatssicherheit, weil – zweitens – zahlreiche politisch relevante Krisenerscheinungen auf die Institution Kirche bezogen waren: Protestveranstaltungen rund um die Kommunalwahl fanden zum Beispiel als sogenannte Informationsandachten in Kirchenhäusern statt, der Umweltprotest in Dresden rund um das Reinstsiliziumwerk wurde vom »Ökologischen Arbeitskreis der drei Kirchenbezirke« organisiert und Übersiedlungswillige fanden nicht selten Beistand in Kirchengemeinden und versuchten sogar über Kirchenbesetzungen wie im Dezember 1988 in Weimar ihren Forderungen nach Ausreise Nachdruck zu verleihen.29 Da all diese Vorgänge in den Spitzengremien des BEK und seiner Gliedkirchen erörtert wurden, hatte die SED ein großes Interesse, in diese Diskussionsrunden mithilfe der Berichte des MfS Einblick zu nehmen.

Dabei schwang auch immer die Vorstellung mit, über führende Kirchenleute Einfluss auf gesellschaftliche Aktivitäten nehmen zu können – der dritte Grund für die herausgehobene Stellung der Kirche im Berichtswesen. Ein Beispiel dafür, wie über enge offizielle und inoffizielle Kanäle zu führenden Kirchenfunktionären Protestaktionen entschärft und politisch aktive Gruppen eingehegt werden sollten, zeigt ein Aktionstag des Leipziger »Arbeitskreises Gerechtigkeit« zur Solidarisierung mit Václav Havel und anderen tschechoslowakischen Dissidenten am 19. März 1989. Mit Genugtuung konnte eine ZAIG-Information am Folgetag verkünden, dass »durch Gespräche mit kirchenleitenden Amtsträgern« zahlreiche Protestveranstaltungen verhindert werden konnten.30 Damit wird deutlich, dass ein disziplinierendes Einwirken der Kirchenführung im Sinne des Staates durchaus möglich war, weswegen sich einige Oppositionsgruppen wie die »Initiative Frieden und Menschenrechte« bewusst außerhalb des kirchlichen Raumes ansiedeln wollten.

Schaut man sich die protokollartigen ZAIG-Berichte zu den Tagungen der KKL oder den Landes- und Bundessynoden an, fällt die ganze Bandbreite an hochpolitischen Debatten innerhalb der Kirche im Jahr 1989 ins Auge: Die Kritik an der Zensur von Kirchenzeitungen, die Forderung nach neuen Lehrplänen anlässlich des IX. Pädagogischen Kongresses, die Debatte über Abrüstung im Zuge der Wiener KSZE-Folgekonferenz, Eingaben und Erklärungen zur Kommunalwahl oder eine Aussprache über den Umgang mit Parteien und Sammlungsbewegungen, die von Kirchenleuten wie Markus Meckel (SDP) und Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch) ins Leben gerufen wurden. Diese vielfältigen Auseinandersetzungen, die in der »kleinen Öffentlichkeit« der Kircheninstitutionen stellvertretend für die Gesamtgesellschaft geführt wurden, geben die ZAIG-Informationen – abgesehen von einigen Stasi-typischen Floskeln (»politisch-negative Kräfte«, »realistische Positionen«) – relativ zurückhaltend, ohne ideologisierte Bewertungen und wirklichkeitsferne Deutungen wieder. Inhaltlich lassen sich dabei zwei Phänomene feststellen, die sich wie ein roter Faden durch das Themenfeld Kirche ziehen: die Zerrissenheit führender Vertreter der evangelischen Kirchen über ihre gesellschaftliche Rolle in der DDR und ihre Resignation über die Reformunfähigkeit der SED-Führung. Zunächst kam während des gesamten Jahres 1989 kein Konsens darüber zustande, ob man Kooperationspartner des Staates, unpolitische Religionsgemeinschaft oder Dach für Oppositionsgruppen sein wollte. Während sich evangelische Geistliche wie der Berliner Generalsuperintendent Günter Krusche, der Präsident des Konsistoriums der Kirchenprovinz Sachsen Martin Kramer oder der Präsident der Landeskirche Anhalt Eberhard Natho klar für eine SED-loyale Haltung aussprachen, forderten unter anderem der Berliner Bischof Gottfried Forck, sein persönlicher Referent Martin Michael Passauer oder der Erfurter Propst Heino Falcke eine selbstbewusste Ansprache tabuisierter gesellschaftlicher Missstände. Unüberhörbar postulierten sie ein politisches Mitspracherecht der Kirche. Manfred Stolpe, Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, empfahl sich hingegen als pragmatischer Problemlöser und auf Ausgleich bedachter Vermittler zwischen Kirche und Staat und nahm damit eine Zwischenposition ein.31

Eine Gretchenfrage bei dieser Ortsbestimmung war das Verhältnis zu den stark politisierten Basisgruppen der evangelischen Kirche. Eine ZAIG-Information zur KKL-Sitzung im März 1989 gibt ein Referat Kramers wieder, in dem er sich gegen die Reformforderungen der von unten organisierten Kirchenmitglieder wandte. »Veränderungen in der DDR seien Aufgabe der Partei und Regierung und nicht der Kirche«, so der anhaltinische Kirchenpräsident. Letztere müsse endlich eine Entscheidung treffen, »ob sie für die gläubigen Gottesdienstbesucher oder für die lautstarken Gruppen spreche«. Lasse man sich zu sehr von einzelnen Gruppenforderungen treiben, bestehe die Gefahr, in den Ruf eines »besserwisserischen Klerikalismus« zu geraten. In der anschließenden Diskussion unterstützte der Oberkirchenratspräsident der Landeskirche Mecklenburg Peter Müller diese Position, indem er sagte, dass die Kirche kein politisches Programm vertreten dürfe, »auch nicht ein ›Perestroikaprogramm‹«.32

Hans Otto Furian, Propst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, entgegnete daraufhin, dass Kramer wohl vergessen habe, »dass es heute notwendig ist, den Menschen an der Machtausübung zu beteiligen«. Die Kirche müsse für jeden Bürger ein politisches Mandat gegen staatliche Bevormundung übernehmen und sich permanent zu »Verletzungen der Menschenrechte in der DDR« äußern.33 Diesem politischen Anspruch fühlte sich auch der Bischof der Landeskirche Mecklenburg Christoph Stier verpflichtet. Auf einer Tagung der Landessynode im März 1989 begrüßte er ausdrücklich die Existenz von Basisgruppen, da sie »oft genug die Finger auf Wunden in Kirche und Gesellschaft legten und besonders wach und sensibel im Blick auf jeden Machtmissbrauch und jede Verletzung der Menschenwürde in Staat und Kirche« seien.34

Wie tief der Riss zwischen SED-loyalen und SED-kritischen Vertretern ging, zeigt der Streit um die Einweihung des Greifswalder Doms am 11. Juni 1989, der in den ZAIG-Berichten sehr ausführlich dokumentiert wird. Ohne Rücksprache mit der Leitung und der Synode des BEK hatte Horst Gienke, Bischof der Landeskirche Greifswald, SED-Chef Erich Honecker zum Festakt eingeladen. Es sollte der letzte größere öffentliche Auftritt des Generalsekretärs vor seinem Machtverlust im Oktober 1989 werden. Für den Greifswalder Bischof waren das Sanierungsprojekt und der Auftritt Honeckers ein Symbol für die »fruchtbare Kooperation zwischen Kirche und Staat«.35 Bei führenden Vertretern des BEK wie Forck, Stier und Hempel löste sein Alleingang hingegen große Verärgerung aus. Gienke überschreite seine Befugnisse und maße sich Kompetenzen der KKL an, so der Vorwurf. Der Festakt würde die Spannungen zwischen Staat und Kirche verschleiern und eine Spaltung des BEK provozieren.36 Demonstrativ blieb Bischof Stier aus der Nachbarkirche Mecklenburg den Feierlichkeiten fern. Als der Berliner Bischof Forck von einem Gespräch mit Honecker im Greifswalder Rathaus kurzfristig wieder ausgeladen wurde, zeigte er sich laut ZAIG-Information erleichtert, da ihm damit »eine große Peinlichkeit erspart geblieben« sei.37 Die Wut über Gienkes Verhalten steigerte sich noch einmal, als er am 19. Juli 1989 Honecker im »Neuen Deutschland« für dessen Teilnahme und Engagement bei der Dom-Einweihung dankte und im gleichen Atemzug einige Mecklenburger Kirchenzeitungen für ihre kritische Berichterstattung attackierte. Auch dieser Schritt war mit keiner Seite abgestimmt gewesen. Der Protest von Pastoren und Superintendenten schwoll daraufhin so stark an, dass sich die Greifswalder Herbstsynode im November 1989 gezwungen sah, Gienke das Misstrauen auszusprechen, worauf dieser von seinem Kirchenamt zurücktrat und von der Kirchenleitung in den Ruhestand versetzt wurde.38

Bemerkenswert ist, dass die ZAIG-Berichte die desaströse Wirkung von Gienkes Amtsführung kaum widerspiegeln. Hervorgehoben werden stattdessen die positiven Reaktionen auf sein Agieren. Bei vielen Mitgliedern der Greifswalder Landeskirche seien die »Feierlichkeiten und Begegnungen […] günstig aufgenommen« worden, so ein Bericht der ZAIG vom 14. Juni 1989. »Viele Geistliche« bewerteten die freundlichen Kommentare in den Zeitungen und die Zusage Honeckers, die Gespräche mit dem BEK fortzusetzen, als direkte Antwort »auf die Angriffe negativer Gruppen in den letzten Wochen«. »Über den guten Eindruck, den er [Honecker] hinterlassen habe, sei Freude geäußert worden«, so das MfS weiter.39 Es liegt auf der Hand, dass eine solche Darstellung wenig mit der realen Stimmungslage in den Landeskirchen zu tun hatte und eher einer Wunschberichterstattung glich. Anscheinend schreckten die Offiziere davor zurück, die SED-Führung über die tatsächliche Wirkung der Honecker-Visite und das ganze Ausmaß der Entfremdung zwischen Staat und Kirche aufzuklären.

Ohne jede Beschönigung geben die ZAIG-Berichte allerdings die weitverbreitete Enttäuschung vieler Kirchenvertreter über die Reformunwilligkeit der SED wieder. Anfang Mai berichtete das MfS zum Beispiel von einem Abschlusstext der Ökumenischen Versammlung in Dresden, der in vielen Kirchgemeinden die Runde machte und sich wie eine Generalabrechnung mit der Regierung las. Von »Gängelei und Frustration« und dem »Fehlen von Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und voller Rechtssicherheit« war hier die Rede. Durch »Ohnmachtserfahrungen« würden die Bürger »entmutigt, verbittert, entwürdigt«.40 Das mehrseitige Dokument endete mit einem umfangreichen Forderungskatalog vom »freien Zugang zu Informationen« und der Reform des Wahlrechts, über die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit bis zur »klaren Trennung der Kompetenzen von Staats- und Parteifunktionen«.

Als sich auch im Laufe des Sommers kein Politikwechsel abzuzeichnen begann und der Staatssekretär für Kirchenfragen Kurt Löffler ein bereits vereinbartes Gespräch mit der evangelischen Kirchenleitung absagte, zeigten sich laut ZAIG-Bericht führende Oberkirchenräte zutiefst verärgert: Die Regierung verschweige drängende Probleme, betreibe eine »Vogel-Strauß-Politik« und würde die Bürger des Landes »täglich vor den Kopf stoßen«, so die Teilnehmer einer KKL-Tagung Anfang September 1989.41 Desillusioniert verfasste die Spitze des BEK einen Brief an Honecker, in dem sie die »prinzipielle Verweigerung« der Staatsorgane von Reformen, befremdliche Aussagen zur Massenflucht und hohe Ordnungsstrafen für Protestaktionen von kirchlichen Basisgruppen beklagte. »Wir bitten deshalb erneut und eindringlich darum, offene und wirklichkeitsnahe Diskussionen über die Ursachen von Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft zu führen und sie nicht sogleich durch stereotype Belehrungen oder sogar Drohungen abzuwürgen«, heißt es in dem Schreiben.42

Als die Situation Anfang Oktober mit Polizeikesseln und Massenfestnahmen eskalierte, griff Christoph Demke, Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, die Politik der SED frontal an. »Die gegenwärtige Situation trage psychopathische Züge« und müsste über kurz oder lang zu Gewalt führen, so Demke laut ZAIG-Bericht: »Die Enttäuschung, dass sich Erwartungen, die Gorbatschow geweckt habe, in der DDR nicht erfüllen, werde immer größer.«43 Die Wiedergabe solcher Äußerungen zeigt, dass die MfS-Berichte der SED-Führung die Krisenstimmung unter führenden Kirchenleuten und ihre konkreten politischen Wünsche sehr anschaulich vermittelten.

2.2 Oppositionelle Gruppen und Sammlungsbewegungen

Die oben bereits erwähnten unabhängigen Basisgruppen für die Bereiche Umwelt, Frieden, Frauen und Menschenrechte stellen den zweiten großen Berichtsgegenstand des Jahres 1989 dar. Bis zum Sommer standen dabei jene Oppositions- und Aktionsgruppen im Mittelpunkt, die sich bereits seit den frühen 1980er Jahren schrittweise herausgebildet hatten. In einem Dossier vom 1. Juni 1989 werden ihre Positionen, Akteure, Aktionsformen und regionalen Hochburgen auf 43 Seiten ausführlich analysiert. Nah an der Wirklichkeit, aber stark ideologisch im Ton erhielt die SED-Führung hier einen genauen Überblick über das breite Spektrum der »politischen Untergrundtätigkeit« in der DDR.44 Die Rede ist von 160 Gruppen im Jahr 1989 mit gut 2 500 aktiven Personen, die von insgesamt zehn Netzwerken wie der »Kirche von Unten« oder dem »Grün-ökologischen Netzwerk Arche« koordiniert werden.45 60 Aktivisten zählte das MfS dabei zum harten Kern der Szene, eine »kleine Zahl fanatischer, von sogenanntem Sendungsbewusstsein, persönlichem Geltungsdrang und politischer Profilierungssucht getriebener, vielfach unbelehrbarer Feinde des Sozialismus«, die durch internationale Kampagnen zu »Symbolfiguren einer sogenannten inneren Opposition in der DDR hochgespielt« werden, so die Autoren der ZAIG.46 Als Beispielakteure werden unter anderem Rainer Eppelmann, Hans-Jochen Tschiche, Gerd und Ulrike Poppe, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Thomas Klein angeführt.

Die wichtigsten Organisationen, in denen diese Protagonisten aktiv eine Rolle spielten, listet die Information mit einer kurzen Beschreibung auf, von der »Initiative Frieden und Menschenrechte« in Berlin, über die anarchistische Friedensgruppe »Wolfspelz« in Dresden bis zum »Kirchlichen Forschungsheim« in Wittenberg. Die »aktivste und gefährlichste« Gruppenszene befinde sich dabei in der Hauptstadt, so der Bericht. Grund sei die Nähe des »äußeren Feindes« und die »konfrontative und auf Politisierung der religiösen Tätigkeit ausgerichtete Haltung« der berlin-brandenburgischen Kirchenleitung. Letztere würde die Gruppen materiell und technisch unterstützen und ihre Aktionen systematisch »verharmlosen und herunterspielen«.

Um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen, würden sich die Gruppen auf aktuelle Anlässe wie die Kommunalwahl im Mai oder den IX. Pädagogischen Kongress im Juni 1989 konzentrieren und dabei mit »stillen Demonstrationen« und gezielten Provokationen den Spielraum gegenüber dem Staat austesten. Den Erfolg dieser Strategie führt der ZAIG-Bericht auf zwei Faktoren zurück: Zum einen auf den Kontakt zu westlichen Politikern und Diplomaten, die »feindliche, oppositionelle Kräfte und personelle Zusammenschlüsse zu antisozialistischen Aktivitäten inspirieren, ihnen fortlaufend Unterstützung gewähren« und sie »unter den Schutz der internationalen Öffentlichkeit« stellen würden. Zum anderen auf eine »breit gefächerte ›publizistische Gegenöffentlichkeit‹«, die die Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre aufgebaut hätten. Vor allem Roland Jahn und Ralf Hirsch, die »Schaltstellen des Zusammenwirkens äußerer und innerer Feinde«, hätten »negative Kräfte« mit Druckern, Computern und Kopierern versorgt und damit »eine breite Palette nichtgenehmigter Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse« ermöglicht, so das Gruppendossier des MfS.

Schaut man sich nun an, welche Vorschläge die Autoren für eine politische Strategie gegen diese Entwicklung entwarfen, fällt zunächst eine gewisse Unschärfe ins Auge. »Begünstigende Bedingungen« und »Umstände im Territorium« müssten beseitigt werden, so eine häufige Floskel. Bei genauerem Hinsehen lässt sich aber feststellen, dass die Staatssicherheit weniger auf eine Zerschlagung, sondern vielmehr auf eine Einbindung, ideologische Beeinflussung und innere Steuerung der Gruppen setzte. Zurückgegriffen werden sollte dabei vor allem auf »befreundete Parteien« wie die CDU und »progressive Kirchengruppen« wie die Christliche Friedenskonferenz oder den »Weißenseer Arbeitskreis«. Mithilfe solcher Partner sollte es gelingen, »antisozialistische Ziele« in der Öffentlichkeit zu entlarven, Falschmeldungen durch »offensives Auftreten von Experten« zurückzuweisen, kirchliche Veranstaltungen zu entpolitisieren und mittelfristig »politisch schwankende, irregeleitete oder politisch missbrauchte Personen« zurückzugewinnen. Es galt, die auch aus Sicht des MfS beeindruckende Vitalität der Bürgerschaft in »gesellschaftliche Bahnen«, also in staatlich kontrollierte Massenorganisationen umzulenken.

Die repressive Seite der Empfehlungen taucht in den Berichten des MfS erst an zweiter Stelle auf. Zu dieser zählten »differenzierte strafrechtliche Maßnahmen« gegen einzelne Protagonisten, Reisesperren gegen westliche Kontaktpersonen und ein verstärkter Druck auf leitende Kirchenfunktionäre und Gemeindepfarrer. So solle der Staatssekretär für Kirchenfragen Kurt Löffler »mit allen Bischöfen der evangelischen Landeskirchen Grundsatzgespräche führen«, um politische Veranstaltungen in Kirchenräumen zu untersagen und die Zirkulation illegaler Zeitungen einzudämmen. Gebe es hier keine Veränderung, müsse die »bisherige großzügige staatliche Handhabung für kirchliche Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse« infrage gestellt werden, so der Appell des MfS. Grundsätzlich empfahl das MfS ein enges Zusammenwirken aller staatlichen Organe, um sämtliche Gruppen zu »zersetzen«, zu paralysieren und langfristig aufzulösen.47

In den ZAIG-Berichten werden ausnahmslos alle Vereinigungen von Bürgern als »feindliche« oder »gegnerische« Kräfte beschrieben, die die »gesellschaftlichen Verhältnisse« in der DDR aufweichen und zerstören wollen. Dass viele Gruppen lediglich neue Themen setzen und sich am politischen Diskurs beteiligen wollten, ohne das sozialistische Modell gleich infrage zu stellen, wurde nicht registriert. Vielmehr vermittelte das MfS gegenüber der SED den Eindruck, dass es sich bei all den Akteuren um ein gefährliches und hochaktives Untergrundnetzwerk handele, das zielstrebig an der Beseitigung der politischen Ordnung arbeite.

In dieser Wahrnehmung fühlten sich die Offiziere bestätigt, als ab September 1989 neue Parteien und Bürgerinitiativen auftauchten, die das Herrschaftsmonopol der SED tatsächlich fundamental herausforderten. Wie ernst die MfS-Führung diese Entwicklung nahm, zeigen die ZAIG-Berichte von Anfang September bis Mitte November, die in großer Ausführlichkeit Akteure, Gründungsveranstaltungen, Positionen, westliche Verbindungen und Aktionen der neuen »Sammlungsbewegungen« beschrieben. Im Fokus standen hier vor allem die »Sozialdemokratische Partei in der DDR« (SDP), die Bürgerinitiative »Demokratie Jetzt« (DJ), der »Demokratische Aufbruch« (DA) und das »Neue Forum« (NF). Auf Letzteres schaute das MfS besonders gebannt, weil es der erste Zusammenschluss dieser Art war, der sich darüber hinaus binnen weniger Wochen zur größten Bürgerbewegung im Herbst 1989 entwickelte. Fünf ausführliche Informationen arbeiteten heraus, dass die Bewegung nicht nur die Speerspitze der Opposition vereinte, sondern »unter einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung Resonanz und Zustimmung« erfuhr.48 Es liegen Hinweise vor, heißt es in einer Information vom 26. September, dass »Bürger unterschiedlichster Bevölkerungskreise, darunter freiberuflich Tätige, Kulturschaffende und Angehörige der Intelligenz, aus eigener Initiative ihre Zustimmung mitteilten«. Dazu würden auch kirchliche Amtsträger zählen, »die bisher loyale Positionen gegenüber dem Staat eingenommen haben«.49 Am 2. Oktober meldete das MfS, dass sogar das Rundfunksinfonieorchester und der Jugendsender DT 64 Sympathie für das »Neue Forum« bekundeten.50

Genau protokolliert wurden die »überdurchschnittlichen Besucherzahlen« bei Veranstaltungen der neuen Sammlungsbewegungen. Laut Stasi-Information vom 7. November fanden sich vom 19. bis 23. Oktober gut 200 000 Personen und vom 30. Oktober bis 5. November mehr als 300 000 Personen zu politischen Veranstaltungen in Kirchenräumen ein. Dabei würden die Führungskräfte der Bürgerinitiativen zunehmend selbstbewusst auftreten und immer lauter ihren Willen artikulieren, »als politische Opposition gelten und wirken zu wollen«, so die ZAIG.51

Bei ihren Empfehlungen, wie die SED gegen diese Entwicklung ansteuern sollte, hielt sich die Staatssicherheit auffallend zurück. Forderungen nach harten Maßnahmen wie Verhaftungen oder Strafprozessen sucht man vergeblich. Einmal mehr vertraute die Geheimpolizei auf eine »offensive politisch-ideologische Auseinandersetzung« mit den Organisatoren der Sammlungsbewegungen, um ihnen deutlich zu machen, »dass ihre Aktivitäten den Interessen der sozialistischen Entwicklung zuwiderlaufen«. Dem ZK der SED wurde in diesem Zusammenhang nahegelegt, Vorschläge für »wirksame medienpolitische Aktivitäten zur offensiven Entlarvung und Zurückweisung« der Gruppen auszuarbeiten. Die Frage, wie »offensive politische Maßnahmen rechtspolitisch begründet werden« können, solle zunächst in einem Gutachten geklärt werden.52

Dass sich hinter dieser vorsichtigen Strategie auch eine gewisse Hilflosigkeit verbarg, wird in einer Information vom 13. Oktober 1989 über ein geplantes Treffen des »Neuen Forums« in der Berliner Sophienkirche deutlich. Das MfS empfahl hier zunächst eine Verwarnung der potenziellen Teilnehmer und Gespräche zwischen dem stellvertretenden Bezirksbürgermeister Wilfried Jugl und dem Superintendenten Joachim Koppehl, um eine Öffnung von Kirchenhäusern für diese Veranstaltung zu verhindern. Bringe das nichts, müsse auf »polizeiliche Maßnahmen« zurückgegriffen werden. Dabei, so warnte die ZAIG, bestünde jedoch die Gefahr einer Konfrontation mit »größeren Personenansammlungen«, die zu »öffentlichkeitswirksamen Solidarisierungsbekundungen« führen könnten. »Es wird um Entscheidung gebeten«, so der letzte Satz der Information.53

Dass die politische Führung für eine solche Konfrontation durchaus bereit war, zeigt der Umgang mit dem »Demokratischen Aufbruch«, dessen Gründungsveranstaltung am 1. Oktober 1989 in der Friedrichshainer Samariterkirche tatsächlich durch ein massives Polizeiaufgebot verhindert wurde. Laut ZAIG-Information verwehrten »Einsatzkräfte der DVP« etwa 50 Teilnehmern den Zutritt zur Kirche. Den wichtigsten Protagonisten des DA gelang es daraufhin, über Umwege die Privatwohnung des Pfarrers Ehrhart Neubert zu erreichen, in der sie die Organisation provisorisch mit Satzung und programmatischer Erklärung konstituierten.54 Ein anderer Teil der Aktivisten zog sich ins Gemeindehaus der evangelischen Kirche von Alt-Pankow zurück. Hier wurden sie vom Stellvertreter des Bezirksbürgermeisters Pankow aufgesucht, der sie aufforderte, den Anlass ihrer Zusammenkunft zu nennen, Einsicht in die Diskussionspapiere zu gewähren und die »nicht religiösen Charakter tragende Zusammenkunft« zu beenden, was die Anwesenden laut Stasi-Information konsequent verweigerten.55

Bei der Frage über den richtigen Umgang mit den neuen Bürgerbewegungen schimmert in den ZAIG-Berichten auch eine leise Kritik am Verhalten der politischen Führung durch. »Auf allen Ebenen«, musste eine Information vom 7. November feststellen, gebe es »Sprachlosigkeit« und »Unsicherheit der Partei- und Staatsfunktionäre«, was die Formierung der Sammlungsbewegungen begünstige.56 Anzeichen einer Dialogbereitschaft stünden einer völligen Gesprächsverweigerung gegenüber. Die Oppositionellen würden daraus den Schluss ziehen, dass der Partei- und Staatsführung die Kraft für ein einheitliches Vorgehen fehle.57 Statt Gespräche anzubieten, die auf eine schrittweise Legalisierung hinausliefen, brauche es ein abgestimmtes Handeln aller staatlichen Organe, um eine weitere »Formierung feindlicher, oppositioneller Kräfte« zu verhindern. Dass sich aber auch das MfS über die richtige Strategie keinesfalls im Klaren war, zeigt ein Bericht aus der Vorwoche, in dem es dringend davon abriet, sämtliche Aktionen des »Neuen Forums« »undifferenziert« zu unterbinden. Ein solches Vorgehen würde nur den »begonnenen gesellschaftlichen Dialog« belasten und wenig zur »Stabilisierung der innenpolitischen Lage beitragen«.58

2.3 Mobilisierung (I): Protestaktionen und Massendemonstrationen

Das Beunruhigende an den Sammlungsbewegungen war aus Sicht des MfS ihr Streben nach Öffentlichkeit. Teilnehmerzahl, Uhrzeit, Parolen und Zwischenfälle jeder noch so unscheinbaren Ansammlung im öffentlichen Raum wurden mit großer Genauigkeit protokolliert. Neben den Debatten in Kirchengremien und der Entstehung unabhängiger Bürgerinitiativen bilden öffentliche Demonstrationen den dritten großen Schwerpunkt der ZAIG-Berichte im Jahr 1989.

Im ersten Halbjahr standen dabei zunächst kleinere Aktionen der traditionellen Oppositionsszene im Mittelpunkt: ein Schweigemarsch mit 500 Teilnehmern für mehr Demokratie auf dem Leipziger Marktplatz am 15. Januar, eine Fahrraddemo von 20 Jugendlichen zur Leipziger Frühjahrsmesse am 12. März oder eine Aktion »feindlich oppositioneller Kräfte« auf der Abschlussveranstaltung des Leipziger Kirchentages am 9. Juli.59 Im Stile von Polizeiprotokollen werden diese »Vorkommnisse« detailliert beschrieben und politisch kurz eingeordnet, ohne jedoch die tieferen gesellschaftlichen Ursachen der Proteste zu erörtern.

Ab Mitte des Jahres beherrschten zwei neue Phänomene die Aufmerksamkeit des MfS, die eine veränderte Qualität der bürgerschaftlichen Mobilisierung markierten: die Proteste rund um die Kommunalwahl im Mai und Juni 1989 und die im September einsetzenden Montagsdemonstrationen in Leipzig. Bezüglich der Kommunalwahl wird in den ZAIG-Informationen bereits im Vorfeld über zahlreiche »provokatorische Aktivitäten« berichtet, etwa Boykottaufrufe von Oppositionsgruppen, Planungen von Wahlkontrollen oder Hetzlosungen an Wahllokalen (»Wer freie Wahlen scheut, traut uns nicht. Wer uns nicht traut, den wählen wir nicht.«).60 Zum Wahltag lieferte das MfS der SED-Führung dann ein umfassendes Lagebild: Aus Leipzig wurde zum Beispiel über 250 Personen berichtet, die »in losen Gruppen« durch das Stadtzentrum ziehen. »Durch den vorbereiteten sofortigen Einsatz von Sicherungs- und gesellschaftlichen Kräften gelang es, die ständigen Versuche dieser Personen, sich zusammenzuschließen und in Richtung Markt zu bewegen, zu unterbinden«, heißt es in einer Information vom 8. Mai 1989. Aus Berlin wurde eine »sogenannte Wahlparty« des Netzwerkes »Kirche von Unten« in der Elisabethkirche mit etwa 270 Teilnehmern gemeldet. »Anwesende bekannte Kräfte des politischen Untergrundes versuchten, die Wahlergebnisse als manipuliert darzustellen«, so das MfS. Es seien Erfahrungen ausgetauscht, Wahlscheine zerrissen und ein Flugblatt verfasst worden. Ähnliche »Demonstrativhandlungen« meldete die Information auch aus kleineren Städten wie Bautzen oder Altenburg, um am Ende mithilfe eines »Vergleichswerts« zur Kommunalwahl 1984 die Zunahme der Aktivitäten hervorzuheben.61

In der Folgezeit nahmen vor allem die Wahldemonstrationen an jedem 7. eines Monats einen größeren Raum in der Berichterstattung ein. Den Auftakt machte der oben bereits beschriebene Schweigemarsch von Aktivisten des »Weißenseer Friedenskreises« am 7. Juni 1989, der von einem mächtigen Polizeiaufgebot mit mehr als 950 Sicherheitskräften aufgelöst wurde. Über diese »Provokation vom 7. Juni« verfasste das MfS eine ausführliche Information, in der vor allem die erfolgreiche Verhinderung des Marsches herausgearbeitet wurde. Mit 18 Organisatoren seien »Vorbeugegespräche« geführt und 160 »potenzielle Teilnehmer« ganztägig kontrolliert worden, um »deren Annährung an den Handlungsort zu verhindern«. Ebenso habe es im Vorfeld eine Aussprache mit Konsistorialpräsident Stolpe und Generalsuperintendent Günter Krusche sowie direkt vor Ort 48 Zuführungen mit 25 Belehrungen und 23 Ordnungsstrafen gegeben. All diese Maßnahmen seien »konsequent realisiert« worden und hätten sich als »richtig und zweckmäßig« erwiesen, so die Information vom 8. Juni.

Derselbe Bericht geht auch auf die abendliche Andacht in der von Polizisten und MfS-Mitarbeitern umstellten Sophienkirche ein, die weniger reibungslos verlief als die Auflösung des Schweigemarsches am Nachmittag. 450 Personen waren hier zusammengekommen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. »Mit ständigen Zwischenrufen«, so das MfS, hätten »feindlich, oppositionelle Elemente« die Stimmung angeheizt und weitere »öffentliche Aktionen« gefordert. Dabei hätten sie eine »stilisierte schwarze Wahlurne« mit der Aufschrift »Hier liegt die Demokratie begraben« und Transparente mit Parolen wie »Genug vom Wahlbetrug« mit sich geführt. Als die »Mehrzahl der Anwesenden« den Versuch unternahm, »geschlossen das Gelände der Sophienkirche zu verlassen und sich auf der Straße zu formieren«, habe der Staat reagieren müssen. »Zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit und der Auflösung dieser Zusammenrottung erfolgten insgesamt 140 Zuführungen«, so das MfS. Der exzessive Charakter dieser »Auflösung« kommt hier nur ansatzweise zum Vorschein. Deutlicher formuliert es der Historiker Hans Michael Kloth, der von etwa 200 Polizisten spricht, die »unter Treten, Schlagen und dem Einsatz von Gummiknüppeln« einen Keil in die Demonstranten getrieben hätten, um sie anschließend zu verhaften und in bereitstehenden Bussen abzutransportieren.62

Dass die Staatssicherheit über diese Eskalation nicht sonderlich erfreut war, zeigen die harsch formulierten Empfehlungen an die politische Führung am Ende des Berichts: Stolpe solle verdeutlicht werden, dass er und das Konsistorium »eine hohe Verantwortung für die Zusammenkunft in der Sophienkirche, für die damit erfolgten verleumderischen Angriffe gegen die DDR, das gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit gerichtete Verhalten der Teilnehmer dieser Zusammenrottung und die dadurch notwendig gewordenen Maßnahmen der Schutz- und Sicherheitsorgane« tragen. Eine solche Haltung sei inakzeptabel und einem »vertrauensvollen Verhältnis zwischen Staat und Kirche zutiefst abträglich«.63

Ähnlich rigoros wie vor der Sophienkirche agierten die staatlichen Sicherheitsorgane auch bei den Wahldemonstrationen, die an jedem 7. eines Monats als »Schweigesitzen« oder »Mahnwachen« auf dem Alexanderplatz abgehalten wurden. Um eine solche Aktion am 7. Juli 1989 schon im Ansatz zu unterbinden, wurden zum Beispiel laut Stasi-Information 14 »Organisatoren« im Vorfeld mit Auflagen versehen, 97 »potenzielle Teilnehmer« bereits am Vortag durchgängig kontrolliert, 94 Personen auf dem Weg zum Alexanderplatz »an der Peripherie zurückgewiesen« und weitere 30 Personen festgesetzt, »weil sie sich weigerten, den Weisungen der Einsatzkräfte Folge zu leisten«. Einer von ihnen trug laut ZAIG-Information ein Plakat mit der Aufschrift »Zu dumm zum Addieren, aber ein ganzes Land regieren«. Etwas verklausuliert berichtet die Information von einem erfolgreichen »Zusammenwirken« von »Sicherheitsorganen« und »gesellschaftlichen Kräften«, womit über 1 000 Partei- und Kampfgruppenmitglieder in Zivil gemeint waren, die an diesem Tag über den Alexanderplatz verteilt waren.64

Zusätzlich zu den Wahlprotesten rückten im Laufe des Sommers die Montagsdemonstrationen im Anschluss an die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche ins Blickfeld der ZAIG. Erstmals wurde darüber am 12. Juni 1989 berichtet, als es noch um eine kleine Gruppe von »50 bis 60 Personen« ging, die sich zum Marktplatz bewegte und »nach ca. 80 Metern« im Schuhmachergässchen durch Polizisten zum Stehen gebracht wurde.65 In einer Information vom 26. September 1989 war allerdings schon von 3 500 Personen die Rede, die nach einer völlig überfüllten Andacht »durch das Stadtzentrum in Richtung Georgiring« marschiert seien. Die Stasi betonte, dass zuvor Pfarrer Christoph Wonneberger, der an diesem Tag für die Ausgestaltung der Gebete verantwortlich war, eine »angeheizte Atmosphäre und aggressive Stimmung« geschaffen habe, unter anderem mit Aussagen wie »Wenn die Verfassung nicht dem Bürger nützt, muss die Verfassung geändert werden«. Die Folge dieser Agitation sei unter anderem eine »Zusammenrottung« von 800 Personen im Hauptbahnhof gewesen, die einen Polizeieinsatz notwendig gemacht habe. Um solche Vorfälle in der Zukunft zu vermeiden, legte das MfS der SED-Führung nahe, über den Staatssekretär für Kirchenfragen »kurzfristig« das Gespräch mit dem sächsischen Landesbischof Johannes Hempel zu suchen. Ihm solle klargemacht werden, dass die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche einen »ständigen Ausgangspunkt für fortgesetzte und sich eskalierende Provokationen gegen den sozialistischen Staat« darstellten und er zügig einen rein religiösen Charakter dieser Veranstaltungen herbeiführen solle. Darüber hinaus brauche es eine Vorladung und »nachdrückliche Verwarnung« der beiden Pastoren Christoph Wonneberger und Christian Führer beim Rat des Bezirkes.66

Die ZAIG-Berichte zur angespannten Lage in Leipzig zeigen einmal mehr, dass das MfS stark auf die disziplinierende Wirkung der Kirchenführung setzte und den Einsatz von Gewalt nicht ausdrücklich empfahl. Dass ein hartes polizeiliches Durchgreifen bis Mitte Oktober dennoch praktiziert wurde, kommt in den Berichten, wenn auch versteckt hinter sperriger Polizeisprache, mehr als deutlich zum Vorschein. In einer Information vom 3. Oktober 1989 meldet die ZAIG zum Beispiel an die SED-Führung, dass ein Demonstrationszug auf dem Leipziger Innenstadtring mit etwa 3 000 Personen »durch den konzentrierten Einsatz der Kräfte der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Kampfgruppen« gestoppt werden konnte. Als sich am Abend erneut etwa 1 500 Protestierende in der Innenstadt versammelten, sei der »Einsatz des Schlagstockes und von Diensthundeführern mit Diensthunden (mit Korb) erforderlich« gewesen.67

Bemerkenswert ist, dass die Gewaltexzesse auf dem Alexanderplatz und vor dem Palast der Republik während des Festakts zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 in den Berichten keine Erwähnung finden. Auch die Eskalation vor der Gethsemanekirche im Stadtteil Prenzlauer Berg am Abend des 7. und 8. Oktober mit mehr als Tausend Festnahmen wird mit keiner Silbe erwähnt. Über die Gründe kann nur spekuliert werden: Wolle und Mitter vermuten, dass die Berliner Bezirksverwaltung an diesem Tag überfordert gewesen sei, rechtzeitig einen Lagebericht zu erstellen.68 Denkbar ist aber auch, dass diese brisanten Vorfälle in Vier-Augen-Gesprächen zwischen Honecker und Mielke direkt ausgewertet wurden.

Ab Mitte Oktober 1989, als die SED-Führung ihre harte Linie längst aufgegeben hatte, lenkten die ZAIG-Berichte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die rasche Ausbreitung der Massenproteste. »In nahezu allen Bezirken der DDR« hätten »ungenehmigte öffentliche Demonstrationen« mit über 140 000 Personen stattgefunden, heißt es am 23. Oktober.69 Territoriale Schwerpunkte seien Leipzig und Dresden »mit ca. 70 000 bzw. 22 000 Personen« gewesen. In der Woche vom 23. bis 29. Oktober zählte das MfS landesweit 130 Demonstrationen mit einer halben Million, in der Woche darauf 210 Kundgebungen mit mehr als 1,3 Millionen Teilnehmern. »Demonstrationen in Kreisstädten haben zugenommen und erreichen Teilnehmerzahlen, die denen der Bezirksstädte vergleichbar sind – Plauen (30 000), Dessau (35 000), Nordhausen (20 000), Hoyerswerda und Quedlinburg (je 15 000)«, so die Information vom 7. November.70

Mit einer solchen detailgenauen Auflistung von Orten und Teilnehmerzahlen der Demonstrationen illustriert das MfS plastisch die breite Mobilisierung der Bevölkerung ab Mitte Oktober. Eine genaue soziologische Analyse der Protestierenden bleibt sie allerdings schuldig. Statt deutlich zu machen, dass die Mitte der Gesellschaft auf der Straße stand, betonen die ZAIG-Berichte eher den aggressiven und staatsfeindlichen Charakter der Kundgebungen. »Es mehren sich Sprechchöre faschistischen und rassistischen Charakters«, heißt es zum Beispiel in der Information vom 7. November. In »deutlich provokatorischer Absicht« würden Kerzen »unmittelbar vor objektsichernden Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane« abgestellt und Demonstrationen »gezielt« an den »Objekten des MfS vorbeigeführt« werden. Hier komme es zu »handlungsstimulierenden Aufputschungsrufen« wie »Brennt das Haus nieder«, »Stasi-Schweine raus« oder »Die Messer sind gewetzt, die Stricke liegen bereit«.71 »Demonstrative Beifallsbekundungen […] gegenüber solchen Sprechchören« ließen erkennen, »dass man sich zunehmend damit identifiziert«.72 Ratschläge, wie die SED-Führung auf all diese Provokationen reagieren solle, formulierte das MfS ab Mitte Oktober 1989 nicht mehr. Die Informationen beschränken sich stattdessen darauf, in kurzen Zügen die Vielzahl der Aktivitäten im Land zu beschreiben, wodurch einmal mehr die Ohnmacht der Geheimpolizei in diesen Herbstwochen zum Vorschein kommt.

2.4 Mobilisierung (II): Flucht und Ausreise

Eine zunehmende Machtlosigkeit der Geheimpolizei zeigt sich auch beim wohl bedeutendsten Problemkomplex der DDR im Jahr 1989: der massenhaften Flucht und Ausreise von DDR-Bürgern. Das Phänomen der Auswanderung, das erheblich zur Destabilisierung der SED-Herrschaft beigetragen hatte, spielt in den Berichten eine ähnlich große Rolle wie die Demonstrationen. Geschildert werden einzelne Fluchtfälle, Proteste von Ausreiseantragstellern und schließlich, ab Sommer 1989, die Besetzung von Botschaften und der massenhafte Weggang von Ostdeutschen über Ungarn in die Bundesrepublik.73 Die Berichte zeigen anschaulich, wie die Aktivitäten von Oppositionsgruppen, die Debatten innerhalb der Kirche und die allgemeine Stimmung der Bevölkerung nachhaltig von der Massenflucht bestimmt wurden, wie sich Flucht und gesellschaftliche Mobilisierung wechselseitig verstärkten.

Erstmals griff die Staatssicherheit das Thema in einem Bericht vom 27. Januar 1989 über die Reaktion der Bevölkerung auf eine neue Reiseverordnung auf.74 Im November 1988 hatte die SED-Führung entschieden, den Kreis der Antragsberechtigten sowie die Anlässe für eine Auslandsreise auszuweiten. Die Rechtsnorm war allerding sehr restriktiv formuliert. Auch wenn sie erstmals ein Anrecht auf Begründung einer Ablehnung eines Ausreiseantrags und die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung des Genehmigungsverfahrens beinhaltete, stellte sie noch keine echte Reisefreiheit sicher. Die Veröffentlichung der Verordnung löste daher heftige Proteste aus. »Verschiedene Personenkreise«, so die ZAIG, würden sich enttäuscht zeigen, da es nach wie vor keine »touristischen Reisemöglichkeiten ins nichtsozialistische Ausland« gebe. Immer wieder werde betont, dass Bürger ohne verwandtschaftliche Beziehungen ins westliche Ausland benachteiligt seien – sie könnten nicht reisen, müssten aber »die ökonomischen Belastungen« mittragen. Die »›Spaltung‹ der Bevölkerung in zwei ›Klassen‹« – in die mit und ohne Westverwandtschaft – würde sich damit weiter vertiefen. »Auf Dauer«, so eine verbreitete Ansicht laut MfS, könne es sich »die DDR politisch nicht leisten, ihre Bürger nur aus humanitären Gründen in das nichtsozialistische Ausland reisen zu lassen«.75

Die Reaktion der Bevölkerung auf die restriktive Reisepolitik der SED fiel derart heftig aus, dass sich die Regierung im März 1989 sogar genötigt sah, die Verordnung noch einmal zu überarbeiten. Das politische Kernproblem der Freizügigkeit konnte dadurch aber nicht entschärft werden. Das musste die Regierung spätestens seit den Sommerferien feststellen, als sie nicht mehr nur durch einzelne Ausreiseantragsteller, sondern durch eine regelrechte Massenabwanderung herausgefordert wurde. Auf legalen und illegalen Wegen hatten mittlerweile über 100 000 Bürger das Land verlassen.76 Während eines sogenannten »paneuropäischen Picknicks« in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze übertraten am 19. August binnen weniger Stunden etwa 600 Menschen die für einen Nachmittag offene Grenze nach Österreich.77 Zur gleichen Zeit strömten immer mehr Bürger in die diplomatischen Vertretungen Westdeutschlands. Angesichts dieser Dynamik erstaunt es, dass die ZAIG dem Thema Flucht und Ausreise zunächst wenig Aufmerksamkeit schenkte. Ein Bericht vom 14. August 1989 erwähnt lediglich die aktuellen Zahlen der Botschaftsflüchtlinge – 117 in Ostberlin, 164 in Budapest und 43 in Prag – ohne auf die politischen Folgen der Entwicklung einzugehen.78 Eine ausführliche Lageanalyse stellte das MfS erst am 9. Oktober 1989 zusammen. Demnach waren allein im September nicht weniger als 61 500 Personen »mit Aktivitäten der ständigen Ausreise« und »dem ungesetzlichen Verlassen der DDR […] in Erscheinung getreten«: 25 200 DDR-Bürger gelang die Flucht über die seit dem 11. September offene ungarisch-österreichische Grenze, 1 568 Personen waren von Westreisen nicht wieder zurückgekehrt. Weiteren 17 612 Personen war laut MfS die »ständige Ausreise« offiziell erlaubt worden, davon allein 6 842 Personen, die »gemäß zentraler Entscheidung im Zusammenhang mit ihrem rechtswidrigen Aufenthalt in den Botschaften der BRD in Prag (5 966 Personen) und Warschau (876 Personen) am 1. Oktober 1989 nach der BRD abgeschoben wurden«.79

Ab September 1989 beschreibt die ZAIG ausführlich die Wirkung dieses massenweisen Wegzugs der Bürger auf die allgemeine Bevölkerungsstimmung. In einem Bericht vom 13. September ist von »Besorgnis« und »Beunruhigung« nicht zuletzt bei »progressiven Kräften« die Rede.80 Es werde zum Beispiel die Frage aufgeworfen, »ob die DDR angesichts der ohnehin angespannten Arbeitskräftesituation eine Verringerung des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotenzials, vor allem im Hinblick auf den Weggang einer großen Zahl von Hoch- und Fachschulkadern sowie Facharbeitern, in diesem Umfang volkswirtschaftlich verkraften könne«. In »allen Bevölkerungskreisen« gebe es »zunehmende Auffassungen, dass man angesichts der ›Massenflucht‹ von DDR-Bürgern […] Angst vor der Zukunft haben müsse«.

Dass vor allem junge Menschen glaubten, »ihre persönlichen Perspektiven nur unter kapitalistischen Verhältnissen verwirklichen zu können«, stieß laut MfS bei vielen Bürgern auf Unverständnis, da diese doch »im Sozialismus aufgewachsen und erzogen wurden« und »in der DDR umfassende soziale Unterstützung und Förderung erfahren haben«. Als mögliche Erklärung für dieses Phänomen wurde laut Information vom 13. September auf »Fehler und Mängel« bei der »politisch-ideologischen Erziehung« sowie den Gegensatz zwischen dem in der Schule vermittelten Idealbild des Sozialismus und den tatsächlichen Erfahrungen im Berufs- und Alltagsleben verwiesen. Zudem sähen viele Jugendliche die »sozialpolitischen Leistungen« als »Selbstverständlichkeit« an und würden die »materiellen und ideellen Werte des Sozialismus« nicht genügend wertschätzen. Am Ende der Information heißt es allerdings auch, dass in den »heftig geführten Diskussionen« nicht wenige die »seit Langem angestaute Unzufriedenheit breitester Teile der Bevölkerung mit einer Vielzahl ungelöster Probleme im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich« als eigentliche Ursache der Fluchtbewegung ausmachten.81

Der Bericht führt schließlich fünf Hauptgründe an, die laut Stimmen aus der Bevölkerung die Menschen zum Fortgehen bewegen würden: Mangelerscheinungen bei der Versorgung, vielfältige ökonomische Missstände, die eingeschränkten Reisemöglichkeiten, der »Stand der Entwicklung der sozialistischen Demokratie« und die staatliche Informations- und Medienpolitik.82 Grundsätzlich würden »Resignation und Unglaube an positive Veränderungen« in der DDR die Weltsicht der Ausreisewilligen prägen, wobei für jeden Einzelfall auch individuelle Ereignisse und Erlebnisse berücksichtigt werden müssten.83

Ein besonderes Augenmerk legte die ZAIG auf die Abwanderung von Mitarbeitern des Gesundheitswesens. In einer zehnseitigen Analyse vom 4. September 1989 heißt es, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres 1989 mehr als 1 500 Beschäftigte des medizinischen Sektors das Land ungesetzlich verlassen hätten, darunter fast 500 Ärzte. Weitere etwa 6 500 Beschäftigte (davon 1 269 Ärzte) hätten bis Ende Juni 1989 einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt. Zusammengenommen seien damit etwa 2,6 Prozent der Ärzte und Zahnärzte der DDR entweder geflüchtet oder kurz vor dem Wegzug.84 Die Staatssicherheit betonte, dass dieser Anteil etwa dem Personalbedarf für die medizinische Versorgung des Bezirks Suhl mit gut 550 000 Einwohnern entsprach. Die Auswirkungen für die Qualität der medizinischen Betreuung, heißt es am Ende etwas vage, seien »noch nicht abzusehen«.85

Bei den Motiven der Mediziner für ihren Wegzug fand die Staatssicherheit kaum Unterschiede zu denen der übrigen Ausreisewilligen: »eingeschränkte Reisemöglichkeiten«, »unzureichende Löhne« und »Mängel in der medizinischen Betreuung« würden immer wieder als Ursachen für die verbreitete Unzufriedenheit genannt. Allgemein dominiere innerhalb der Ärzteschaft das Gefühl, »nur in der BRD oder Westberlin« eine »spürbare, schnelle und dauerhafte« Veränderung der eigenen Lebensbedingungen herbeiführen zu können.86

2.5 Die Herbstrevolution in den ZAIG-Berichten

Spiegelt sich der fundamentale politische Umbruch im Herbst 1989 auch in den ZAIG-Informationen wider? Die detailgenauen Darstellungen der Großdemonstrationen, Massenfluchten und sich explosionsartig ausbreitenden Sammlungsbewegungen zeigen bereits einprägsam die schwere politische Krise der DDR seit September 1989. Wie fortgeschritten der politische Vertrauensverlust der SED war, kommt aber noch deutlicher in den meist nur innerhalb des MfS verteilten Stimmungsberichten der ZAIG – den sogenannten O-Berichten – zum Vorschein. In einem Lagebericht aus den Industriebetrieben heißt es zum Beispiel am 8. Oktober, dass unter den Arbeitern »Zweifel an der Perspektive des Sozialismus in der DDR« wüchsen. Vor allem ältere Jahrgänge befürchteten »große Erschütterungen in der Gesellschaft«, die die Partei kaum noch beherrschen könne. Auch »progressive Kräfte« gingen davon aus, »dass die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR ernsthaft in Gefahr« sei: »Bereits jetzt – so argumentieren sie – befände sich die DDR in einer Situation wie kurz vor den konterrevolutionären Ereignissen am 17. Juni 1953.«87

Ziemlich ungeschönt geben die Berichte auch die angespannte Lage an der SED-Basis wieder. Mit »immer aggressiverem Ton« würden hier Debatten über die alltägliche Mangelversorgung, die fehlende Mitbestimmung der Bürger und das »bürokratische und herzlose Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe« geführt. »Trotz vieler Beschlüsse ändere sich nichts an der komplizierten Lage. […] Man habe keine überzeugenden Argumente gegenüber Parteilosen und könne deshalb die Parteilinie nicht mehr vertreten«, so die Meinung vieler Mitglieder laut einem O-Bericht vom 11. September 1989.88

Liest man diesen Bericht weiter, fällt auf, dass das Urteil vieler SED-Mitglieder über die Arbeit der eigenen Parteileitung besonders vernichtend ausfiel. Mitgliederversammlungen trügen »nur noch den Charakter von Pflichtveranstaltungen«, auf denen hauptamtliche Parteifunktionäre konkrete Einwände »abwürgen« oder mit »Zitaten aus entsprechenden Parteidokumenten« parieren würden, so eine häufige Beschwerde. Angesichts solcher Kritikunfähigkeit erscheine die »Erfolgsberichterstattung« der Medien vielen Parteimitgliedern als besonders befremdlich, so der O-Bericht weiter. »Wort und Tat« passten nicht mehr zusammen: »Es werde das Bild einer ›heilen Welt‹ des Sozialismus in der DDR vermittelt, das teilweise in krassem Widerspruch zur Wirklichkeit stehe.«

Bemerkenswert ist, dass dieser Stimmungsbericht vom 11. September, anders als üblich, nicht nur innerhalb des MfS, sondern auch an zwölf Mitglieder des Politbüros verteilt wurde.89 Die Offiziere gaben hier nicht nur – scheinbar neutral – die Stimmung an der Parteibasis wieder, sondern formulierten eine dringende Bitte an die SED-Führung: Sie solle den Umgang mit einfachen Mitgliedern überdenken und geschickter nach außen kommunizieren. Denn es war vor allem das MfS – und nicht die zitierten Parteimitglieder – die »ernste Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Erhaltung der politischen Stabilität in der DDR« hegten, wie es in dem O-Bericht heißt.90

Dass dringend etwas geschehen musste, machte die ZAIG der SED-Führung mit einer weiteren Stimmungsanalyse einen Monat später deutlich. Drastischer als jemals zuvor wurde darin die Wut von Industriebeschäftigten und Parteimitgliedern auf die SED-Spitze geschildert. Diese habe »durch eine uneinsichtige Haltung und starres Festhalten an einer offensichtlich nicht umsetzbaren politischen Linie nicht wirksam auf die Zuspitzung der politischen Entwicklung in der DDR, insbesondere seit August dieses Jahres, reagiert und damit schweren politischen Schaden für die SED und die DDR herbeigeführt«, so der Bericht vom 16. Oktober. In allen Bevölkerungskreisen, nicht zuletzt in der Arbeiterklasse, werde der Parteiführung »das Vertrauen und die Verbindung zum Volk abgesprochen«. Man erwarte jetzt »klare Antworten auf langjährig angestaute Fragen zur ökonomischen Situation und vor allem das Aufzeigen konstruktiver Lösungswege. Wenn sich nicht kurzfristig etwas ändere, müsse mit entsprechenden Reaktionen auch seitens der Arbeiter gerechnet werden«, so eine verbreitete Ansicht laut ZAIG.91 Mielke übermittelte dieses Stimmungsdossier persönlich an Egon Krenz – der zu diesem Zeitpunkt noch ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen war – und fügte eine warnende Bemerkung hinzu: »Wie ernst die Lage ist, wird hiermit natürlich noch deutlicher, besonders, da es jetzt schon um die Fragen der Arbeiter geht«, so der Minister.92

Die ZAIG transportierte nicht nur solche unmissverständlichen Stimmungsbilder aus den Betrieben und von der Parteibasis, sondern horchte auch in die Blockparteien und verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen hinein. Mit dieser Gesamtperspektive war sie in der Lage, der SED-Führung die akute Gefahr eines umfassenden Kontrollverlusts glaubhaft zu vermitteln: In den Kampfgruppen würden zum Beispiel »Kämpfer« ihre Mitgliedsausweise »demonstrativ auf den Tisch« legen und die »Stützpunkte« verlassen, während an den Hochschulen Professoren »mit wachsendem Unbehagen in Vorlesungen und Seminare« gingen, da »Studenten immer häufiger politisch sensible Themenbereiche« ansprächen und sie »keine überzeugenden Antworten« hätten, so das MfS in zwei Informationen vom 15. und 16. Oktober.93 Zur gleichen Zeit würden die Mitglieder der »befreundeten Parteien« ihr Führungspersonal infrage stellen und mehr Mitsprache in staatlichen Einrichtungen fordern. In der CDU gebe es zum Beispiel Bestrebungen, den Parteivorsitzenden Gerald Götting abzulösen, die Partei grundlegend zu reformieren und das »kritische Potenzial der evangelischen Kirche« einzubinden. »In sehr aggressiver Form« würde hier über die »Anmaßung der führenden Rolle der SED« gesprochen und eine Beteiligung der Christdemokraten an der Regierung angemahnt, so eine Information vom 26. Oktober.94

Während die ZAIG-Berichte die unmittelbare Gefährdung der SED-Vormachtstellung eindrucksvoll vor Augen führen, gehen sie auf den tatsächlichen Zusammenbruch der Parteidiktatur nur bruchstückhaft ein. Werden die Reaktionen auf den Machtwechsel von Honecker zu Krenz am 18. Oktober noch ausführlich protokolliert, taucht das Epochenereignis Mauerfall zunächst überhaupt nicht auf. Erst am 30. November befasste sich eine Information mit der »Ordnung und Gesetzlichkeit an der Staatsgrenze«. Darin wird ausgeführt, dass die »Pass- und Zollkontrollorgane« große Anstrengungen unternehmen würden, »um unter widrigen Witterungs- und erschwerten Arbeitsbedingungen den millionenfachen Reisestrom fließend zu gestalten«. Binnen drei Wochen seien an 62 Grenzübergängen über 34 Millionen Bürger abgefertigt worden. Dabei bemerkte das MfS kritisch, dass unter dem Druck von »öffentlichkeitswirksamen Demonstrativhandlungen« die Grenztruppen »regelrecht gezwungen« werden würden, »völlig unvorbereitet weitere Grenzübergangsstellen zu eröffnen«. Eine »auch nur annähernd normale Kontrolle« sei damit kaum noch möglich. In ihrer Information rief die Staatssicherheit dazu auf, diesem Drängen nicht weiter nachzugeben und nur in Ausnahmefällen neue Grenzübergänge zu genehmigen.95 Ein letztes Mal – und das in einer ziemlich aussichtslosen Lage – scheint das MfS an dieser Stelle seinem inneren Impuls nachgehen zu wollen, west-östliche Kontakte zu überblicken und diese, wo immer es möglich war, zurückzudrängen.

Die letzte Information der ZAIG datiert auf den 8. Dezember und handelt von der Idee, im Norden der DDR eine »Freie Deutsche Union« für »nationaldenkende Bürger« zu gründen.96 Kurioserweise finden zeitgleich laufende Prozesse, die machtpolitisch deutlich relevanter waren, keine Beachtung, etwa die Streichung der führenden Rolle der SED aus der Verfassung durch die Volkskammer am 1. Dezember, der Rücktritt des Politbüros und des Zentralkomitees auf der letzten ZK-Tagung der SED am 3. Dezember, die Demission von Egon Krenz vom Amt des Staatsratsvorsitzenden am 6. Dezember oder das erste Zusammenkommen des Runden Tisches am 7. Dezember. All das wurde in keinem ZAIG-Bericht kommentiert, vermutlich, weil die SED-Organisation im Zerfall begriffen war, wodurch der Adressat der Berichte abhandenkam und ein geordnetes Arbeiten kaum noch möglich war.

Einen Vorgang allerdings, der den Kontrollverlust der SED zweifelsohne am stärksten illustrierte, dokumentiert das MfS dann doch noch bis ins Detail: Die Besetzung ihrer eigenen Organisation am 4. Dezember. »Kräfte von Bürgerbewegungen«, so heißt es in der Information am Folgetag, hätten sich Zutritt zu den Dienstobjekten verschafft, »wobei Panzerschränke und Räumlichkeiten besichtigt und versiegelt, Angehörige und von ihnen mitgeführte Aktentaschen sowie Pkw kontrolliert« worden seien. Eine »geordnete Dienstdurchführung« sei dadurch »erheblich beeinträchtigt« worden.

Die Durchsuchung und Versiegelung des Bezirksamtes der Staatssicherheit in Erfurt, die am Anfang der Besetzungen standen, rekonstruiert die ZAIG besonders genau. 500 Bürger hätten sich hier vor den Eingängen versammelt, bis der Leiter der Diensteinheit sich entschloss, eine Abordnung von zehn Personen zu empfangen, um »beruhigend auf diese einzuwirken«. Doch während des Gesprächs im Konferenzzimmer hätten sich weitere Personen »gewaltsam Zugang zum Dienstobjekt« verschafft, um eine Besichtigung des Archivs, der Haftanstalt und der Verkollerungsanlage einzufordern, so die Information. Nach längerer Diskussion habe man sich auf eine »Objektbegehung« eingelassen, ohne eine »Abfragung gespeicherter Daten sowie eine Einsichtnahme in schriftliche Unterlagen« zuzulassen. »Fragen zur konkreten Personalstärke sowie zu Details der Struktur wurden nicht beantwortet.« Am Ende verließen die Besetzer das Gebäude wieder, nachdem die Versiegelung von Räumen und Panzerschränken durch herbeigerufene Staatsanwälte und der Einsatz von »sogenannten Bürgerwachen« an »neuralgischen Punkten des Bezirksamtes« vereinbart worden war.97 Obwohl hier die Existenz der eigenen Organisation auf dem Spiel stand, fehlt in der Information jede politische Bewertung des Vorfalls. Strategische Überlegungen, wie man die Arbeitsweise des wichtigsten Exekutivorgans der SED aufrechterhalten könnte, sucht man vergebens. Am Ende des Berichts heißt es lediglich, dass in Zukunft »das Betreten des Objektes durch weitere Personen notfalls durch körperliche Einwirkung und polizeiliche Hilfsmittel (Schlagstock) verhindert werden« soll.

2.6 Besondere Merkmale der Berichte

Wie oben gezeigt, stand die Berichterstattung 1989 ganz im Zeichen der revolutionären Umbrüche. Politisch brisante Themenfelder wie die Neuformierung der Opposition oder die nur schwer einzudämmende Massenflucht wurden besonders genau wiedergegeben – auch, weil diese Themen in den zentralen Zuständigkeitsbereich MfS fielen. Losgelöst davon berichtete das MfS aber auch über Ereignisse, die kaum etwas mit der politischen Anspannung zu tun hatten, etwa über die Gedenkveranstaltungen der Kirchen zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, über die Entstehung einer charismatischen Erneuerungsbewegung in der DDR oder über die Aktivitäten konservativer Gruppierungen in der Bundesrepublik zum »Tag der deutschen Einheit« am 17. Juni.98 Auch wenn das Themenfeld damit recht breit gestreut wirkt, bleiben einige Sachverhalte, die man für ein Jahr wie 1989 eigentlich erwarten könnte, unerwähnt, etwa die Stimmung an den Schulen und Universitäten oder die Debatten und Aktionen innerhalb der alternativen Kulturszene in Leipzig oder Prenzlauer Berg – beides Sachverhalte, die zweifelsohne zu den Schwerpunkten der geheimpolizeilichen Überwachung zählten. Wenig Aufmerksamkeit schenkte die ZAIG auch den Massenorganisationen wie der FDJ, dem FDGB oder dem Kulturbund. Eine Ausnahme bilden hier die Stimmungsbilder aus den Blockparteien. Und auch die desolate Lage im Bereich Produktion und Versorgung, im Vorjahr noch ein zentrales Anliegen des Berichtswesens, wurde ausgespart.99 Wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, dann meist um Spezialthemen wie den Einsatz umweltgefährdender Biphenyle in der Elektrotechnik, den Aufbau eines digitalen Fernmeldesystems in der DDR oder die Verhinderung von Lieferungen mikroelektronischer Bauteile durch das Unternehmen Siemens.100 Erklären lassen sich diese Auslassungen wohl mit der Notwendigkeit, sich in politisch brisanten Zeiten auf das politisch Relevante konzentrieren zu müssen. Unverständlich bleibt allerdings, warum dann Ereignisse wie die Amtseinführung des Berliner Bischofs Georg Sterzinsky, kleinere Ordnungswidrigkeiten westlicher Soldaten in Ostberlin oder das »rowdyhafte« Verhalten von »Jungerwachsenen« in Dresden Eingang in die Geheimdienstrapporte fanden.101 Bemerkenswerterweise berichtete die ZAIG über solche Begebenheiten auch dann noch routinemäßig weiter, als sich die Herrschaftsordnung in ihrem Umfeld längst in Auflösung befand. Dank der bürokratischen Standardabläufe innerhalb des MfS wird dem Leser eine nicht mehr existente Normalität suggeriert. Das ging sogar soweit, dass noch am 7. November 1989, zwei Tage vor dem Mauerfall, die quartalsmäßige Statistik zum »grenzüberschreitenden Verkehr« vorgelegt wurde.102

Gemeinsam sind allen Berichten einige inhaltliche und stilistische Auffälligkeiten, die im Folgenden kurz ausgeführt werden sollen: Statt tiefgründig zu analysieren, beschreiben die Offiziere der ZAIG bestimmte Ereignisse oder Akteure in der Regel recht oberflächlich, ohne größere politische Einordnungen vorzunehmen. Eine Ausnahme stellt hier das umfangreiche Dossier über politisch aktive Gruppen und Netzwerke vom 1. Juni 1989 dar, das auf 43 Seiten ausführlich auf ihre Anzahl, Anliegen, Motive und Organisationsstrukturen eingeht.103 Ähnlich analytisch sind auch die Berichte zum Thema Flucht und Ausreisen. Neben zahlreichen quantitativen Angaben erörtert die ZAIG hier gründlich und realitätsnah die unterschiedlichen Motive für das Verlassen der DDR, ganz besonders beim medizinischen Personal.104 Man merkt den Berichten an, dass beide Themen, Flucht und Opposition, die Kernkompetenz des MfS betrafen.

Die übrigen Informationen geben den Ablauf einzelner Vorfälle oder Veranstaltungen eher deskriptiv, in Form kompakter Polizeiberichte wieder. Zweierlei ist dabei auffällig: Zum einen, dass auch komplexere Sachverhalte wie die innerkirchliche Debatte um das Konzept »Kirche im Sozialismus« präzise, sachlich und verständlich zusammengefasst werden. Zum anderen ist die bürokratisch-technische Sprache unübersehbar. Es dominieren umständliche Sätze voller Einschübe, Wiederholungen und Substantivierungen.105 Diese Ausdrucksweise verstärkt noch einmal den betont nüchternen Charakter der meisten Berichte, in denen keine allzu starken politischen Bewertungen der Ereignisse vorgenommen werden. Hintergrund dieser Zurückhaltung ist der Grundsatz, dass die Einschätzung der politischen Gesamtlage Sache der Partei sein sollte und die Geheimpolizei nur die Hintergrundinformationen zu liefern hatte. Der neutrale Berichtsstil fällt allerdings weg, sobald konkrete Personen ins Spiel kommen. Diese ordnen die Verfasser fast durchgehend »positiven« oder »negativen« Kreisen zu, mal treten sie »mit pessimistischen und unrealistischen Positionen« und mal mit »progressiven Auffassungen« auf. Namhafte Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley oder Rainer Eppelmann werden nicht selten als »hinlänglich bekannte feindlich negative Kräfte« betitelt. Der Fluchthelfer und politische Häftling Michael Gartenschläger, der 1976 an der deutsch-deutschen Grenze erschossen wurde, wird in einer Information sogar als »hasserfüllte[r] Feind der DDR und Terrorist« bezeichnet.106 Die harten Feindbildstereotypen lösen sich erst Ende Oktober etwas auf, als die neu aufgestellte Opposition unübersehbar die politische Agenda bestimmt. Das »Neue Forum« wird dann plötzlich als »bekannte Sammlungsbewegung« vorgestellt, die »ausnahmslos alle wesentlichen Bereiche der Gesellschaft« durchdrungen habe und von der Bevölkerung »als real existierende und wirkende gesellschaftliche Kraft« wahrgenommen werde.107

Die eigentümliche Mischung aus Sachlichkeit und ideologischer Verzerrung zeigt sich auch beim Versuch der Offiziere, die Gründe für die politische Krise der SED herauszuarbeiten. Zwei widersprüchliche Argumentationsebenen treten hier zutage: Auf der einen Seite sprechen die Verfasser die strukturellen Defizite der Innen- und Wirtschaftspolitik deutlich offener als in den Jahren zuvor an. Statt nur auf singuläre Schwierigkeiten hinzuweisen, bieten vor allem die Stimmungsberichte ab September 1989 eine erstaunlich treffende Analyse der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Grundprobleme der DDR. Auf der anderen Seite bleiben die Offiziere auch im Herbst 1989 ihrer Überzeugung treu, gesellschaftliche Spannungen in erster Linie auf »gegnerische Einflüsse« zurückzuführen. Nicht innere Fehlentwicklungen, sondern äußere Provokateure und einzelne von ihnen gesteuerte Gruppen in der DDR hätten Funktionsprobleme bewirkt und Bürger aufgewiegelt. Als besonders gefährlich erachteten die Offiziere dabei die Interaktion zwischen oppositionellen Aktivisten und westlichen Journalisten, Politikern und Diplomaten, die in mehreren Einzelinformationen ausgewertet wird.108 Dass die Offiziere – trotz ihrer guten Kenntnisse über innere Missstände – an der traditionellen Vorstellung eines äußeren Feindeinflusses festhielten, lag zum einen an den politisch-ideologischen Vorgaben der SED. Es entsprach aber auch einer tief verwurzelten Denkweise im Sicherheitsapparat, ganz besonders mit Beginn der turbulenten Herbstwochen, die noch einmal Erinnerungen an den Aufstand vom 17. Juni 1953 wachriefen und bei einigen Offizieren das Kalte-Kriegs-Denken der damaligen Zeit reaktivierten.

Ein letztes Merkmal der ZAIG-Berichte sind ihre häufigen Verweise auf »streng vertrauliche Informationen« oder »zuverlässige interne Angaben«. Solche Floskeln sollten dem Leser zu verstehen geben, dass es sich hierbei um geheimdienstlich ermittelte Insiderinformationen handelte. Tatsächlich exklusiv und aufklärend waren die Berichte aber nur in Ausnahmefällen, da sich spätestens ab Sommer 1989 die meisten politisch relevanten Aktionen und Vorfälle im öffentlichen Raum abspielten. Die letzten Berichte der ZAIG gehen auf Ereignisse ein, die bereits ausführlich in westlichen Medien und lokalen Zeitungen erörtert wurden – etwa die Einrichtung neuer Grenzübergangsstellen entlang der Elbe oder die Unterstützung der neuen Parteien und Bürgerinitiativen durch westliche Politiker. Der letzte Jahrgang des ZAIG-Berichtswesen zeigt damit auch, wie eine zentrale Funktion des MfS – der Öffentlichkeitsersatz für die SED – im Zuge der Revolution schrittweise abhandenkam.

3. Struktur und Entwicklung der ZAIG bis 1989

Die Lage- und Stimmungsberichterstattung des MfS war von Beginn an als Instrument der Krisenprävention gedacht, um eine Situation wie jene im Herbst 1989 zu verhindern. Als Reaktion auf den Juni-Aufstand 1953 sollte eine zunächst achtköpfige zentrale Informationsgruppe die Parteiführung frühzeitig über herrschaftsgefährdende Entwicklungen informieren.

In den Folgejahren wurde der Inhalt und institutionelle Rahmen dieses Berichtswesens fortwährend ausgebaut und professionalisiert. Im Jahr 1960 erhielten zum Beispiel die Bezirksverwaltungen und operativen Hauptabteilungen des MfS eigene Informationsgruppen als Unterbau der jetzt »Zentrale Informationsgruppe« genannten Diensteinheit. Ab 1965 wurden diese Informationsgruppen in ein einheitliches System der Recherche, Selektion und Auswertung von Informationen inkorporiert. Die »Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe« (ZAIG) an der Spitze besaß nun Auswertungs- und Informationsgruppen als »Filialen« in allen operativen und regionalen Diensteinheiten. Diese hierarchische Struktur zum Sammeln und Verarbeiten von Informationen zog in der Folgezeit weitere Funktionen an sich: So wurde 1968 das innerministerielle Kontrollwesen, ein Jahr später die Verantwortung für die elektronische Datenverarbeitung und 1985 die Öffentlichkeitsarbeit und Traditionspflege des MfS eingegliedert. Der Institution untergeordnet waren nun auch das Archiv, die Registratur, das Rechenzentrum und die Rechtsstelle. Die ZAIG sollte damit nicht nur das an der Spitze angesammelte geheimpolizeiliche Wissen auswerten, aufbereiten und bei Bedarf der politischen Führung zur Verfügung stellen. Mithilfe von Auswertungs- und Kontrollgruppen (AKG) in jeder Hauptabteilung, selbstständigen Abteilung und Bezirksverwaltung des MfS stand die ZAIG auch in der Pflicht, eine einheitliche und effektive Anleitung, Kontrolle und Weiterentwicklung sämtlicher administrativer und operativer Verfahren innerhalb der Staatssicherheit sicherzustellen.109

Binnen zwei Jahrzehnten hatte sich damit aus einer einfachen Redaktionskommission für MfS-Berichte die wichtigste Schaltzentrale der Staatssicherheit entwickelt. Ablesen lässt sich dieser Bedeutungszuwachs vor allem an der Zunahme des Personalbestands der Diensteinheit, der von 57 Mitarbeitern im Jahr 1972 auf 225 Mitarbeiter im Jahr 1983 und 423 Mitarbeiter im Jahr 1989 nach oben schnellte. Nimmt man zu den sechs Arbeitsbereichen mit bis zu elf Arbeitsgruppen der ZAIG noch die Auswertungs- und Kontrollgruppen der operativen und regionalen Diensteinheiten hinzu, waren im Jahr 1989 für diesen Strukturbereich 1 227 Personen eingesetzt.110

Treibende Kraft dieser Expansion war Generalleutnant Werner Irmler, der faktisch seit 1957 für das innere System der Informationssammlung und -auswertung zuständig war und 1965 die Leitung der ZAIG auch formal übernahm. Er zählte zu den engsten Vertrauten Mielkes, in dessen direktem Anleitungsbereich die Diensteinheit angesiedelt war.

Der Aufstieg der ZAIG zum zentralen Nervensystem des MfS fand im Herbst 1989 sein abruptes Ende. Zunächst sahen die Pläne zur inneren Neuorganisation der Geheimpolizei im November 1989 ein deutlich kleineres Stabsorgan für Auswertung, Information und Lageführung vor. Die Bereiche Kontrolle, EDV, Planung und Öffentlichkeitsarbeit sollten als selbstständige Organe ausgegliedert und einem neugeschaffenen »Zentralen Koordinierungsorgan« zugeordnet werden. Der politische Druck führte allerdings dazu, dass selbst eine solche Rumpf-ZAIG nicht mehr überleben konnte. Am 4. Dezember 1989 begannen die ersten Besetzungen der regionalen Diensteinheiten des MfS, am 14. Dezember sah sich der Ministerrat genötigt, die Geheimpolizei in einen In- und einen Auslandsgeheimdienst aufzuspalten. Am 13. Januar 1990 folgte schließlich der Beschluss des Zentralen Runden Tisches, die Institution vollständig und ersatzlos aufzulösen. Die ZAIG, deren inspirierender Kopf Irmler bereits am 6. Dezember 1989 zurücktreten musste, wurde daraufhin komplett abgewickelt und ihre Mitarbeiter schrittweise bis zum März 1990 entlassen.111

Der traditionelle Kernbereich der ZAIG blieb bis zuletzt der Bereich 1, zuständig für die Auswertungs- und Informationstätigkeit. Die von den zentralen und unteren Diensteinheiten eingehenden Informationen wurden hier in sechs Arbeitsgruppen analog zu den wichtigsten Überwachungsschwerpunkten des MfS sortiert, verdichtet und interpretiert.112 Die Ergebnisse flossen anschließend in das Berichtswesen ein, für das der Stellvertreter Irmlers, Günter Hackenberg, zuständig war. Hackenberg sollte sicherstellen, dass die Leitungsebene des MfS, der SED und des Staatsapparates über Meinungen in der Bevölkerung zu bestimmten Ereignissen und über einzelne sicherheitsrelevante Vorkommnisse frühzeitig und umfassend unterrichtet wurde. Das Verfassen der Berichte übernahmen vor allem die von Hackenberg angeleiteten Arbeitsgruppen 1 (internationale Fragen, Systemauseinandersetzung), 2 (Extremismus, Terror, Spionage, Verkehr, Volkswirtschaft) und 6 (Politische Untergrundtätigkeit, Kirche, Kultur, Jugend), während der AG 4 (Auswertung westlicher Medien) und AG 5 (Dokumentation) unterstützende Funktionen zukamen.113

Eine formale Ordnung über Inhalt und Aufbau der Berichte gab es nicht. Welche Themen am Ende aufgegriffen wurden, entschied allein der Minister, abgestimmt mit der Leitung der ZAIG und oft in Absprache mit der engeren SED-Führung. Grundsätzlich konnte das 56-köpfige Team des Bereiches 1 unter Leitung von Rudi Taube zu allen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen Stellung nehmen, da ihm von ganz unterschiedlicher Seite Informationen zugespielt wurden, vor allem von den Auswertungs- und Kontrollgruppen der operativen Hauptabteilungen, aber auch vom strafrechtlichen Untersuchungsorgan (HA IX) und den regionalen Dienststellen der Staatssicherheit. Hinzu kamen die Meldungen des Zentralen Operativstabs – eines rund um die Uhr aktiven Lagezentrums des MfS – und die Erkenntnisse aus westlichen Medienberichten. Ein Großteil dieser Informationen stammte dabei aus der »operativen Arbeit« der Offiziere, also aus dem Einsatz konspirativer Zuträger, der Kontrolle des Postverkehrs oder dem Einsatz von Abhör- und Überwachungstechnik. Eine nicht zu unterschätzende Quelle stellten aber auch die direkten Gespräche zwischen Offizieren und leitenden Mitarbeitern der Industriebetriebe, staatlichen Organen oder gesellschaftlichen Einrichtungen dar.114 Die Berichte aus dem Jahr 1989 zeigen, dass das MfS auch in der Endphase noch erstaunlich gut auf all diese Ressourcen zurückgreifen konnte, obwohl zahlreiche Führungskräfte ausgewechselt wurden und das IM-Netzwerk ab November 1989 rasch implodierte.115

4. Die Berichtsserien des Jahrgangs 1989

Auf der oben skizzierten Informationsgrundlage stellte der Bereich 1 der ZAIG im Jahr 1989 262 Inlandsberichte zusammen. Diese Berichte können drei unterschiedlichen Berichtsserien zugeordnet werden, deren Bezeichnung auf die jeweilige Ablage innerhalb des Sekretariats der ZAIG zurückgeht.

Die Hauptserie unter dem Titel »Informationen« thematisiert einzelne Ereignisse, die als sicherheitsrelevant betrachtet wurden, wie die Tagungen der Konferenz der evangelischen Kirchenleitung, die Aktivitäten von Greenpeace in der DDR oder die Friedensgebete und Montagsdemonstrationen in Leipzig.116 Intern liefen diese Berichte auch unter dem Namen »Parteiinformationen«, da sie stets auch an ausgewählte Vertreter der Partei- und Staatsführung weitergeleitet wurden. Sie besaßen daher ein einheitliches Formblatt mit dem Aufdruck »Information über…«, einer Datumsangabe und dem Namen der herausgebenden Institution (ZAIG).

In der Regel beschäftigen sich die »Informationen« ausschließlich und einmalig mit einem einzelnen Ereignis, ohne dieses später noch einmal aufzugreifen. Eine Ausnahme stellen die Proteste über die Fälschung der Kommunalwahl dar, die gleich in vier Berichten am 1., 5., 7. und 8. Juni 1989 behandelt werden.117 Auch die Entstehung und Aktionen der neuen Parteien und Bürgerinitiativen werden zwischen dem 19. September und dem 7. November ausführlich, zum Teil zweimal wöchentlich, kommentiert.118 Grundsätzlich periodisch angelegt war die Berichterstattung zum Zwangsumtausch (49 wöchentliche Berichte), zu den Aktivitäten westlicher Soldaten in Ostberlin (vier Quartalsberichte) und zum grenzüberschreitenden Verkehr (20 Berichte).

Da die »Informationen« in die Hände von Vertretern der SED- und Staatsführung gelangten, mussten die Verfasser dreierlei beachten: Einmal durften sie keine ausgeprägten Fachkenntnisse erwarten, die Texte sollten auch für Laien zugänglich sein. Darüber hinaus sollte bei politisch heiklen Themen stets der Grad der Öffentlichkeit angegeben werden, etwa die Anwesenheit von Medienvertretern, die Anzahl der Beteiligten oder die Öffentlichkeit des Raumes. Und schließlich sollten es die ZAIG-Mitarbeiter vermeiden, die Effektivität anderer staatlicher und wirtschaftsleitender Organe umfassend zu analysieren und zu bewerten – das war allein Sache der SED. Gerade bei Sachverhalten, die andere Ämter und Ministerien betrafen, wie die Planeinhaltung von Exportbetrieben oder der Anstieg der Anträge zur ständigen Ausreise, wandelten die Offiziere auf einem schmalen Grat: Sie hatten Informationen zur aktuellen Lage zu liefern, ohne sich dabei eine Gesamteinschätzung anzumaßen.

Mit 209 »Informationen« wurden 1989 weniger Berichte dieser Reihe gefertigt als im Vorjahr – 1988 waren es 238 gewesen.119 Der Rückgang geht weniger auf einen Mangel an berichtenswerten Ereignissen als vielmehr auf den Abbruch der gesamten Berichtstätigkeit im Spätherbst 1989 zurück. Der Aufbau der »Informationen« ist themenabhängig ohne einheitliche Gliederung. Ihr Umfang beträgt meist zwischen zwei und 15 Blatt, wobei das detaillierte Dossier vom 1. Juni 1989 über die oppositionellen Gruppen in der DDR mit 43 Blatt deutlich aus der Reihe fällt.120 Auch die Informationen 416/89 und 458/89 über das »Wirken antisozialistischer Sammlungsbewegungen« weisen mit jeweils 26 Blatt einen größeren Umfang auf, was auch etwas über den Stellenwert dieses Phänomens für das MfS aussagt.

Neben den »Informationen« fertigte die ZAIG auch eine Reihe von Berichten an, die nur für den innerdienstlichen Gebrauch vorgesehen waren und das MfS nur im Ausnahmefall verließen. Diese landeten im ZAIG-Sekretariat in der Ablage »K«, die für die Rubrik »Verschiedenes« stand und in die Untergruppen K 1 (Diverse Probleme), K 2 (Bewaffnete Organe) und K 3 (Kultur, Medien, Opposition) unterteilt wurde. Diese Nebenserie ist im Jahr 1989 mit 29 Dokumenten vertreten. Sie diente in erster Linie der Unterstützung der MfS-Dienststellenleiter bei ihrer geheimpolizeilichen Arbeit und unterscheidet sich thematisch nur geringfügig von den »Informationen«. Ein abweichendes Merkmal ist allerdings ihre Ausfertigung: Nicht selten erscheinen sie als sogenannte »unfirmierte Dokumente«, das heißt der Dokumentenkopf besteht nur aus dem Titel »Hinweise zu …«, ohne Angaben von Datum und herausgebender Institution, manchmal allerdings mit dem Vermerk »Streng geheim!«.121

Eine zweite Nebenreihe des Berichtswesens, die sogenannten »O-Berichte«, befasst sich mit der Stimmungslage in der Bevölkerung. Im Jahr 1989 gab es 24 dieser Ablageeinheiten (1988: 18), die jeweils mit dem Titel »Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit …« eingeleitet wurden. Mit dieser Überschrift wird bereits deutlich, dass diese Berichte auf Meinungen und Stimmungen meist zu einem konkreten Anlass eingehen, etwa zur Entscheidung des Warschauer Pakts Anfang des Jahres, die Verteidigungsausgaben zu senken oder zur Aussetzung des visafreien Personenverkehrs in die ČSSR im Oktober 1989.122 Obwohl auch hier ein einheitlicher Aufbau mit festen Zwischenüberschriften fehlt, lassen sich bei den vier- bis zehnseitigen O-Berichten einige wiederkehrende Elemente finden, die von Mielke ausdrücklich eingefordert wurden:123 So hatten die Verfasser frühzeitig auf Unzufriedenheiten aufmerksam zu machen, dabei Äußerungen verschiedener Personenkreise wie Arbeiter, Jugendliche, Landwirte oder SED-Mitglieder zu berücksichtigen, ferner den konkreten Anlass und die Art und Weise der Äußerungen (z. B. Diskussion, Pausengespräch oder Eingabe) kenntlich zu machen und schließlich auf eine Kritik an der SED-Politik zu verzichten. Die Autoren befanden sich damit in einem Zwiespalt: Auf der einen Seite waren sie tatsächlich daran interessiert, riskante Verschiebungen der Stimmungen frühzeitig zu erkennen und unmissverständlich mitzuteilen. Auf der anderen Seite streuten sie in ihre Berichte immer wieder gewünschte Aussagen »progressiver«, also SED-loyaler Personenkreise ein und vermieden allzu scharfe Formulierungen. Unter keinen Umständen sollten die widergespiegelten Meinungen von der SED-Führung als kritische Ansichten des MfS oder als Ausdruck einer gescheiterten Politik missverstanden werden. Erst Mitte September wich diese Vorsicht einer neuen Eindringlichkeit, mit der die angespannte Stimmung im Land beschrieben wurde. Die O-Berichte vom 11. und 13. September arbeiten zum Beispiel pointiert den Frust bei Arbeitern und einfachen SED-Mitgliedern heraus und wurden – anders als üblich – nicht nur auf der Leitungsebene des MfS, sondern auch an mehrere Kandidaten und Mitglieder des Politbüros verteilt.124 Ähnlich ungeschönt waren auch die beiden O-Berichte vom 13. Oktober 1989 über die Reaktionen auf die Aktivitäten des »Neuen Forums« und auf die Erklärung des Politbüros vom 12. Oktober 1989.125

5. Die Adressaten und die Rezeption der Berichte

Um die Frage nach der politischen Wirkung der ZAIG-Berichte zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, wer die Dokumente überhaupt zur Einsichtnahme erhielt. Berichte aller drei Serien gingen in jedem Fall an ausgewählte Vertreter der MfS-Führung. Zu dem zahlenmäßig konstanten Empfängerkreis gehörten in der Regel der Minister, sein Sekretär Hans Carlsohn und seine fachlich zuständigen Stellvertreter, darüber hinaus die für den Sachverhalt infrage kommenden operativen Diensteinheiten, ein Vertreter der HV A und einige leitende Vertreter der ZAIG, neben Werner Irmler meist Rudi Taube (Leiter Bereich 1), Karl Bausch (Leiter Bereich 2), Peter Poppitz (Leiter Arbeitsgruppe 3 des Bereichs 1) und Dieter Tannhäuser (Leiter Arbeitsgruppe 6 des Bereichs 1).

Für die Führungsebene der SED waren dagegen nur die »Informationen« vorgesehen. ZAIG-Chef Irmler schlug für diesen Berichtstyp jeweils einen externen Verteilerkreis vor, über den abschließend der Minister persönlich entschied. In der Regel ließ er neben dem Generalsekretär nur einigen wenigen politisch und fachlich zuständigen Funktionären aus dem Politbüro und Staatsapparat ein Exemplar zukommen. Häufig umfasste der Verteiler nicht mehr als drei bis acht externe Empfänger. Einige Informationen wurden von Mielke auch ausschließlich an Honecker übergeben, andere ohne Angaben von Gründen zurückgehalten. Auffällig ist, dass sich der Verteilerkreis ab Mitte September deutlich ausweitete – ein klares Indiz für die Brisanz der Lage. Vor allem die Informationen über die Pläne und Aktivitäten der neuen oppositionellen Parteien und Bürgerinitiativen gingen an bis zu 29 Personen außerhalb des MfS, darunter Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, Abteilungsleiter des Zentralkomitees, einige 1. Sekretäre der Bezirksleitungen und ausgewählte Fachminister.126 Die Informationen 471/89 und 485/89 erhielten sogar sämtliche Mitglieder und Kandidaten des Politbüros inklusive Friedrich Dickel, Minister des Innern, Wolfgang Herger, Leiter der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen und Klaus Sorgenicht, Leiter der ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen.127

Zusätzlich zu den »Informationen« wurden in Ausnahmefällen auch einige K- und O-Berichte an einzelne fachlich zuständige Funktionäre im ZK-Apparat und Ministerrat übergeben. So ging zum Beispiel der Bericht K 1/209 über Staatsbürgerschaftsfragen bei ständigen Ausreisen auch an den Leiter der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen Wolfgang Herger, der Bericht K 1/210 über die Lage in der Energiewirtschaft an Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph und der Bericht K 3/112 über die Aktionen des »Neuen Forums« an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin Günter Schabowski.128

Darüber hinaus wurden ab September 1989, wie oben bereits erwähnt, auch die deutlich zugespitzter formulierten Stimmungsberichte an mehrere Kandidaten und Mitglieder des Politbüros weitergeleitet, etwa der Bericht O/223b vom 11. September 1989 über den verbreiteten Unmut bei SED-Mitgliedern und Funktionären oder der Bericht O/224 vom 13. September 1989 über die Meinungen der Bevölkerung zur massenhaften Flucht und Ausreise aus der DDR. Auch die beiden Berichte O/228a und O/229 vom 13. Oktober 1989 über Reaktionen auf die Aktivitäten des »Neuen Forums« und auf die Erklärung des Politbüros vom 12. Oktober 1989 besaßen einen außergewöhnlich großen externen Adressatenkreis. Spätere Berichte über die Reaktionen der Bevölkerung wurden dann nur noch dem neuen Generalsekretär Egon Krenz zur Verfügung gestellt, mit Ausnahme des letzten Stimmungsdossiers vom 24. November 1989, das ebenso von Hans Modrow, zu diesem Zeitpunkt bereits Nachfolger Stophs im Amt des Ministerratsvorsitzenden, und Wolfgang Herger, dem ZK-Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen, eingesehen werden durfte.129

Die Frage, wie diese an die SED-Führung versendeten Berichte rezipiert wurden, ob sie die Entscheidungsfindung an der Spitze in irgendeiner Form beeinflussten oder völlig unbedeutend blieben, ist nicht ganz einfach zu beantworten. In dreifacher Hinsicht kann man zumindest von einer indirekten politischen Wirkung ausgehen: Zunächst beruht jede Entscheidung auf einem bestimmten Kenntnisstand, sodass ein so ausgebautes Berichtswesen wie das der ZAIG, das ausdrücklich für die Informierung der politischen Führung installiert worden war, mit großer Wahrscheinlichkeit einen politischen Effekt gehabt haben musste. Auch wenn die SED-Spitze über zahlreiche alternative Informationsquellen aus den Parteiorganisationen, Betrieben, Massenorganisationen und Ministerien verfügte, maß sie einer Information mit ZAIG-Briefkopf doch eine besondere Bedeutung bei. Dass Erich Honecker die an ihn gesendeten Berichte zumindest zur Kenntnis genommen hat, verraten die handschriftlichen Vermerke auf den Dokumenten. Ein Blick in die Protokolle des Politbüros zeigt zudem, dass Ereignisse, die in den ZAIG-Dossiers ausführlich beschrieben werden, häufig als Tagesordnungspunkt des SED-Führungsgremiums auftauchen. Ein Sitzungsprotokoll von Anfang Mai 1989 stellt sogar einen direkten Bezug zu einem ZAIG-Bericht über geplante Aktivitäten von Oppositionellen anlässlich der Kommunalwahlen her.130

Eine politische Wirkung der Berichte ist – zweitens – ebenso anzunehmen, weil sie oft mit konkreten Handlungsempfehlungen einhergingen. Vor allem in Bezug auf innerkirchliche Debatten und Aktivitäten oppositioneller Gruppen beschrieb das MfS nicht nur einzelne Vorgänge, sondern legte auch konkrete Reaktionsweisen nahe. Dass staatliche Stellen solche Empfehlungen durchaus in die Tat umsetzten, belegen die wenigen Folgeberichte der ZAIG zu einzelnen Ereignissen. So forderten zum Beispiel die Offiziere in einer Information vom 1. Juni 1989, einen für den 7. Juni 1989 geplanten Protestmarsch gegen die Fälschung der Kommunalwahl in Ostberlin mithilfe von Auflagen, Kontrollen und ermahnenden Aussprachen zu verhindern.131 Ein Bericht vom 5. Juni 1989 meldet den erfolgreichen Vollzug dieser »komplexen Maßnahmen«: So habe der stellvertretende Berliner Oberbürgermeister für Inneres Günter Hoffmann ein »vorbeugendes Gespräch« mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und Generalsuperintendent Günter Krusche geführt und der Berliner Sektorenleiter für Kirchenfragen die »staatliche Erwartungshaltung« gegenüber Oberkirchenrat Ingemar Pettelkau deutlich gemacht. Zeitgleich seien potenzielle Teilnehmer der Aktion verstärkt kontrolliert worden.132

Neben solchen Empfehlungen entwickelten die Berichte schließlich auch deshalb eine politische Wirkung, weil sie – drittens – mit großer Wahrscheinlichkeit die Grundlage für Vier-Augen-Gespräche zwischen Honecker und Mielke bildeten. Es ist durchaus denkbar, dass der Generalsekretär bei diesen Treffen, die regelmäßig nach den Politbürositzungen stattfanden, die Themensetzung, Schwerpunkte und Verteilung zukünftiger Berichte mitbestimmte, sodass die Berichte womöglich die Positionen der politischen Führung bereits widerspiegeln und von einer gegenseitigen Beeinflussung von Politik und Berichtswesen ausgegangen werden kann.133

6. Quellenwert und Wirkungsgeschichte der ZAIG-Berichte

Fragt man nach dem Nutzen der ZAIG-Berichte für die Zeitgeschichtsforschung, so ergibt sich ein ambivalentes Bild: Auf der einen Seite machen die Texte ohne Zweifel die Vielfalt und Dramatik der politischen Ereignisse und Diskussionen im Jahr 1989 sichtbar. In komprimierter Form werden gesellschaftliche Spannungen, ökonomische Probleme und das breite Spektrum oppositioneller und bürgerschaftlicher Aktivitäten vor und während der Herbstrevolution sichtbar. Einige Berichte lesen sich wie detaillierte Protokolle kirchlicher Gremiensitzungen, andere wie Nachrichtenticker zu bestimmten Protestaktionen. Sowohl die Mentalität und Prioritäten der MfS-Offiziere als auch die mehrschichtige, in Teilen widersprüchliche Krisenstrategie der SED treten hier deutlich zutage.

Auf der anderen Seite ist bei der Arbeit mit diesen Dokumenten eine quellenkritische Herangehensweise besonders geboten. Stets muss die Funktion der Berichte – die zusammenfassende Darstellung politisch brisanter und sicherheitsrelevanter Ereignisse – berücksichtigt und die damit einhergehende selektive, ideologisch stark verzerrte Wahrnehmung der Verfasser beachtet werden. Nicht selten sagen die Berichte mehr über das Denken der Offiziere als über die geschilderten Ereignisse aus – was natürlich auch einen wertvollen Aspekt der Quelle darstellt.

Bei der politischen Bewertung und Erklärung bestimmter Phänomene, wie die Neuorganisation der Opposition, die Flucht Tausender Menschen oder der massenhafte Zulauf zu Friedensgebeten und Demonstrationen, kommt zudem eine etwas weltfremde Sichtweise der Offiziere zum Vorschein. Diese geht vor allem auf das nur schwer zu überwindende antiwestliche Freund-Feind-Denken zurück, hat aber auch etwas mit der Arbeitsweise und den politischen Zwängen der Staatssicherheit zu tun. Ökonomische Missstände und gesellschaftliche Spannungen wollten und konnten die Offiziere nicht mit fragwürdigen Entscheidungen oder einer fehlenden Legitimität der Partei erklären. Sie führten diese vielmehr auf ideologisch unreifes Verhalten von Führungskräften oder auf äußere feindliche Einflüsse zurück – einmal weil es ihrer Überzeugung entsprach und weil ihre Loyalität gegenüber der SED das verlangte, aber auch weil sich die operativen Diensteinheiten, die der ZAIG die Informationen zur Verfügung stellten, ausnahmslos mit politisch riskantem oder abweichendem Verhalten beschäftigten. Die eng auf politische Devianz fokussierte geheimpolizeiliche Denk- und Arbeitsweise war damit nur bedingt geeignet, eine allumfassende und wirklichkeitsnahe Lageanalyse zu erstellen, was in den ZAIG-Berichten an vielen Stellen sichtbar wird.134

Als letzte Schwäche der ZAIG-Berichte muss schließlich ihre enge Ereignisbezogenheit genannt werden. Statt die zurückliegenden und übergeordneten Ursachen eines Vorgangs umfassend zu beleuchten, verlieren sich die Darstellungen oft in nebensächlichen Details. Mit ihrem Protokoll- und Nachrichtenstil bemühten sich die Verfasser weniger um Einordnung und Analyse, sondern eher um eine exakte Wiedergabe von Uhrzeit, Ort, Beteiligten und Verlauf eines einzelnen Vorfalls.

Dass die Berichte trotz dieser spezifischen Eigenheiten eine enorm gewinnbringende Quelle darstellen, lässt sich daran erkennen, dass sie in der Literatur häufig als Referenz zu ganz unterschiedlichen Themen angeführt werden. So greift Hans Michael Kloth auf ZAIG-Informationen zurück, um die Beteiligung, Verweigerung und Kontrollversuche am Tag der Kommunalwahl zu betrachten.135 Michael Richter nutzt das Berichtswesen, um den harten Zugriff der Sicherheitskräfte Anfang Oktober in Leipzig zu beschreiben.136 Bei Walter Süß werden ZAIG-Berichte angeführt, um auf die Fluchtbewegung ab Sommer 1989 über die Tschechoslowakei und Ungarn einzugehen und die Resonanz auf die Politbüroerklärung vom 12. Oktober 1989 zu erläutern.137 Und Antje Gumz und Rainer Erices stützen sich auf ZAIG-Dossiers, um die angespannte medizinische Versorgungslage in der DDR zu analysieren.138 Nicht wenige Autoren verweisen zudem auf die Anhänge der ZAIG-Berichte, um die Erklärungen, Programme und Statuten der neuen Parteien und Bürgerinitiativen zu belegen.

Ein Grund für die häufige Verwendung der Dokumente war auch ihre frühzeitige Verfügbarkeit. Bereits kurz nach der Erstürmung der MfS-Zentrale am 15. Januar 1990 hatte der Zentrale Runde Tisch die beiden Wissenschaftler Armin Mitter und Stefan Wolle mit der Sichtung und Auswertung des sichergestellten Archivguts beauftragt. Mit einem brillanten Gespür für die Relevanz der Unterlagen durchforsteten die beiden Sachverständigen die Bestände der Dokumentenstelle und der ZAIG und wählten 56 Lageberichte und Befehle für eine Quellensammlung aus, darunter auch 27 Informationen, sechs O-Berichte und drei K-Berichte der hier vorliegenden Edition. In ihrer Privatwohnung tippten sie die Dokumente eigenhändig ab und veröffentlichten sie im oppositionellen BasisDruck Verlag unter dem Titel »›Ich liebe euch doch alle!‹ Befehle und Lageberichte des MfS«. Als im März 1990 die ersten Exemplare dieser Quellensammlung erschienen, war die Resonanz enorm. Vor dem »Haus der Demokratie«, dem Sitz der demokratischen Bürgerinitiativen in der Friedrichsstraße,139 wurden die Bücher direkt vom Lkw herunter verkauft, mehrere Tausend in den ersten Tagen, mehr als 250 000 Exemplare bis Anfang Juli.140 Die erste Publikation zur Staatssicherheit in der DDR entpuppte sich als spektakulärer Bestseller.

Seitdem greifen Autoren immer wieder auf diese Quellen zurück und räumen ihnen damit einen großen Einfluss auf unser Bild vom Revolutionsjahr 1989 ein. Oft werden dabei leider auch orthografische Fehler wie die Falschschreibung von Namen und verkürzte oder unrichtige Darstellungen von Begebenheiten übernommen. Auch wenn die hier vorliegende ZAIG-Edition die geschilderten Sachverhalte nicht wissenschaftlich abgleicht und gegebenenfalls richtigstellt, bietet sie neben dem vollständigen Korpus der ZAIG-Inlandsberichte auch eine Überprüfung der aufgeführten Orte und Namen sowie eine inhaltliche Einordnung der Geschehnisse mit einigen wertvollen Kommentaren der genannten Zeitzeugen an.

7. Druckauswahl und Formalia

In dieser Buchausgabe liegt eine Auswahl der 262 edierten Dokumente des Jahres 1989 vor. Die Zusammenstellung umfasst sowohl standardmäßige Berichte als auch Exemplare mit besonderen formalen oder inhaltlichen Auffälligkeiten. In ihrer Gesamtheit sollen sie einen Eindruck von der Dramatik des Jahres und der Vielfalt der wiedergegebenen Ereignisse vermitteln. Die Abschriften aller edierten Berichte des Jahres 1989 sind vollständig auf der Website www.ddr-im-blick.de/1989 abrufbar. In Form einer Datenbank ist hier auch eine elektronische Volltextrecherche möglich.

Die Wiedergabe der Dokumente folgt grundsätzlich dem Original. Die Rechtschreibung ist den heutigen gültigen Regeln angeglichen. Während kleinere Tipp- und Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert werden, bleiben größere Orthografie- und Grammatikfehler aus Gründen der Quellenauthentizität unverändert. Ungewöhnliche Abkürzungen werden stillschweigend in übliche umgewandelt oder ausgeschrieben. Eventuelle Unterstreichungen, Randvermerke und Einkreisungen werden im Dokumentenkopf erwähnt, wenn sie gleichmäßig einen Großteil des Textes betreffen. Auf besondere Markierungen einzelner Wörter oder Sätze wird in einem Fußnotenkommentar aufmerksam gemacht.

Gemäß § 32 a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) wurden die in den Texten erwähnten Personen der Zeitgeschichte sowie Amts- und Funktionsträger öffentlicher Institutionen vor der Veröffentlichung von Informationen zu ihrer Person benachrichtigt, wenn die Angaben nach einer Einordnung verlangen oder über ihre reine Funktionstätigkeit hinausgehen. Betroffene, die nicht zu diesen Personenkreisen gehören, wurden um eine Einwilligung für die Publikation von Daten zu ihrer Person gebeten. Um den Schutz der Persönlichkeitsrechte zu gewährleisten, war es bei einigen wenigen Berichten notwendig, Passagen, Personennamen oder Adressenangaben zu anonymisieren. Die Aussagekraft der Quellen wird dadurch aber in keiner Weise beeinträchtigt, da es sich hierbei in der Regel um weniger relevante Angaben handelt. Die mitunter sehr aufschlussreichen Anmerkungen und Richtigstellungen von Personen, die sich auf Nachfrage zu den sie betreffenden Aussagen der Berichte äußerten, wurden den Dokumenten als Fußnotenkommentar hinzugefügt.

8. Schlussbetrachtung

Mit der schrittweisen Auflösung der Staatssicherheit ab Dezember 1989 endet auch das 37-jährige Berichtswesen des MfS. Als »Kind des 17. Juni« war es ursprünglich für die rechtzeitige Erkennung herrschaftsgefährdender Entwicklungen installiert worden. Im Rückblick lässt sich feststellen, dass das Frühwarnsystem diesem Auftrag durchaus effektiv nachkam. Dank der breit angelegten Beobachtung und Auswertung von Meinungen und Vorkommnissen aus ganz unterschiedlichen Regionen, Milieus und Wirtschaftszweigen war die SED-Führung lange Zeit in der Lage gewesen, die Herausbildung einer unabhängigen Öffentlichkeit mit eigenständigen Themen und Strukturen zu verzögern, gleichzeitig – trotz der fehlenden Öffentlichkeit – über die tatsächliche Stimmung hinter den offiziellen Phrasen und Fassaden Bescheid zu wissen und Akteure mit nonkonformem Verhalten rechtzeitig zu identifizieren und bei Bedarf zu isolieren. Zusammen mit den vielen anderen offiziellen Berichtsreihen in Behörden, Parteien, Amtsstuben, Betrieben, Universitäten und Massenorganisationen bildete die ZAIG den Kern eines effektiven bürokratischen Systems der Überwachung und Disziplinierung, das die SED-Herrschaft nachhaltig stabilisierte.141 Eine Wiederholung der traumatischen Erfahrung aus dem Sommer 1953, dass eine breite Unzufriedenheit in der Bevölkerung politisch eskalieren und zu einem Machtverlust führen konnte, blieb dem Regime so lange Zeit erspart.142

Umso erstaunlicher erscheint es, dass eine solche revolutionäre Situation im Herbst 1989 dann doch überraschend eintrat und die ZAIG bis ins Detail exakt jene Entwicklungen registrierte und analysierte, für deren Verhinderung sie eigentlich etabliert worden war. Mit großer Genauigkeit berichteten die Offiziere über die beginnende Selbstorganisation der Gesellschaft mit eigenständigen Debatten, Programmen und Parteien, über die Wut in der Bevölkerung, die kaum noch in Schach gehalten werden konnte, und über die zunehmende Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit von politischen Aktionen, die zu Jahresbeginn noch als provokante Angriffe auf die sozialistische Grundordnung eingestuft worden wären. Unbeabsichtigt beschrieben sie damit auch den Verlust ihres bisherigen Alleinstellungsmerkmals, exklusiv über tatsächliche Meinungen und einzelne unangepasste Verhaltensweisen jenseits einer staatlich inszenierten Öffentlichkeit aufzuklären.

Ein Blick in die hier vorliegenden Dokumente zeigt, dass die Berichtsbürokratie des MfS bis zum Schluss erstaunlich gut funktionierte. Sogar die Demontage ihrer eigenen Organisation wurde von den Offizieren gewissenhaft protokolliert. Das seltsam unkluge und inkonsequente Agieren der SED-Spitze geht damit nicht auf eine unzureichende Informiertheit der Entscheidungsträger durch einen nachlässigen Geheimdienst zurück. Die Politikunfähigkeit hatte vielmehr strukturelle Ursachen, etwa die fundamentale Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik mit der Aufgabe der Breschnew-Doktrin, die neue Qualität der gesellschaftlichen Differenzierung, die bereits Ende der 1970er Jahre eingesetzt hatte, oder die chronische Überforderung und systembedingte Leistungsschwäche der ostdeutschen Industrie im Zeitalter des globalen Wettbewerbs. Unter diesen Rahmenbedingungen zeigte sich die SED weder willens noch in der Lage, essenzielle bürgerliche Grundbedürfnisse wie politische Partizipation, niveauvollen Konsum, berufliche Weiterentwicklung oder individuelle Selbstbestimmung zu befriedigen. Die Folge war ein riskanter Verlust an Legitimität, der schließlich in einen Verlust an politischer Kontrolle mündete, der auch von einem noch so ausgefeilten System der Informationsverarbeitung wie dem der ZAIG nicht aufgehalten werden konnte.

9. Anhang: Adressaten der Berichte 1989

Tabelle 1: Adressaten der Berichte 1989 außerhalb des MfS

Name, Vorname, Funktion

Information Nr.

(auch: Nr. des O- bzw. K-Berichtes)

Anzahl

»AG« KGB: Komitee für Staatssicherheit der Sowjetunion, Berlin-Karlshorst

66, 112, 217, 285, 369, 383, 386, 455, 498,

9

Ahrendt, Lothar (Jg. 1936)

SED, Stellvertreter des Ministers des Innern

194, 268, 383, 412, 416, 427, 428, 429

8

Arndt, Otto (Jg. 1920)

ZK-Mitglied, Minister für Verkehrswesen

48, 131, 239, 385

4

Axen, Hermann (Jg. 1916)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Außenpolitik

36, 206, 254, 265, 353, 354, 386, 416, 427, 431, 433, 434, 438, 439, 451, 459, 469, 471, 485, O/223b, O/224, O/225

22

Beil, Gerhard (Jg. 1926)

ZK-Mitglied, Minister für Außenhandel

81, 411

2

Bernhardt, Günter (Jg. 1932)

SED, Stellvertreter des Minister für Hoch- und Fachschulwesen

166

1

Böhme, Günter (Jg. 1943)

stellv. Leiter der AG Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED

459

1

Böhme, Hans-Joachim (Jg. 1931)

ZK-Mitglied, Minister für Hoch- und Fachschulwesen

166

1

Böhme, Hans-Joachim (Jg. 1929)

SED-Politbüro, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle

386, 395, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

9

Dickel, Friedrich (Jg. 1913)

ZK-Mitglied, Minister des Innern

2, 38, 131, 151, 194, 196, 239, 252, 268, 271, 285, 286, 288, 297, 336, 337, 357, 378, 379, 383, 412, 416, 427, 428, 429, 433, 434, 435, 438, 451, 455, 457, 459, 471, 472, 485, 496, 500

38

Dohlus, Horst (Jg. 1925)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Parteiorgane

150, 168a, 182, 206, 229, 336, 386, 395, 399, 414, 416, 427, 428, 429, 432, 433, 434, 435, 438, 451, 455, 459, 471, 485, O/223b, O/224, O/225, O/228a, O/229

29

Donda, Arno (Jg. 1930)

Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik

37, 197, 358, 499

4

Eberlein, Werner (Jg. 1919)

SED-Politbüro, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Magdeburg

386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

8

Fischer, Oskar (Jg. 1923)

ZK-Mitglied, Minister für Auswärtige Angelegenheiten

36, 112, 121, 127, 265, 308, 378, 383, 386, 416, 439

11

Geggel, Heinz (Jg. 1921)

Leiter der Abt. Agitation des ZK der SED

80, 127, 383

3

Georgi, Rudi (Jg. 1927)

ZK-Mitglied, Minister für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau

166

1

Hager, Kurt (Jg. 1912)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Wissenschaft, Bildung und Kultur

12, 67, 149, 150, 156, 168a, 183, 206, 227, 264, 267, 269, 285, 288, 343, 382, 386, 395, 399, 402, 416, 427, 428, 429, 431, 432, 433, 434, 435, 438, 451, 458, 459, 471, 485, O/223b, O/224, O/225, O/228a, O/229

40

Herger, Wolfgang (Jg. 1935)

Leiter der Abt. Sicherheitsfragen des ZK der SED, 8.11. bis 3.12.1989 SED-Politbüro und ZK-Sekretär für Recht und Sicherheit

80, 150, 168a, 416, 427, 428, 429, 432, 433, 434, 435, 438, 451, 457, 459, 471, 472, 481, 485, 496, 503, 505, K 1/209, O/228a, O/228b, O/229, O/234

27

Herrmann, Joachim (Jg. 1928)

SED-Politbüro, Chefredakteur des »Neuen Deutschlands«, ZK-Sekretär für Medien

25, 36, 112, 122, 125, 126, 127, 150, 168a, 182, 206, 229, 271, 285, 286, 308, 321, 353, 354, 386, 412, 416, 427, 428, 429, 431, 432, 433, 434, 435, 438, 439, 451, 453, 455, 456, O/223b, O/224, O/225

39

Hoffmann, Hans-Joachim (Jg. 1929)

ZK-Mitglied, Minister für Kultur

67, 156, 288, 382

4

Honecker, Erich (Jg. 1912)

SED-Generalsekretär, Staatsratsvorsitzender, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates

12, 13, 25, 35, 36, 67, 80, 81, 112, 122, 125, 150, 154, 168a, 192, 194, 206, 227, 229, 250, 271, 273, 283, 285, 286, 287, 297, 298, 308, 310b, 321, 336, 381, 382, 383, 431, 432, 433, 434, 435, 438, 439, 451, 453, 455, 456, O/228a, O/229

46

Honecker, Margot (Jg. 1927)

ZK-Mitglied, Ministerin für Volksbildung

183, 269

2

Hörnig, Johannes (Jg. 1921)

Leiter der Abt. Wissenschaft des ZK der SED

150, 168a

2

Jarowinsky, Werner (Jg. 1927)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Handel und Versorgung

13, 23, 24, 35, 36, 100, 112, 126, 150, 154, 155, 156, 167, 168a, 169, 170, 180, 181, 182, 183, 206, 215, 227, 250, 254, 267, 269, 271, 273, 283, 285, 286, 287, 297, 298, 310a, 319, 321, 331, 336, 337, 354, 381, 386, 397, 400, 402, 413, 416, 426, 427, 428, 429, 432, 433, 434, 435, 451, 453, 455, 459, 469, 471, 472, 481, 485, 497, O/223b, O/224, O/225

70

Keßler, Heinz (Jg. 1920)

SED-Politbüro, Minister für Nationale Verteidigung

386, 416, 427, 433, 434, 438, 451, 459, 471, 485, O/224

11

Kleiber, Günther (Jg. 1931)

SED-Politbüro, 1. stellv. Vorsitzender des Ministerrates

81, 112, 129, 166, 192, 241, 251, 265, 379, 386, 395, 399, 411, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

20

König, Herta (Jg. 1929)

Stellvertretende Ministerin der Finanzen

11, 14, 26, 47, 57, 68, 78, 90, 91, 101, 123, 140, 153, 165, 171, 193, 218, 228, 240, 255, 266, 270, 282, 299, 309, 320, 330, 344, 355, 368, 380, 384, 396, 398, 401, 415, 417, 430, 436, 454, 460, 482, 486, 501, 504, 506, 515, 520

48

Kraußer, Peter (Jg. 1941)

Leiter der AG Kirchenfragen des ZK der SED

13, 23, 24, 25, 35, 36, 100, 126, 150, 154, 155, 156, 167, 168a, 169, 170, 180, 181, 182, 183, 215, 227, 250, 267, 269, 271, 273, 283, 285, 286, 287, 297, 298, 310a, 319, 321, 331, 336, 337, 381, 397, 400, 402, 413, 426, 432, 433, 453, 469, 472, 481, 497

52

Krenz, Egon (Jg. 1937)

SED-Politbüro, Sekretär des ZK für Sicherheitsfragen, Jugend, Sport, Staats- und Rechtsfragen, 18.10. bis 3.12.1989 SED-Generalsekretär, 24.10. bis 6.12.1989 Vorsitzender des Staatsrates und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates

23, 24, 25, 35, 36, 67, 100, 110, 112, 121, 122, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 149, 150, 151, 154, 166, 167, 168a, 170, 182, 183, 192, 194, 206, 215, 227, 229, 250, 264, 265, 267, 268, 269, 271, 273, 285, 286, 287, 288, 297, 298, 308, 319, 321, 336, 337, 343, 353, 354, 356, 367, 378, 379, 381, 382, 383, 386, 395, 397, 399, 400, 402, 412, 413, 414, 416, 427, 428, 429, 431, 432, 433, 434, 435, 438, 439, 451, 453, 455, 456, 458, 459, 469, 470, 471, 472, 481, 483, 485, 487, 496, 497, 503, 505, 519, O/223b, O/224, O/225, O/228a, O/228b, O/229, O/230, O/231, O/232, O/234

92

Krolikowski, Herbert (Jg. 1924)

ZK-Mitglied, 1. Stellv. des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten

80, 100, 254, 308, 356, 378, 383, 438, 439

9

Krolikowski, Werner (Jg. 1928)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Landwirtschaft

386, 416, 427, 433, 434, 451, 459, 471, 485, O/223b, O/224, O/225

12

Lange, Ingeburg (Jg. 1927)

Kandidatin SED-Politbüro, Leiterin der Abt. Frauen des ZK der SED

386, 416, 427, 433, 434, 451, 459, 471, 485, O/223b, O/224, O/225

12

Löffler, Kurt (Jg. 1932)

SED, Staatssekretär für Kirchenfragen im Ministerrat

13, 23, 24, 25, 35, 36, 100, 126, 150, 154, 155, 156, 167, 168a, 169, 170, 180, 181, 182, 183, 215, 227, 250, 254, 267, 269, 271, 273, 283, 285, 286, 287, 298, 310a, 319, 321, 331, 336, 337, 379, 381, 397, 400, 402, 413, 426, 428, 432, 433, 435, 453, 455, 469, 472, 481, 497, K 1/211

57

Lorenz, Siegfried (Jg. 1930)

SED-Politbüro, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt

386, 416, 427, 451, 459, 471, 485,
O/224

8

Maleuda, Günther (Jg. 1931)

Vorsitzender der DBD, stellv. Vorsitzender des Staatsrats, ab 13.11.1989 Präsident der Volkskammer

519

1

Mecklinger, Ludwig (Jg. 1919)

ZK-Mitglied, bis Januar 1989 Minister für Gesundheitswesen

12

1

Meier, Felix (Jg. 1936)

SED, Minister für Elektrotechnik/Elektronik

81, 129, 192, 241, 251

5

Mittag, Günter (Jg. 1926)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Wirtschaft

81, 112, 121, 122, 129, 166, 192, 206, 241, 251, 264, 285, 386, 395, 397, 399, 400, 402, 411, 412, 413, 414, 416, 427, 428, 429, 431, 432, 433, 434, 435, 438, 451, 455, O/228a, O/229

36

Mitzinger, Wolfgang (Jg. 1932)

SED, Minister für Kohle und Energie

241

1

Modrow, Hans (Jg. 1928)

ZK-Mitglied, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, 8.11. bis 3.12.1989 SED-Politbüro, seit 13.11.1989 Vorsitzender des Ministerrates

227, 413, 505, 517, 518, 519, 521, O/234

8

Mückenberger, Erich (Jg. 1910)

SED-Politbüro, Vorsitzender der ZPKK des ZK der SED

386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

8

Müller, Gerhard (Jg. 1928)

Kandidat des SED-Politbüros, ZK-Mitglied, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt

386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

8

Müller, Helmut (Jg. 1930)

ZK-Mitglied, 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin

124, 126, 128, 130, 353, 354, 378

7

Müller, Margarete (Jg. 1931)

Kandidaten des SED-Politbüros, ZK-Mitglied

386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

8

Neumann, Alfred (Jg. 1909)

SED-Politbüro, 1. stellv. Vorsitzender des Ministerrates

251, 386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

9

Oppermann, Lothar (Jg. 1930)

Leiter der Abt. Volksbildung des ZK der SED

183, 269

2

Ragwitz, Ursula (Jg. 1928)

Leiterin der Abt. Kultur des ZK der SED

67, 165, 288, 343, 382

5

Rauscher, Gudrun

Leiterin der Abt. Valutawirtschaft des Finanzministeriums

338

1

Reichelt, Hans (Jg. 1925)

Stellv. Vorsitzender der DBD, Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft

129, 192, 241, 265, 354

5

Rettner, Gunter (Jg. 1942)

ZK-Mitglied, Leiter der Abt. Internationale Politik und Wirtschaft des ZK der SED

112, 206, 254, 416

4

Schabowski, Günter (Jg. 1929)

SED-Politbüro, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin

1, 67, 77, 124, 126, 128, 130, 152, 181, 206, 238, 253, 265, 271, 285, 286, 321, 336, 353, 354, 378, 383, 386, 412, 413, 416, 427, 428, 432, 433, 434, 438, 451, 455, 458, 459, 471, 472, 481, 485, 496, O/223b, O/224, O/225, O/228a, O/229, K3/112

47

Schalck-Golodkowski,
Alexander (Jg. 1932)

ZK-Mitglied, Staatssekretär für Außenhandel, Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel, OibE des MfS

81, 112, 411

3

Schulz, Gerd (Jg. 1947)

ZK-Mitglied, Leiter der Abt. Jugend im ZK der SED

150, 168a, 268

3

Schürer, Gerhard (Jg. 1921)

SED-Politbüro, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission

112, 251, 386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

10

Seidel, Karl (Jg. 1930)

ZK-Mitglied, Leiter der Abt. Gesundheitspolitik des ZK der SED

12, 267, 395, 399

4

Sindermann, Horst (Jg. 1915)

SED-Politbüro, Präsident der Volkskammer, stellv. Vorsitzender des Staatsrates

386, 416, 427, 433, 434, 451, 459, 471, 485, O/224

10

Sölle, Horst (Jg. 1924)

ZK-Mitglied, stellv. Vorsitzender des Ministerrates, Ständiger Vertreter der DDR im RGW

411

1

Sorgenicht, Klaus (Jg. 1923)

Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED

150, 168a, 182, 215, 416, 427, 428, 433, 434, 435, 451, 459, 471, 485

14

Stoph, Willi (Jg. 1914)

SED-Politbüro, Vorsitzender des Ministerrates, stellv. Vorsitzender des Staatsrates

112, 121, 129, 154, 166, 192, 206, 250, 251, 264, 285, 386, 395, 399, 402, 411, 416, 427, 428, 429, 432, 433, 434, 435, 438, 439, 451, 459, 471, 485, K 1/210, O/223b, O/224, O/225, O/228a, O/229

36

Streletz, Fritz (Jg. 1926)

stellv. Minister für Nationale Verteidigung und Chef des Hauptstabs der NVA

459

1

Thielmann, Klaus (Jg. 1933)

SED, seit Januar 1989 Minister für Gesundheitswesen

395, 399

2

Tisch, Harry (Jg. 1927)

SED-Politbüro, Vorsitzender des Bundesvorstandes des FDGB

386, 395, 399, 416, 427, 433, 434, 438, 451, 459, 471, 485, O/223b, O/224, O/225, O/228a, O/229

17

Walde, Werner (Jg. 1926)

ZK-Mitglied, Kandidat des SED-Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Cottbus

386, 416, 427, 451, 459, 471, 485, O/224

8

Weiz, Herbert (Jg. 1924)

ZK-Mitglied, Minister für Wissenschaft und Technik

264

1

Wyschowsky, Günther (Jg. 1929)

ZK-Mitglied, Minister für chemische Industrie

241

1

Tabelle 2: Name und Funktion der Adressaten innerhalb des MfS 1989

Name, Vorname

Funktion

Bäcker, Gerd

stellv. Leiter ZAIG Bereich 2, Leiter AG 1

Bausch, Karl

Stellvertreter des Leiter ZAIG und Leiter Bereich 2

Brückner, Lothar

Offizier für Sonderaufgaben ZAIG Bereich 1, AG 2

Carlsohn, Hans

Leiter des Sekretariats des Ministers

Dietze, Manfred

Leiter HA I

Felber, Horst

1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS Berlin

Fischer, Karl

Leiter ZAIG Bereich 6 und Stellv. Leiter ZAIG

Fister, Rolf

Leiter HA IX

Giersch, Jean

ZAIG Bereich 1, AG 2, Offizier für Sonderaufgaben

Göbel, Heinz

ZAIG Bereich 1, AG 3, Offizier für Sonderaufgaben

Grimmer, Reinhard

Sekretär der SED-GO, ZAIG Bereich 1, AG 5, Offizier für Sonderaufgaben

Großmann, Werner

Stellv. Minister für Staatssicherheit und Leiter der HV A

Hackenberg, Günter

Stellvertreter des Leiter ZAIG und Leiter
Bereich 1

Hähnel, Siegfried

Leiter BV Berlin

Irmler, Werner

Leiter ZAIG

Jurmann, Kurt

Leiter HA VII/9

Kienberg, Paul

Leiter HA XX

Kleine, Alfred

Leiter HA XVIII

Kratsch, Günther

Leiter HA II

Lasch, Bernd

Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe des Leiters ZAIG, stellv. Sekretär der SED-GO

Lemme, Udo

Leiter Rechtsstelle

Mickinn, Bärbel

ZAIG Bereich 1, AG 6

Mielke, Erich

Minister für Staatssicherheit

Miermeister, Dietrich

stellv. Leiter ZAIG Bereich 6

Mittig, Rudi

Stellv. Minister für Staatssicherheit

Neiber, Gerhard

Stellv. Minister für Staatssicherheit

Palko, Wolfgang

Offizier für Sonderaufgaben der ZAIG/4

Paulsen, Werner

JHS, Lehrstuhl VIII: Staatsgrenze

Poppitz, Peter

Leiter ZAIG Bereich 1, AG 3

Rebohle, Eberhard

ZAIG Bereich 1, AG 6, Offizier für Sonderaufgaben

Riedel, Klaus-Dieter

ZAIG Bereich 1, AG 6, Offizier für Sonderaufgaben

Schorm, Ursula

ZAIG Bereich 1, AG 6, Offizier für Sonderaufgaben

Schwanitz, Wolfgang

Stellv. Minister für Staatssicherheit, ab November Leiter des Amts für Nationale Sicherheit

Seebe, Heinz

ZAIG Bereich 1, AG 3, Offizier für Sonderaufgaben

Stern, Primus

ZAIG Bereich 1, AG 2, Offizier für Sonderaufgaben

Strauß, Werner

1. Stellv. HV A/VII

Tannhäuser, Dieter

Leiter ZAIG Bereich 1, AG 6

Taube, Rudi

1. Stellvertreter des Leiters ZAIG, Leiter ZAIG Bereich 1

Wehrlich, Hans-Gerd

Stellv. HV A/VII